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Full text of "Reisebilder und Skizzen aus Amerika"

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Veiſebilder und Skizzen 


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Amerika. 


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Reiſebilder und Skizzen 


aus 


Amerika. 


Von 


Theodor Kirchhoff 


(in San Francisco). 


Erſter Band. 


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Altona, 
Carl Theod. Schlüter. 


New⸗Nork, 
E. Steiger, 22 u. 24 Frankfort Street. 


1875. 


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Bormwort. 


In der vorliegenden Sammlung von Keifebildern und 
Skizzen aus Amerika habe ich meinen während des letzten 
Jahrzehnts unter den verſchiedenſten Lebensverhältniſſen 
entſtandenen ſchriftſtelleriſchen Arbeiten vereint eine Heim— 
ſtätte verſchaffen wollen. Neben manchen bereits in Jour— 
nälen und Zeitſchriften (Gartenlaube, Daheim, Globus, 
das Ausland ꝛc. und in deutſch-amerikaniſchen Blättern) 
veröffentlichten Skizzen, an denen ich jedoch Vieles ge— 
ändert und hinzugefügt habe, bringe ich eine Anzahl von 
Reiſeſchilderungen hier zum erſten Male vor die Oeffent— 
lichkeit. Als Abdrücke früherer Erlebniſſe ſind mir die— 
ſelben friſch in die Feder gefloſſen und habe ich an ihnen 
nur ſolche Aenderungen vorgenommen, die dieſem Werke 
eine mehr einheitliche Geſtaltung geben ſollten. Eine große 
Schwierigkeit bei Reiſebeſchreibungen, welche die Länder— 
gebiete des fernen Weſtens behandeln, beſteht in der fort— 
dauernden Umgeſtaltung aller dortigen Culturverhältniſſe; 


* 


VI 


noch ſo zutreffende Beſchreibungen ihrer gegenwärtigen Zu— 
ſtände werden in kurzer Zeit als veraltet gelten müſſen. Ich 
habe daher verſucht, das Aeltere ſich in gefälliger Form le— 
bendig an das Neuere anſchmiegen zu laſſen, um ſo dem 
Leſer an dem Faden meiner eigenen Erfahrungen und Er- 
lebniſſe ein faßliches Bild von der wechſelvollen Entwickelung 
dieſer Länder zu geben. 


San Francisco, im December 1874. 


Theodor Kirchhoff. 


Znhalt. 


Vorwort. 


Fünfzehnhundert Meilen in der Stagekutſchůe 
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A. Die Steppe. 


1. Von Solomon nach Monumente 
2. Von Monument nach Denver. . „ 


B. von Denver nach Salt Lake City. 


1. Bis zur Waſſerſcheide des Continents ........ 
2. Die Salbei⸗ und Alcaliwüſtee d 
3. Die Canons i Nah 


C. Im Lande der Mormonen. 


1. Great Salt Lake City, das neue Jeruſalem .. .. 
2. Brigham Young und die Mormonen 


D. bon der Mormonenſtadt am Salzſee nach dem Gold- 


lande Maho. 


1. Nordwärts zum Schlangen fluß 
2. Ein Beſuch am Shoſhonnduu 
3. Nach den Goldminen V 


Eine Fahrt mit dem „Hotelzuge“ der Pacifichahn...... 


Seite. 


159 


173 


VIII 


Seite. 

dus dem Golbland sn nn — 
1. In den Goldminen von JIda hs 243 

2. Ein Beſuch in Willow⸗Creek in Oregon 271 

3. Ein Capitel über die Hurdy⸗-Gurd ass 301 
Bilder ans dem Süden. 1866 — 1870, ——M w 311 
Der Niearagun Trauſſſtt 313 

2. Eine Dampferfahrt auf dem Red⸗Rivernrn rn 360 

3. Auf dem Caddo⸗Seg . . ns naar en 390 

4. Eine Eiſenbahnfahrt in Teras 395 

5. Mein Freund Pompeiunn?s?s??ʒ2ss?s 403 

6. Gerichtsſcene in Teras se 407 

7. Das „Schnupftabakdippen“ der Südländerin nen.... 410 

8. Eine intereſſante Reiſegeſellſchaft . 413 

9. Ein Beſuch in der Mammuthhöhle in Kentucky ..... 417 


Jünfzehnhundert Meilen 


in der 


Stagekutſcho.“ 


* Stage = amerikaniſche Poſtkutſche. 


Einleitung. 


Die nachfolgende Beſchreibung meiner Stagereife über 
den nordamerikaniſchen Continent iſt auf eine etwas ungewöhn— 
liche Weiſe entſtanden. Auf dem Ladentiſche meines „Store's“ 
verfaßte ich dieſelbe im Winter, bei offenen Thüren. Ich 
habe ſie erſt mit Bleifeder auf Pappendeckel und Hunderte 
von loſen Papierſtücken, auf ungezählte alte Briefcouverte 
und ſogar auf Bretter von Cigarrenkiſten und Modeſchachteln 
hingeworfen. Hundertmal bin ich täglich bei meiner Arbeit 
von neugierigen Kunden geſtört worden. Biedere Gold— 
gräber haben mir unzählige Fragen über den Inhalt der 
fremden Schriftſtücke auf den Pappendeckeln geſtellt, während 
fie, im Hinterwäldlercoſtüm neben mir am Blechofen fitend, 
Nüſſe knackten, Holz ſchnitzelten oder feine Havanna-Cigarren 
rauchten und dabei meinem eifrigen Schreiben verwundert 
zuſahen. Oft mußte ich inmitten einer glänzenden Periode 
ein halbvollgeſchriebenes Brettchen weglegen, um einem 
Kunden Waare zu verkaufen oder ſchnöden Goldſtaub auf der 
Goldwaage zu wiegen, während fo ein Yankee-Goldtouriſt 
ſich ſofort des Brettchens bemächtigte und mir den ſchönſten 
Gedanken mit dem Taſchenmeſſer buchſtäblich entzweiſchnitzelte. 
Wenn ich hinzufüge, daß ich in einem keineswegs luftdichten 
Holzhauſe wohnte, wo bei 10 bis 15 Grad Kälte meine 
wäſſerige Dinte die unangenehme Gewohnheit hatte ſich in 


1 * 


4 


Eisklumpen zu verwandeln, und daß ich meiſtens in Mantel, 
Handſchuhen und Pelzüberſchuhen am Blechofen ſaß, während 
ich an meinem Manuffript arbeitete, ſo wird man zugeben, 
daß dieſe Skizzen unter nicht geringen Schwierigkeiten ent— 
ſtanden ſind. 

Die funfzehnhundert Meilen lange Stagereiſe, welche 
hier geſchildert werden ſoll, war nicht minder abenteuerlich, 
als die Art und Weiſe, womit ſie zu Papier gebracht wurde. 
Im fernen Weſten Nordamerika's beginnt dieſelbe an den 
Grenzen des Reiches der Indianer, der Büffel und Anti— 
lopen. Hinter uns laſſen wir das weite Thal des gewaltigen 
Miſſouri, mit ſeinen blühenden Städten und Farmen und 
Menſchenwohnungen. Wir werden hinausſteuern auf den 
Ocean unabſehbarer Grasflächen, alleine mit einem halben 
Dutzend Inſaſſen in derſelben Stage und den Angriffen 
blutdürſtiger Indianerhorden ausgeſetzt, um jenſeits des 
Steppenmeeres das hohe Ufer der ſchneegipfelnden Felſen— 
gebirge zu erreichen; den Rückgrat des nordamerikaniſchen 
Continentes wollen wir überſteigen, unermeßliche Salbei— 
und Alcaliwüſten durchziehen, dem „Heiligen vom jüngſten 
Tage“ einen Beſuch abſtatten und weiter nach dem fernen 
Goldlande Idaho kutſchiren. Wen beim Antritt einer ſolchen 
Reiſe nicht ein Gefühl des Romantiſchen ein wenig über— 
ſchleicht, wer eine ſolche Steppen-, Gebirgs- und Wüſtenfahrt 
nur nach Dollars, Cents und verloren gegangenen Stunden 
berechnet, den lade ich nicht als meinen Geſellſchafter ein; 
er bleibe nur ruhig zurück und langweile ſich nach alter 
Gewohnheit im nüchternen Alltagsleben! Wer aber Luſt 
hat, frei, wie der Vogel in der Luft, hinauszueilen in die 
Urnatur, der ſei mir ein willkommener Reiſebegleiter und 
ich verſpreche ihm, wir werden uns auf eine ganz originelle 
Weiſe in der Wildniß amüſiren. 


5 


Den voranſtehenden Worten, welche ich im Februar 
1868 in Boiſe City, im Territorium Idaho, als Einleitung 
zu den hier folgenden Reiſeſkizzen ſchrieb, will ich jetzt, 
indem ich dieſe in neuer Umarbeitung der Oeffentlichkeit 
übergebe *, noch Einiges hinzufügen. 

Die Gegend, durch welche meine Reiſeroute lag, war 
damals noch zum größten Theile eine menſchenleere Wild— 
niß. Seitdem wurde die Pacificbahn gebaut. 
Eine Erinnerung an die alte Zeit ſollten dieſe Blätter 
ſein, ehe der Dampfzug die Entfernungen zuſammengerückt 
und die rieſigen Ländergebiete ſozuſagen verkleinert hatte. 
Möge ſich der Leſer, wenn er mir auf meiner abenteuerlichen 
Stagefahrt folgt, bewußt werden, was das amerikaniſche 
Volk im Bewältigen von Naturhinderniſſen Großartiges voll— 
bracht hat, indem es dem Verkehr eine eiſerne Brücke durch 
die Wildniſſe dieſes Continentes ſchlug. Wer, wie ich, die— 
ſelben Gegenden nur drei Jahre ſpäter in einem glänzenden 
„Hotel-Zuge“ durchflogen hat, dem wird die Schilderung 
der ſchneckenartigen und mit faſt fabelhaft klingenden 
Strapazen verbundenen Neiſe in der Stagekutſche wie ein 
Mährchen aus vorigen Jahrhunderten vorkommen; und doch 
iſt das Leben dieſer thatkräftigen Nation ſeitdem nur kurze 
anderthalb Luſtra vorgeſchritten. 

Und nun wandert denn hin, ihr anſpruchsloſen Blätter 
wo überall das deutſche Wort eine Heimſtätte hat, und 
plaudert von Reiſeabenteuern in „alter Zeit“ hier im jungen 
Amerika! 


Theodor Kirchhoff. 


* Die Schlußkapitel (von Salt Lake nach Idaho) erſchienen 
bereits im Jahrgang 1868 des „Globus“, Band XIII. Nr. 10, 1I u. 12. 


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A. 
Die Steppe. 


1. Von Solomon nach Monument. 


Am Oſterſonntage des Jahres 1867 gelangte ich auf 
einer Reiſe von Texas nach Idaho mit einem Conſtructions— 
Zuge der „Kanſas Pacific-Eiſenbahn“ nach dem Städtchen 
Solomon in Kanſas, an welchem äußerſten Punkte im Weſten 
bis wohin damals das eiſerne Geleiſe reichte, meine Stage— 
fahrt beginnen ſollte. Im Bahnzuge zwiſchen Leavenworth 
und Solomon hatte ſich die Unterhaltung faſt allein um 
den vor Kurzem auf den Ebenen ausgebrochenen Indianer— 
krieg gedreht und es waren den Ueberland-Paſſagieren von 
den mitfahrenden Landbewohnern die ſchrecklichſten Beſchrei— 
bungen von Grauſamkeiten, welche die rothen Teufel ver— 
übt hätten, haarklein mitgetheilt worden. Nach den ernſten 
Mienen der Zuhörer zu ſchließen, fanden dieſe Erzählungen 
allgemeinen Glauben, und Mancher verwünſchte ſeinen Ueber— 
muth, die gefährliche Reiſe über die Ebenen unternommen 
zu haben. Zur Umkehr war es aber jetzt für die meiſten 
zu ſpät, und mit Ausnahme weniger mit Glücksgütern be— 
ſonders Geſegneter, welche zurück nach New-Hork und von 
dort über den Iſthmus von Panama nach Colifornien reiſten, 


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fetten alle für die Ueberlandsreiſe eingeſchriebenen Paſſa— 
giere ihre Fahrt nach Weſten fort. 

In Solomon galt unſere erſte Frage den Rothhäuten, 
und wann die nächſte Stage abführe. Ueber beides wußten 
die Solomoner wenig Auskunft zu geben. Man erzählte 
uns, daß ſeit fünf Tagen keine Stage von Weſten angelangt 
ſei und die Gefahr vor den feindlichen Indianern ſo groß 
wäre, daß ſich vielleicht gar keine Poſtkutſche mehr auf die 
Ebenen hinauswagen würde. Dazu kam, daß die Stages 
auf dieſer ſogenannten „Smoky Hill-Route“ in letzter Zeit 
mehrfach Eigenthümer gewechſelt hatten, wodurch, wie bei 
ſolchen Gelegenheiten ſtets der Fall iſt, Alles in herrliche 
Unordnung gerathen war. Die Stadt Solomon, welche 
aus einer einzelnen Reihe von elenden Bretterbuden be— 
ſtand und auf einer öden, baumleeren Ebene lag, bot nicht 
den geringſten Reiz, und das miferable „Solomon-Hotel“ 
war ein wahrer Hohn auf feinen hochklingenden Namen. 

Als ich mich eben etwas im Freien erging, über das 
Namenskind des Tempelbauers eigenthümliche Gedanken 
hegte und die mir bevorſtehenden Gefahren der Reiſe be— 
denklich im Geiſte erwog, erſcholl unerwartet der Ruf: 
„Die Stage!“ — „Die Stage!“ — und richtig, dort 
ward der erſehnte Steppenfahrer über einer nahen Boden— 
hebung ſichtbar: und bald darauf galloppirten die vier 
ſchnaubenden Roſſe den „Broadway“ von Solomon entlang 
und brachten die ſchwere Poſtkutſche vor dem „Hotel“ zum 
Stillſtand. Paſſagiere waren keine darin, und der Kutſcher, 
den wir ſofort mit Fragen über die Indianer beſtürmten, 
ließ als Antwort nur einige zweideutige Bemerkungen fallen: 
„er hoffe, daß wir unſer Leben verſichert hätten.“ — 
„Scalpe ſeien jetzt billig.“ ꝛc. ꝛc., — durch welche ſarka— 
ſtiſche Aeußerungen unſere Freude über die Ankunft der 
Stage erklärlicher Weiſe bedeutend herabgeſtimmt wurde. 


9 


Ich war als dritter Paſſagier für die erſte Poſtkutſche 
eingeſchrieben worden. Meine Reiſegeſellſchaft beſtand aus 
einem Kaufmann und zwei Goldgräbern aus Montana, 
einer ältlichen Mormonendame mit einem hübſchen blau— 
äugigen Knaben, die nach Utah reiſ'ten, und einer Familie 
aus Chicago, welche nach Denver überſiedeln wollte, Mann, 
Frau und vier Kinder — Charlie, Sandy, Sam und 
das Baby. Mit dem Kutſcher zählten wir alſo dreizehn 
Perſonen an Bord, eine ominöſe Zahl, wie die zurück— 
bleibenden vierzig Paſſagiere kopfſchüttelnd bemerkten, von 
denen wir quaſi als Avantgarde gegen die Indianer be— 
trachtet wurden. Doch befand ſich ein ganzes Waffenarſe— 
nal von Hinterladungsbüchſen, Revolvern, Dolchmeſſern ꝛc. 
nebſt reichlicher Munition in der Stage, ſo daß wir im 
Nothfall ſchon ein gutes Scharmützel mit den Rothhäuten 
aushalten konnten. 

Bei Dunkelwerden raſſelte die Stage fort, ſchwer be— 
laden mit Poſtſäcken und Gepäck und ihrer lebendigen Fracht 
von Männern, Frauen und Kindern, begleitet von den Segens— 
wünſchen der Zurückbleibenden. Da die Kinder müde waren 
und ſchnell einſchliefen und wir Erwachſenen Urſache genug 
zum Nachdenken hatten, ſo herrſchte bald allgemeine Stille 
in der Poſtkutſche. Der Mond hatte ſein Silberlicht über 
die Prairie ausgegoſſen. Aus dem Kutſchenfenſter ſah ich, 
in meine warme Wolldecke eingehüllt, den phantaſtiſchen 
Schatten des Wagens und der Pferde, mit der unförmlichen 
Geſtalt des Roſſelenkers darüber, auf der matterleuchteten 
Ebene neben uns hereilen und formte dieſelbe in eine Schutz— 
wache um, welche uns über die weite gefahrdrohende Steppe 
das Geleit gab. Zuletzt ſchloß auch ich die Augen und 
verfiel in einen Halbſchlummer, aus dem ich erſt erwachte, 
als der Wagen um zwei Uhr Morgens in dem Städtchen 
Salina anhielt. 


10 


In dieſem äußerſten Vorpoſten der Civiliſation, wo 
wir einige Stunden verweilten, regalirte man uns wieder 
mit verſchiedenen grauenhaften indianiſchen Mordgeſchichten. 
Sandy, der zweite rothhaarige Sprößling der Chicagoer 
Familie fand dieſe Erzählungen ſo wenig nach ſeinem Ge— 
ſchmack, daß er ſich weigerte, weiter mitzufahren, und mußte 
von ſeinem Papa auf ſummariſche Weiſe weiter befördert 
werden. Das Zetergeſchrei von Sandy, worin ſeine beiden 
Brüder, nebſt dem am lauteſten kreiſchenden Baby uniſono 
einſtimmten, gab uns Erwachſenen einen hübſchen Vorgeſchmack 
von den unterwegs für uns in Ausſicht ſtehenden Quartett— 
Concerten. Punkt acht Uhr waren wir wieder auf der 
Reiſe, diesmal mit ſechs muthigen Roſſen im Geſchirr, 
damit wir, wie der Kntſcher, bei dem ich auf dem Bock 
Platz genommen, bemerkte, im Nothfall ſchneller vor den 
Indianern davonlaufen könnten. Ein eiſiger Nordoſtwind 
pfiff über die flache Gegend und ſauſte in unharmoniſchen 
Accorden um unſere Kutſche, die in meilenweiter Runde 
als einziger hoher Gegenſtand ſeine Kraftübungen hinderte. 
Die warme Büffeldecke, welche der Kutſcher kameradſchaftlich 
mit mir getheilt hatte, gab etwas Schutz vor dem grim— 
migen Blaſen des Boreas, und ein Strick, womit ich meinen 
breitkrämpigen Texanerhut um Deckel und Kinn feſtgebunden, 
vereitelte ſeine energiſchen Anſtrengungen, mir den Hut 
vom Kopfe herunterzuwehen. Nachdem wir anderthalb 
Miles von Salina das enge, nicht überbrückte Bett des 
„Dry Creek“ mit zwei energiſchen Sätzen paſſirt hatten, 
die mich faſt von meinem erhabenen Sitze herunterge— 
ſchleudert hätten — erſt ſteil in die Tiefe und dann wieder 
hinauf in einem ſcharfen Winkel — ſteuerten wir hinaus 
auf die unendliche Steppe. 

Die Steppe (the plains), welche wegen der frühen 
Jahreszeit nur mit ſpärlichem Graswuchs bedeckt war, muß 


11 


man ſich nicht durchweg flach vorſtellen. Oft iſt dieſelbe von 
Hügelreihen durchzogen, und vereinzelt daſtehende groteſke 
Felsformationen find auf ihr keine Seltenheit. Tiefe, mit- 
unter meilenlange ſtraßenähnliche Höhlungen, die nicht früher 
zu ſehen ſind, bis man dicht an ihren Rand gelangt, durch— 
ſchneiden dieſelbe und bilden natürliche Hinderniſſe für den 
Reiſenden und Schlupfwinkel für die Indianer. Das ganze 
Land iſt aber baumlos und ſieht trotz ſeiner vielen Boden— 
ſenkungen, wie eine endloſe Fläche aus. Hier erſtreckte 
ſich die Steppe in langen wellenförmigen Linien ringsum 
bis zum Horizonte, — ein Land-Ocean. Vereinzelte Gras— 
brände hatten hie und da gleichſam ſchwarze Inſeln auf der 
ungeheuren Grasfläche gebildet, welche das Monotone der 
Landſchaft unterbrachen, und die Erdarbeiten an der Pacific— 
bahn zogen ſich ſtellenweiſe darüber wie dunkle Linien meilen— 
weit vor uns hin. Alle paar Meilen war die Steppe von 
ſchmalen Bodenſenkungen „Barrankas“ genannt, durch— 
zogen, welche oft, mit Waſſer gefüllt und nicht überbrückt, 
unſerm Fortkommen unangenehme Hinderniſſe entgegen— 
ſtellten. In einer ſolchen Barranka, von dem Kutſcher 
das „Kembelloch“ genannt, weil ſein College Kembel 
einmal dort während achtundvierzig Stunden mit einer 
Stage ſtecken blieb, hatten wir das Mißgeſchick, im Schlamm 
feſtzufahren. Wir waren genöthigt, hier die Poſtſäcke als 
Faſchinen zu benutzen, um neben den Rädern Fuß faſſen 
und den Pferden beim Losbringen des ſchweren Wagens 
Hülfe leiſten zu können. Nach einer anderthalb Stunden 
dauernden anſtrengenden Arbeit gelang es uns, mit ver— 
aeinter Kraft in die Speichen greifend, während der Kutſcher 
die Thiere mit indianiſchem Schlachtgeheul zum Anziehen 
ermunterte, die Stage — allerdings nicht zur Verſchönerung 
der Poſtſäcke — wieder aus dem „Kembelloch“ herauszu— 
bringen. Auf meine beſcheidene Anfrage an den Kutſcher, 


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12 


weshalb die Stage-Compagnie das „Kembelloch“ nicht 
überbrücken ließe, belehrte er mich, daß dies vergebliche 
Mühe ſei, da die erſte vorbeipaſſirende Emigrantenfuhr 
die Brücke unfehlbar zu Feuerholz benutzen würde. Wo 
bei beſonders ſchlechten und ſumpfigen Stellen den Pferden 
das Ziehen ſchwer ward, pflegten ſämmtliche männlichen 
Paſſagiere unſerer Reiſegeſellſchaft auszuſteigen. Jeder 
von uns bewaffnete ſich dann mit Steinen, und während 
wir auf ein gegebenes Zeichen Alle auf einmal die Thiere 
unter lautem Geſchrei mit einem Steinhagel bombardirten, 
und der Kutſcher fluchend auf die Roſſe einhieb, riß das 
erſchreckte Sechsgeſpann mit vereinter Kraft die Stage durch 
das Sumpfloch, daß der Schlamm uns um die Ohren flog 
und hoch bis über das Kutſchendach ſpritzte. 

So kutſchirten wir über die Steppe, bis wir dreißig 


engliſche Meilen von Salina, Fort Harker, (ehedem Fort 


Ellsworth genannt) erreichten. Romantiſch ſtanden die 
Garniſonsgebäude auf der Ebene da, und lange Züge von 
Gouvernementsfuhrwerken, mit ihren weißleinenen, mit den 
großen ſchwarzen Buchſtaben U. 8. markirten Planen 
brachten Leben und Abwechſelung in das Landſchaftsbild. 
In der Regel waren zwei Frachtwagen, der vorderſte 
mit acht Mauleſeln beſpannt, einer hinter den andern ge— 
bunden, auf welche Weiſe acht Zugthiere ſo viel zu ziehen 
vermögen, als zwei ſechsſpännige Fuhren fortſchaffen können, 
während dabei ein Fuhrmann überflüſſig wird. Etwas 
nordweſtlich von Fort Harker liegt ein zwanzig Fuß hoher 
vereinzelter Felſen, „Fremonts Fels“ genannt. Dort hielt 
der berühmte „Pfadfinder“ eine Rede an verſchiedene 
damals mächtige Indianerſtämme und ermahnte ſie zum 
Frieden mit den Weißen, welche ſie ſonſt mit Donner und 
Blitz vernichten würden, ein Rath, welcher von ihnen zu 
ihrem Schaden wenig beherzigt worden iſt. Zu jener Zeit 


13 


hatten die Weißen eben erft ihre Anſiedelungen an den Ufern 
des Miſſouri gepflanzt und die Indianer waren noch die 
unumſchränkten Herren der Wildniß, von dort bis zum 
tauſend Stunden entfernten Stillen Ocean. Heute ſteht 
die Indianerrace bereits ſo zu ſagen mit einem Fuß im 
Grabe, und die Weißen haben blühende Staaten in jenen 
Wildniſſen geſchaffen; und bald werden unter dem ſchrillen 
Pfeifen der Locomotive die menſchengefüllten Waggons 
mit Sturmeseile bei dieſem Felſen vorüberbrauſen! 

Als wir weiter über die Steppe fuhren, begegnete 
uns ein wild ausſehender Reiter in phantaſtiſchem Leder— 
coſtüm, der bis an die Zähne bewaffnet war und ſich bei 
uns erkundigte, ob wir nicht vier Deſerteure geſehen hätten, 
auf deren Verfolgung er begriffen ſei. Ein einzelner Mann, 
der vier, wie vorauszuſetzen bewaffnete deſperate Kerle 
auf der Steppe einfangen wollte, war mir eine intereſſante 
Erſcheinung. Ich erfuhr, daß dieſer Wagehals der be— 
rühmte „wilde Wilhelm“ (wild Bill) ſei, von deſſen faſt 
unglaublichen Abenteuern ich ſchon mehrfach geleſen hatte. 
Zur Zeit war derſelbe Staffetten-Reiter im Dienſte des 
Generals Hancock und ſtets bereit, auf eigene Fauſt die 
verwegenſten Streifzüge zu unternehmen. Oefters hatte 
er ganz allein ein Dutzend und mehr Indianer angegriffen 
und in die Flucht geſchlagen, und wurde das Einfangen 
von vier Deſerteuren von ihm gewiß für ein ſcherzhaftes 
Intermezzo gehalten. Die Zahl der von ihm getödteten 
Weißen belief ſich nach ſeiner eigenen Angabe auf mehr als 
hundert, während er es nicht der Mühe werth gehalten 
hatte, die Indianer, welche er ffalpirt, zu zählen. Das 
wettergebräunte Geſicht und die Adlersaugen dieſes Mannes— 
ſchlächters, der bald darauf allein ſeitwärts über die Steppe 
weitergalloppirte, behielt ich treu im Gedächtniß. 


14 


Bei einbrechender Nacht nahm ich wieder meinen Sitz 
in der Kutſche, wo wir zwölf Paſſagiere, groß und klein, 
uns in unſer Minimum zuſammendrückten. Eine recht elende 
Nachtfahrt war es, und da nicht zu hoffen ſtand, daß ſich 
unſere Bequemlichkeit bis Denver irgendwie verbeſſern würde, 
ſo war meine Laune eben keine roſige zu nennen. Die 
Chicagoer Familie machte ſich unausſtehlich. Mann und 
Frau zankten ſich faſt fortwährend; das Baby ſchrie vier— 
telſtundenlang und kreiſchte dabei, als ob es am Spieße 
ſteckte; Charlie, der älteſte Knabe, ein Prachtexemplar 
vom frechen, vorlauten Jungamerika, gab ſeine Anſichten 
über Politik und Tagesneuigkeiten zum Beſten, worin ihn 
fein jüngerer Bruder Sam nach Kräften unterſtützte, 
während der mir beſonders verhaßte rothhaarige Sandy 
darauf beſtand, mir ſein Solferinohaupt in den Schooß 
zu legen. Da alles Remouſtriren meinerſeits gegen dieſe 
Vertraulichkeit nichts nützen wollte, ſo nahm ich zu einem 
ſtrategiſchen Plan meine Zuflucht, der ſich in ähnlichen 
Fällen bereits practiſch bewährt hatte. Leiſe zog ich eine 
Stecknadel aus meinem Rockkragen, — wo ich nach Jung— 
geſellenart ſtets einige davon vorräthig hatte, — und appli— 
zirte dem Sandy einen freundſchaftlichen Stich in die Wade, 
was Jenen ſofort mit lautem Geſchrei in Papa's Schooß 
trieb. Ich fürchtete mich natürlich mehr als ſonſt Jemand 
in der Stage vor dem giftigen Scorpion, der den Saudy 
geſtochen haben ſollte. Die Mormonendame fiel faſt vor 
Furcht in Ohnmacht, als ich, um den Caſus zu erläutern 
ſofort einige Scorpions- und Tarantulageſchichten aus Texas 
und Central-Amerika zum Beſten gab. Nachdem ich das 
Experiment mit der Stecknadel ein paar Mal wiederholt 
hatte, ſchien Sandy zu meiner Befriedigung meine Nähe 
gefliſſentlich zu vermeiden. 


15 


Während mehrerer Stunden waren wir gezwungen, 
bei ſtockfinſtrer Nacht ſtille zu liegen und das Aufgehen 
des Mondes abzuwarten, weil auf der endloſen dunklen 
Fläche jedes Merkzeichen zum Orientiren fehlte. Anſehn— 
liche Grasbrände leuchteten in verſchiedenen Richtungen 
auf, ab und zu heulte ein Wolf, dem ein Kamerad aus 
weiter Ferne antwortete, oder ein Raubvogel flog krächzend 
über uns hin. Als die Mondſcheibe voll am Horizonte 
emporſtieg und die Ebene beſchien, jagten ſich die großen 
Schatten dunkler Wolken über das bleiche Gefild, als ob 
finſtre Ungethüme ſich verfolgten. Endlich, lange nach 
Mitternacht fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem 
mich das Zetergeſchrei des Baby, dem ſeine Mutter ſoeben 
Morgentoilette machte, beim erſten Grauen des neuen Tages 
unangenehm weckte. Nichts Eiligeres hatte ich zu thun, 
als meinen früheren Sitz beim Kutſcher wieder einzunehmen, 
welchen Platz ich während meiner Reiſe gegen alle Ex: 
dringlinge bei Tage fortan behauptete. 

Die Steppe hatte heute ein ſchöneres Kleid angelegt. 
Junges Grün deckte den wellenförmigen Plan, hie und da 
ſtand ein ſchimmerndes Blümlein in der hellen Morgenſonne. 
Die zahlreichen Löcher auf der Steppe, welche ausſahen, 
als ob Bomben dort krepirt ſeien, rührten vom Wühlen 
der Büffel her. Tief ausgetretene Fußpfade, einzeln oder 
doppelt neben einander herlaufend, welche alle in der Rich— 
tung von Süd nach Nord, oft die Fahrſtraße kreuzten, 
waren Büffelwege, auf denen dieſe Thiere in Reihen hinter 
einander hertraben. An dieſem Vormittage gewahrte ich die 
erſten zwei Büffel, welche wie ſchwarze Kleckſe ſich an einer 
fernen grünen Höhe zeigten. Skelette von Büffeln, Pferden 
und Rindern und andere Thiergerippe, die am Wege bleichten, 
waren ſo häufig, daß ich bald gar keine Notiz mehr von 
ihnen nahm. 


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Einzelne Gräber am Wege, mit über Kreuz zuſammen— 
genagelten Stöcken darauf, machten einen düſteren Eindruck. 
Ungenannt ſchliefen dort die raſtloſen Abenteurer, die Pioniere 
der Civiliſation, den ewigen Schlaf auf der einſamen Steppe. 
Ob von Krankheit und Seuchen dahingerafft, oder den Müh— 
ſeligkeiten der Reiſe erlegen, ob ein Opfer des Mordes, der 
Rachſucht oder des Raubes, oder von den Wilden grauſam 
getödtet — Niemand vermochte es zu ſagen! Graus und 
Entſetzen, verloren gegangene Hoffnungen, Noth und Herzeleid 
ſchlummerten in dieſen Gräbern. Hatte ein treues Weib dem 
Gatten hier den Todesſchweiß von der kalten Stirn getrocknet, 
oder legte ſich ein verlaſſener, lebensmüder Wanderer nieder 
zum Sterben? — Hielten dort gar erbarmungsloſe Wilde 
mit teufliſchem Gejauchze die blutigen Scalpe hoch empor? 
Verſchollen der Jammer, und Keiner kann davon Kunde 
geben! und bald werden auch jene Todtenhügel und ihre 
Kreuze verſchwunden ſein. Nur die Winde der großen Steppe 
werden über den vergeſſenen Grabſtätten ein Klagelied ſingen! 

Während wir ſo immer weiter weſtwärts über den 
Steppenocean eilten, und nach Büffelheerden, Antilopen 
und Indianern ausſpähten, paſſirten wir jede acht bis zwölf 
engliſche Meilen eine Stage-Station, an welcher die Pferde 
gewechſelt wurden und wo wir gelegentlich unſere nicht eben 
lukulliſch zu nennenden Mahlzeiten für anderthalb Dollars 
die Portion einnahmen. Die Stationen beſtanden aus roh 
gezimmerten Holzhäuſern, mit Stallungen daneben und 
großen Heuſchobern in gefährlicher Nähe, die bei aus— 
gedehnten Grasbränden der Steppe nicht ſelten mit den 
Gebäuden in Flammen aufgehen. Die Bewohner jener Sta— 
tionen ſchwebten Alle in tödtlicher Angſt vor den Indianern; 
die Frage, ob wir auch gut bewaffnet ſeien, wiederholte 
ſich bei jedem Halteplatze und wurde immer bedeutſamer, 
je näher wir den Jagdgründen der Rothhäute kamen. 


17 


Einige Meilen jenfeit3 des vom 3. V. St.-Cavallerie- 
Regimente beſetzten Fort Hayes, welches wir am hohen 
Vormittage paſſirt hatten, erreichten wir, 90 Miles von 
Salina die Station Big Creek. Hier mußten wir vor— 
läufig liegen bleiben, weil die Indianer ſämmtliche vierzig 
zur Station gehörigen Pferde zum offenbaren Hohn des in 
nächſter Nähe liegenden Truppen-Commando's geraubt 
hatten. In der Station ſah es aus wie in einer belagerten 
Feſtung. Hinterladungsbüchſen, Carabiner und Revolver 
hingen reihenweiſe an den Wänden, Patronen lagen auf 
Tiſchen und Bänken und Jedermann handhabte Waffen, lud 
Gewehre und ſah unruhig oft hinaus auf die Steppe, als 
ob die Indianer jeden Augenblick erſcheinen könnten. So— 
eben war die Nachricht eingetroffen, daß die Rothhäute die 
nächſte weſtlich liegende Station angegriffen nnd verbrannt 
hätten. Die drei dort wohnenden Stationswächter hatten 
ſie ſchrecklich verſtümmelt und darauf noch lebend in die 
Thür gelegt, die Köpfe draußen und mit den Beinen im 
brennenden Gebäude. Zwei andere Stationen waren dem— 
ſelben Schickſal nur dadurch entgangen, daß die Wächter, 
welche die rothen Teufel bei Zeiten gewahr wurden, eiligſt 
die Thüren ſchloſſen, worauf die Wilden unter der Drohung, 
bald wieder kommen zu wollen weiterzogen. Mit welchen 
Gefühlen wir Stagereiſenden dieſe Schauergeſchichten an— 
hörten, läßt ſich denken! Auf einer Wegſtrecke von mehr 
als dreihundert engliſchen Meilen in der Wildniß ſollten 
wir in einer einzelnen Kutſche ſolchen Schreckniſſen Trotz 
bieten und mitten durch das Jagdgebiet der ergrimmten 
Rothhäute fahren. Die Truppen ſtellten noch keine Be— 
deckungsmannſchaft, und ſelbſt auf die Hoffnung, in Be— 
gleitung von zwei oder mehreren Stages zu gegenſeitigem 
Schutze die Reiſe zurückzulegen, mußten wir verzichten, 
da die zum Wechſeln nöthigen Pferde an den Stationen 


2 


18 


fehlten. Seit drei Tagen war keine Kutſche vom Weſten 
angelangt, was die Ausſicht noch ominöſer machte. Der 
in Big Creek wohnende Diviſionsagent der Stage-Com— 
pagnie hatte vollſtändig den Kopf verloren. „Wir müßten 
ſelbſt zuſehen, wie wir durchkämen, helfen könne er uns nicht!“ 
— das war der leidige Troſt, den er uns gab. 

Da wir vorausſichtlich nicht vor der zweiten Station 
Pferde wechſeln konnten, indem ja die nächſte von den 
Indianern zerſtört war, und wir auch mit demſelben Ge— 
ſpann, das uns nach Big Creek gebracht, weiter fahren 
mußten, ſo war vor Allem nöthig, die Thiere raſten zu 
laſſen. Der Kutſcher benutzte ſeine Mußezeit, unſere Stage 
einer gründlichen Reviſion zu unterwerfen, damit wir nicht 
Gefahr liefen, unterwegs etwas am Wagen zu zerbrechen, 
was bei einem Kampfe, oder beſſer geſagt — Davonlaufen 
vor den Indianern unangenehme Folgen haben möchte. Wir 
Paſſagiere ſuchten unterdeß unſere Waffen in guten Stand zu 
ſetzen, ſchoſſen nach der Scheibe, übten uns im Schnellfeuern 
und recognoscirten ab und zu die Steppe mit Ferngläſern, 
während unſere Damen ſich in herzzerbrechenden Lamenta— 
tionen ergingen. Gegen Abend langte eine zweite Stage— 
kutſche, die mit bewaffneten Paſſagieren überfüllt war und 
wie ein fahrendes Arſenal ausſah, vom Oſten bei der 
Station an und wurde als Verſtärkung unſerer Macht mit 
Jubel begrüßt. 

Während der Nacht wurden Vorpoſten ausgeſtellt, 
durch das Loos beſtimmt. Auf mich fiel die Zeit von ein 
bis vier Uhr Morgens, welche ich in Gemeinſchaft mit einem 
der Stationsleute abhalten mußte. Jeder von uns war 
mit einer mit achtzehn Spitzkugelpatronen geladenen Henry's— 
Büchſe und zwei ſechsſchüſſigen Marinerevolvern bewaffnet. 
Langſam gingen wir vor den Stationsgebäuden auf und ab 
und ſpähten forſchend hinaus auf die vom Mondlicht bleich 


19 


beſchienene Steppe. Mitunter wähnten wir, es ſchwankten 
die Grashalme über einer dunklen ſich leiſe dahin bewegen— 
den Geſtalt, als ob dort Indianer auf dem Boden heran— 
ſchlichen. Schnell wurden dann die Büchſen ſchußfertig ge— 
halten, wir lüfteten die Revolver im Gürtel und zogen uns 
in den dunklen Schatten der Gebäude zurück. Ob es In— 
dianer geweſen waren, jene verſchwimmenden Geſtalten, die 
wir öfters in einer Entfernung von etwa hundert Schritt 
im Gras entlang ſchleichen ſahen, ob Wölfe oder Coyotes, 
deren Geheul und weinerlich ſchallendes Gekläff mitunter 
unheimlich die Stille der Nacht unterbrach, darüber blieben 
wir im Zweifel; denn wir wollten die Schlafeuden in der 
Station durch Schießen nicht unnöthig in Schrecken ſetzen. 

Mein Gefährte, ein wackrer Irländer, war Tags zuvor 
alleine zu Fuß von Salina angelangt, mit der Abſicht, ſich 
in der Station als Arbeiter zu verdingen, oder nöthigen— 
falls gegen die Indianer zu fechten. Das Leben dieſes 
muthigen Sohnes der „grünen Inſel“ war ein ſehr be— 
wegtes geweſen. Jahrelang hatte er ſich am „Cap“ (der 
guten Hoffnung), in Oſtindien, Algier, Peru, Chili, Auſtralien 
und Californien aufgehalten. Was er mir an ſeltſamen 
Abenteuern in jenen Ländern mit leiſer Stimme erzählte, 
trug bei der uns umlauernden Gefahr nicht wenig dazu 
bei, jene drei Stunden auf dem Poſten auf mondlichter 
Steppe romantiſch zu machen. Charactere wie dieſen Ir— 
länder findet man tauſende im fernen Weſten Amerika's; 
aber es gehört zu den großen Seltenheiten, wenn Einer 
von ihnen das Erlebte auf intereſſante Weiſe wiedererzählt. 
Haarſträubende Abenteuer, deren Beſchreibungen in einer 
illuſtrirten Zeitung bei flackerndem Kerzenlicht von blaſſen 
Penſionsmädchen ſchaudernd im Bett geleſen werden würden, 
ſind ſolchen Leuten etwas ſo Gewöhnliches, daß es ſtets 
ein Zufall iſt, wenn die Welt davon erfährt. Als der 


2 * 


20 


Tag angebrochen war und wir eben ein Morgenpfeifche 
in der Gaſtſtube rauchten, erſtaunten wir nicht wenig, vo 
einem Eiſenbahnarbeiter die Neuigkeit zu hören, es hätte 
die Indianer in dieſer ſelben Nacht ſeinen Kameraden etlich 
zwanzig Pferde geſtohlen. Jetzt zweifelten wir nicht länge 
daran, daß die Indianer ganz in unſerer Nähe gewefe 
waren und uns auf dem Poſten beobachtet hatten; ware 
aber doch ganz zufrieden, ihre werthe Bekanntſchaft nich 
näher gemacht zu haben! 

Den zweiten Tag unſeres unfreiwilligen Aufenthalte 
in der „Big Creek-Station“ verbrachten wir fo gut als e 
ſich unter den Umftänden machen ließ. Einige von un 
ſpielten vor den Gebäuden auf dem grünen Anger Bal 
und Ringwerfen und Andere ſpähten mit Feldgläſern nad 
Indianern und Stages oder ſchoſſen nach der Scheibe 
während die Damen, welche, als die Geſellſchaft ſich ver 
größerte, die Wilden ganz und gar vergeſſen hatten, ir 
Begleitung einiger Cheſterfields an dem dicht hinter de 
Station fließenden Bach ſich am Fiſchfang amüſirten. Ei 
ſehr häßliches Büffelkalb wurde von der Jugend ganz be 
ſonders bewundert. Zwei zahme Prairiehunde (spermo 
philus ludovicianus, der amerikaniſche Hamſter), welche ſich 
auf dem Hofe in Erdlöchern häuslich eingerichtet hatten 
nahmen am meiſten die Aufmerkſamkeit in Anſpruch. Jen 
putzluſtigen Thierchen, welche mit ihren kurzen Schwänzen 
vergnügt wedelten, wenn fie mit einem lautem „Tſchirp!“ — 
„Tſchirp!“ vor uns in ihre Löcher flohen, um bald darau 
wieder klug herauszugucken, als wollten fie ſagen: „Na nu 
ihr habt ja nur Spaß gemacht!“ — wurden wir nicht müde 
zu betrachten, da ſie ebenſo liebenswürdig als frech waren 

Gegen Mittag brachten die Damen von ihrer Razzie 
ein paar hundert von anderthalb bis zehn Zoll lange Fiſche 
zurück, welche mit Jubel begrüßt wurden, und die wir be 


21 


Tiſche, in Butter gebraten, den trockenen Büffelſteaks bei 
weitem vorzogen. Kaum hatten wir unſeren Imbiß be— 
endigt, als der frohe Ruf: „die Stage! — die Stage!“ 
erſcholl. Es war keine Täuſchung. Dort kam der kühne 
Steppenfahrer vom fernen Weſten her, und bald darauf 
ſprengte das ſchnaubende Sechsgeſpann über den grünen 
Plan heran und wurde bei der Station mit Hurrah em— 
pfangen. Zu unſerer großen Beruhigung vernahmen wir, 
daß auf der Fahrt von Denver bis hierher gar keine In— 
dianer geſehen worden waren. Gegen Abend langte noch 
eine Stage mit Paſſagieren von Salina an, und es war 
von den bis an die Zähne bewaffneten Inſaſſen der vier 
Poſtkutſchen ſo lebendig in der Station, wie in einem 
Feldlager. 

Aber die Zeit drängte und wir rüſteten uns zur 
Weiterreiſe. Schon war der Mond aufgegangen. Die 
Pferde hatten ſich genug ausgeruht und waren eingeſchirrt, 
und der Kutſcher knallte ungeduldig mit der Peitſche und 
hielt mit Mühe nur die ſich bäumenden Thiere. Schnell 
nahmen wir alle unſere Plätze in der Stage ein. Die 
Sprößlinge der Chicagoer Familie wurden unter Zeterge— 
ſchrei in die Kutſche expedirt, während der Papa mit ſeiner 
ſchlecht gelaunten Ehehälfte kräftige Complimente austauſchte 
und ein Paar zurückbleibende Goldjäger ſich laut in an— 
züglichen Witzen über Sandy und das „Baby“ ergingen: 
da ließ der Kutſcher mit einem kräftigen Peitſchenhieb auf 
die Roſſe dieſen die Zügel ſchießen und fort ſprengte in 
geſtrecktem Galopp unſer muthiges Sechsgeſpann. Als wir 
drei Paſſagiere, die, mit den geladenen Büchſen in der 
Hand, auf dem Kutſchendache Platz genommen hatten, die 
Hüte ſchwenkten, erſcholl hinter uns ein lautes „good bye!“ 
— und kaum war der letzte Abſchiedsgruß verhallt, als 
wir bereits eine halbe Meile entfernt, in raſender Eile 


über die nächte Bodenhebung jagten; die Stationsgebäude 
entſchwanden unſerm Blick und wir waren wieder allein 
auf bleicher, endloſer, mondbeleuchteter Steppe. 

Friſch auf, ihr Renner! hebt das Haupt und ſchüttelt 
die Mähnen und trabt eilig hin über den glatten Plan, 
mit hoch gehobenen Hufen! und du, Mond, mit dem 
lächelnden Antlitz, gieße dein helles Licht über die weite 
Ebene, daß nicht die tückiſchen, blutgierigen Wilden ſich un— 
erwartet uns nahen! — Fort! — fort! — immer gen 
Weſten — und ſcharf geſpäht Kameraden, vom hohen Sitz 
und das gute Feuerrohr fertig zum Schuß! Keine Nacht 
iſt dieſe zum Schlafen hier oben auf eilender Kutſche, wenn 
der teufliſche Feind uns vielleicht hinter dem nächſten Hüge 
zum Blutfeſt erwartet. Was ſchleicht dort drüben und duck 
ſich im hohen Gras — zwei — drei — vier Geſtalten? 
Coyotes ſind es, die feigen Jakals der Steppe, die ausgingen, 
um Gräber aufzuſpüren und Leichen auszuſcharren, oder 
vielleicht einen lahmen Büffel hinterrücks im Schlafe zu 
überfallen. Nicht gefeuert, Freund! es möchte der Knall 
uns grimmigere Feinde herbeilocken, erbarmungsloſere, als 
jene Hyänen der Steppe. Fort! Fort! immer gen Weſten 
— und nicht müde geworden, ihr wackeren Roſſe! Was 
ſchnaubt ihr ängſtlich und blickt zur Seite? — Ha! die 
ſchwarzen Ruinen ſind es, nahe am Weg, die grauſige 
Stätte, wo noch vor zwei Nächten die rothen Teufel wü— 
theten mit Mord und Brand und Entſetzen. War's doch, 
als ob Luna ihr Antlitz verbarg hinter jener finſtren Wolke, 
um nicht den Schreckensort zu ſchauen, wo brave Männer 
verſtümmelt, zerhackt den Tod fanden in den praſſelnden 
Flammen — mit zuckenden, blutenden Gliedern lebendig 
verbrannt! — Ein Rudel Wölfe flieht aus den Ruinen, 
wo ſie nach Leichen geſpürt, und im geſtreckten Galopp 
jagen wir weiter, vorbei an dem Orte des Entſetzens. 


23 


| Fort! — Fort! — immer gen Welten! die langan⸗ 
ſchwellenden Hügel hinan, hinab in raſender Eile. Wild 
ſpringen die Roſſe zur Seite und ſtürmen mit ſchnaubenden 
Nüſtern in weitem Bogen hinaus auf die pfadloſe Steppe, 
und ein ſchwarzer Koloß erhebt ſich dicht vor uns im 
Wege. Ein Büffel war es, der dort Sieſta gehalten, und 
jetzt erſchreckt nordwärts flüchtet im ſchweren Galopp. — 
Seht! vor uns liegt ein einſames Haus mit niedrigem 
Dach. Wildes Gejauchze läßt der Kutſcher erſchallen, um 
die ſchlafenden Männer in der nahen Station zu wecken. 
Jammergeſchrei und lautes Weinen ertönt aus dem Wagen: 
Die Frauen und Kinder wähnten beim Jauchzen des 
Kutſchers, es ſeien die Wilden gekommen. Ein unbändiges 
Gelächter vom Bock beruhigt ſie bald — und hier hält 
unſer dampfendes Sechsgeſpann nach einem Schnelllaufe von 
ein und zwanzig engliſchen Meilen vor der einſamen Station. 

Vorſichtig öffnen die drei Inſaſſen des Stations— 
gebäudes, mit den Waffen in der Hand, die Thüre, um 
ſich zu vergewiſſern, daß ihnen nicht der Verrath genaht. 
In der Erdſchanze hatten ſie geſchlafen, die in der Nähe 
von den meiſten dieſer Stationen erbaut iſt und durch unter» 
irdiſche Gänge mit dem Wohnhauſe und den Stallungen 
Verbindung hat. Ein Paar Holzbänke mit Wolldecken 
darauf, ein Krug Waſſer, und ein geringer Vorrath von 
getrocknetem Büffelfleiſch und hartem Zwieback, nebſt einem 
ganzen Waffenarſenal ſind der Inhalt dieſer Erdfeſte, der 
ich einen flüchtigen Beſuch abſtatte. Auf verſchiedenen 
Stellen öffnen ſich Schießſcharten durch die Erdwände dieſer 
von außen unzugänglichen und den Wilden uneinnehmbaren 
Feſte. Aber ſchon knallt der Kutſcher mit der Peitſche und 
mahnt laut rufend die Paſſagiere einzuſteigen. Ein friſches 
Sechsgeſpann ſteht eingeſchirrt und ſchnell wie wir gekommen 
eilen wir weiter. — 


) 


24 


Der Morgen iſt angebrochen, klar und froftig, und 
der Wind, welcher ſich während der Nacht gelegt hat, bläſt 
wieder recht kräftig, nicht ſtoßweiſe, ſondern in langem, 
gleichmäßigem Zuge. Dieſe unabläſſig wehenden, den feinen 
Sand forttreibenden heftigen Winde ſind mit dem ſcharfen 
Witterungswechſel naßkalter Winter und trockener Sommer 
die Haupturſache der vielen grotesken Felsformationen, denen 
man auf den Ebenen begegnet. Der feine flüchtige Sand 
nagt unaufhörlich an den vereinzelt ſich erhebenden Geſtein— 
maſſen. Im Laufe von Jahrtauſenden wurden die verwitterten 
oder weicheren Theile des Geſteins buchſtäblich fortgeblafen, 
die härteren Felsſtücke dagegen blieben ſtehen und bildeten 
vom ſandgeſchwängerten Winde in wunderbare Formen 
ſozuſagen ausgemeißelt, oft die überraſchendſten Figuren, — 
natürliche Obelisken und Säulen, meilenlange Steindämme, 
täuſchend ähnliche Nachbildungen von Domen, Baſtionen, 
rieſigen Standbildern, Ruinen von Tempeln und Schlöſſern, 
Bogengängen, crenellirten Mauern und tauſenderlei mehr 
Abſonderlichkeiten. In Folge des ſcharfen Windes iſt die 
Luft in dieſen Gegenden außerordentlich zehrend, dabei aber 
ſo rein, daß eine Erkältung in dieſen Gegenden zu den 
größten Seltenheiten gehört. Der fatalſte Huſten oder 
Schnupfen wird Einem hier binnen vier und zwanzig Stun— 
den complet fortgeblaſen. Einen Appetit entwickeln die 
Ueberlandreiſenden, der ſie ſelbſt in Erſtaunen ſetzt; aber 
recht ſatt wird trotz alles Eſſens doch Keiner von ihnen. 

Wir fuhren am Smoky Hill-Fluſſe, einem ſeichten 
und ſchlammigen Gewäſſer, hin, nach welchem dieſe Stage— 
Route ihren Namen erhalten hat. Die Gegend war mit— 
unter ziemlich hügelig, und oft überraſchten uns die ſelt— 
ſamſten Felsformationen. Hie und da trat Schiefer zu 
Tage, und an mehreren Punkten gewahrte ich Kreide- und 
Sandſteinbänke hart am Wege, die wie natürliche Steinbrüche 


25 fr 


7 N 


1 

ausſahen. Dann wieder verflachte ſich die Gegend und ein 
mit goldgelben Sternblumen geſchmückter grüner Teppich 
erſtreckte ſich endlos ringsum. Mitunter zeigten ſich ver— 
einzelte Schaaren von Büffeln (Buffalos), welche ſich ſobald 
ſie die Stagekutſche gewahr wurden, in Bewegung ſetzten, 
um die Fahrſtraße vor uns zu überſchreiten. Sie ſchienen 
dies entſchieden als einen Ehrenpunkt anzuſehen. Unermüdet 
rannten die gewaltigen Thiere, mit dem buſchigen Höcker 
dicht hinter dem ſtämmigen Nacken und den zierlichen Beinen, 
halbſtundenlang mit tief gekrümmten Rücken im ſchweren 
Galopp neben uns her, die Zunge lang aus dem Halſe 
hängend, immer näher kommend und unbeirrt durch die 
Schüſſe, welche wir fahrenden Nimrods ihnen gelegentlich 
zuſandten. Unſeren im ſchnellſten Lauf dahineilenden ſechs 
Roſſen gewannen jene ſcheinbar ſo unbeholfenen Thiere 
immer mehr und mehr Boden ab und erreichten jedesmal 
ihre Abſicht, die Straßen vor dem Wagen zu kreuzen. — 
Ein Detachement von fünf Büffeln paſſirte nach einem 
ſolchen Wettrennen von etwa acht engliſchen Meilen keine 
zwanzig Schritt vor uns über die Straße, nach welchem 
Siege ſie plötzlich mit dem Laufe einhielten und ruhig 
weiterſpazierten. Als Anerkennung ihrer Bravour und 
Ausdauer unterließen wir's jenen ritterlichen Biſons Eins 
auf den zottigen Pelz zu brennen. 

Ein paar Mal gewahrten wir kleine Abtheilungen von 
Antilopen, jener perſonificirte Poeſie der Steppe, welche 
graciös über den Plan hineilten und bald hinter einer 
Bodenhebung verſchwanden. Mitunter blieb eins der Thier— 
chen von einer fliehenden Schaar ſtehen und blickte uns ver— 
wundert ein paar Minuten lang an, worauf es plötzlich 
kehrt machte und eilig weiterrannte. Durch eine rothe 
Fahne laſſen ſie ſich leicht in Büchſenſchußweite heranlocken, 
da ſie außerordentlich neugierig ſind. Rannte eine Antilope 


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auf ihrer Flucht zufällig an die Landſtraße, ſo prallte fie 


unfehlbar davor wie vor einer fremden Erſcheinung zurück 
und floh auf demſelben Wege, auf dem ſie gekommen, weiter, 
bis ſie unſeren Blicken hinter einem Hügel entſchwand. 
Eins dieſer niedlichen Thiere näherte ſich uns bis auf etwa 
hundert Schritt und blickte uns eine geraume Zeit ver— 
wundert an, ehe es zurückfloh. Es war ein erregender 
Moment, das allerliebſte Thierchen, deſſen glattes Vließ 
in's gelblich Braune ſpielte, ſo nahe zu ſehen, als ſei es 
ein zahmes Reh. Keinem von uns fiel es ein, daſſelbe 
durch einen Schuß zu erſchrecken und nichts hätte ich lieber 
gethan, als es zu liebkoſen. 


„Antilope, zierlich Thierchen, 
Mit den Augen, ſonnenhelle, 
Sag', warum ſo ſcheu, ſo flüchtig, 
Der Savannen du Gazelle?“ 


„Wenn du durch die bunten Gräſer 
Eileſt mit den leichten Hufen, 
Schwebend, wie der Vogel flieget, 
Möcht' ich gern dich zu mir rufen!“ 


„Möchte deinen braunen Rücken 
Streicheln, niedliche Gazelle, 
Und dir in die Aeuglein ſchauen, 
In die Aeuglein, ſonnenhelle!“ 


Sprach's — doch eh' ich kaum die Worte 
Zu der Steppe Maid gerufen, 
Schwand ſie hinter grünen Hügeln, 
Wie verſchämt, mit leichten Hufen. 


1 1 


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Alle zehn bis zwölf englifhe Meilen kamen wir nach 
einer Station, wo die Pferde gewechſelt wurden. Sie ſahen 
ſich ſo ähnlich, wie ein Ei dem andern: Ein niedriges 
Holzhaus, nebſt Stallungen und Heuſchobern und dahinter 
eine, mitunter zwei Erdfeſten, denen die Stationswächter 
den Namen „Beutelrattenlöcher“ (gopher holes) beigelegt 
hatten, nach ihrer Aehnlichkeit im Bau mit den Erdlöchern 
jener auf der Steppe in großer Zahl lebenden Thierchen. 
Mit den 150 bis 200 engliſche Meilen von einander ent— 
fernten Militairpoſten der Vereinigten Staaten bildeten jene 
Stationen der Stage-Compagnie die alleinigen Zeichen der 
Civiliſation auf den Ebenen. Aber nirgends hatte man 
ſich die Mühe genommen, Gärten anzulegen, obwohl der 
Boden vortrefflich und Dünger in Menge zur Stelle war. 
Das Bauholz zu den Gebäuden mußte aus einer Entfernung 
von dreihundert bis vierhundert engliſchen Meilen von 
Denver herbeigeſchafft werden. Dort koſtete daſſelbe vierzig 
Dollars, der Transport bis an Ort und Stelle des Ver— 
brauchs einhundertundfünfzig bis zweihundert Dollars für 
tauſend Fuß. Der Preis von Brennholz belief ſich auf 
fünfundſiebzig Dollars die Klafter. Welſchkorn zur Fütte— 
rung der Pferde und Maulthiere, Lebensmittel aller Art ꝛc. 
koſteten einen viertel Dollar das Pfund allein für den 
Transport, und alles dies mußte vom Weſtendpunkte der 
Pacifiebahn oder von Denver herbeigeſchafft werden. Das 
Paſſagegeld von 375 Dollars für die Reiſe von Leaven— 
worth in Kanſas bis Boiſe City in Idaho war bei fo 
bewandtem Preis-Courant auf der Ueberland-Stageroute 
nicht übermäßig hoch geſtellt. Die Entbehrungen während 
dieſer Reiſe hatten wir namentlich dem auf den Ebenen aus— 
gebrochenen Indianerkriege zu verdanken, da wegen der 
Schwierigkeit und Gefahr des Transportes die Lebens— 
mittel überall in den Stationen ſehr knapp waren. Sonſt 


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freilich pflegten Gemüſe, z. B. Spargel, Erbſen, Tomatos ꝛc., 
eingemachte Früchte, Auſtern, Hummer, Sardinen und der— 
gleichen einem an civiliſirte Lebensweiſe gewöhnten Magen 
äußerſt annehmbare Dinge in luftdicht verſchloſſenen Blech— 
büchſen vom Oſten eingeführt zu werden. Aber wir bekamen 
für anderthalb Dollars die Mahlzeit nur wenig von der— 
artigen Gerichten zu ſehen und mußten uns — Dank den 
Indianern! — meiſtens mit ranzigem Speck, ſchlechtem 
Maisbrot und noch ſchlechterem Kaffee, mit trockenem Büffel— 
und pikantem Antilopenfleiſch begnügen. 

An jeder Stageſtation unterhielt man uns ſelbſtver— 
ſtändlich mit haarſträubenden Erzählungen von Grauſamkeiten, 
welche jüngſt von den Indianern verübt worden waren, und 
die ſtereotyp gewordene Frage, ob wir auch gut bewaffnet 
ſeien, ſowie das Mitleid, welches man mit den Frauen 
und Kindern hatte, fingen nachgerade an, langweilig zu 
werden. Wir wünſchten den großen Cheyenne-Häuptling 
General Schlitznaſe (Cut Nose), welcher den Bau 
der Pacifiebahn verhindern wollte und eine ſpecielle Malice 
gegen alle Bleichgeſichter hegte, auch einmal von Angeſicht 
zu Angeſicht zu ſchauen, — natürlich nicht mit zu vielen 
von ſeinen eleganten Leibgarden! Wir waren jetzt innerhalb 
der Grenzen ſeines Regierungsbezirks und befanden uns 
auf der gefährlichſten Strecke zwiſchen Salina und Denver. 

Die Sonne ſtieg höher. Am Horizonte lag es vor 
uns wie eine lange Reihe von weißen Felſen, an denen die 
Luftſpiegelung ſich brach, als brandete das Meer dort am 
fernen Klippengeſtade In der Nähe eines vereinzelt in der 
Ebene emporragenden Felſens, welcher nach ſeiner, freilich 
etwas hergeholten Aehnlichkeit mit einer alten Ritterburg 
der Schloßfelſen (castle rock) hieß, ſollte das Haupt— 
quartier des blutdürſtigen Cheyenne-Häuptlings ſein. Unſer 
Kutſcher behauptete, ein intimer Freund von „Schlitznaſe“ 


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zu fein, den er als einen im Umgang ganz gemüthlichen 
Kerl kenne. Derſelbe hätte ihm auch aus alter Freund— 
ſchaft das Verſprechen gegeben, ihn nicht ſkalpiren zu wollen, 
falls er ihn einmal in der Stage zu faſſen bekäme: ein 
allerliebſter Troſt für uns Mitreiſenden! — Unſere ſechs 
Grauſchimmel mußten diesmal ohne Aufenthalt neunzehn 
engliſche Meilen zurücklegen, da die nächſte Station „Caſtle 
Rock“ aus Furcht vor Schlitznaſe von ihren Bewohnern 
verlaſſen worden war, und man Niemand finden konnte, 
der in einer ſo intereſſanten Nachbarſchaft ſein Domicil 
hätte aufſchlagen wollen. Die Stage glich einer beweg— 
lichen Feſtung. Jeder von ihren fünf männlichen Inſaſſen 
hatte eine Hinterladungsbüchſe in der Hand, Revolver und 
lange Dolchmeſſer im Gürtel, Patronen und Zündhütchen 
in allen Taſchen, um bei einem etwa vorkommenden Ge— 
fecht nicht lange darnach ſuchen zu müſſen. Drei von uns 
hatten auf dem Kutſchendache Poſten gefaßt und zwei ſaßen 
im Wagen, Einer an jedem Fenſter. Mit unſern Feld— 
gläſern und Opernguckern rekognoscirten wir unabläſſig 
die Gegend nach allen Richtungen und beachteten kaum die 
putzluſtigen Prairiehunde, welche mit lautem „Tſchirp! 
Tſchirp!“ dicht neben der Straße hin- und herliefen, oder 
auf den Hinterbeinen vor ihren Löchern daſaßen und, mit 
dem Stummelſchwanz wedelnd, uns frech anblinzelten, als 
wollten ſie ſagem: „Na nu! was thut ihr denn ſo gar 
gefährlich!“ Sogar die ſich hier recht zahlreich zeigenden 
Büffel und Antilopen hatten zeitweilig alles Intereſſe für 
uns verloren. 

Glücklich waren wir neben dem linker Hand nahe an 
der Landſtraße liegenden „Schloßfelſen“ vorbeigefahren, 
ſowie an einem mächtigen Felspfeiler, der ſich nicht weit 
davon jäh aus der Tiefe emporhob, und bald zeigte ſich 
uns die verlaſſene Station „Caſtle Rock“. Als ich ver— 


30 


wundert darauf hindeutete, daß dieſelbe von den Indianern 
nicht zerſtört worden ſei, woran ſie doch Niemand hätte 
hindern können, erfuhr ich, es ſei Grundſatz bei den Wilden, 
nie verlaſſene Gebäude aus Furcht vor einem ſchlau ange— 
legtem Hinterhalt zu betreten, auch könne die Stationswache 
unbeſorgt Kleider und Lebensmittel zurücklaſſen, wovon die 
Indianer, welche Vergiftung, anſteckende Krankheiten oder 
verborgene Höllenmaſchinen argwöhnten, gewiß nichts an— 
rühren würden. 

Plötzlich hieb der Kutſcher mit einem Fluche auf die 
Grauſchimmel los und deutete nach links hinüber, von wo 
eine lange Reihe dunkler Geſtalten, die wir Paſſagiere nicht 
beachtet hatten, über einen ſich ſanft abdachenden Höhenzug 
ſchnell näher kam. Da waren ſie, die gefürchteten Roth— 
häute! — Auch wir hatten unſere Todfeinde bald durch die 
Feldgläſer erkannt. — Es mochten ihrer dreißig bis vierzig 
ſein und ſie hatten es offenbar darauf abgeſehen, uns den 
Weg zu verlegen. Aber wir hatten etwas den Vorſprung, 
die Straße war glatt wie der Boden einer Tenne und 
unſere Roſſe waren keinenfalls von der langſamen Sorte. 
Brach nichts am Geſchirr oder an den Rädern, ſo war die 
Ausſicht, unſere Scalpe zu behalten keineswegs hoffnungslos. 
Dem Kutſcher bedeuteten wir, nur auf die Pferde, das 
Geſchirr und den Wagen Acht zu geben, wir würden ihm 
die wilde Bande ſchon vorläufig vom Leibe halten! 

Bald hatten auch die Indianer erkannt, daß ſie von 
uns geſehen worden waren, und es begann nun ein im 
höchſten Grade intereſſanter Wettlauf auf Tod und Leben. 
Unſere Grauſchimmel ſchienen die Gefahr nicht minder als 
wir zu würdigen, ſie thaten das Mögliche und flogen gleich— 
ſam über den Plan. Doch gewannen uns die Indianer, 
welche ſeitwärts von uns ſchräge herüberjagten, mehr und 
mehr Boden ab. Sobald jene in den Bereich unſerer weit 


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tragenden Büchſen gekommen waren, ſchickten wir ihnen, 
um nicht mißverſtanden zu werden, daß wir keineswegs ge— 
ſonnen ſeien, die ſchönen Grauſchimmel und unſere Scalpe 
gutwillig Preis zu geben, Schuß auf Schuß zu. Die beiden 
Goldgräber aus Montana, welche im Wagen geſeſſen hatten, 
ſchwangen ſich, ihre Büchſen in der Hand, durch die Fenſter 
auf das Kutſchendach, um von dort bequemer ſchießen zu 
können, ein Kunſtſtück, deſſen Ausführung bei der wilden 
Fahrt keine geringe Geſchicklichkeit erforderte. Wir fünf Paſſa— 
giere ließen nun ein Schnellfeuer auf die wilde Horde los, 
als ob wir eine Compagnie Scharfſchützen am Bord hätten. 

Die Indianer antworteten uns mit Feuerwaffen, und 
Einer von ihnen hatte ſogar die Frechheit, näher als hun— 
dert Schritt gegen uns heranzureiten und ein paar Mal auf 
uns zu ſchießen. Der berühmte Schlitzuaſe war es nicht, 
den der Kutſcher ſicher erkannt hätte und der ſich als 
commandirender General wahrſcheinlich in gemeſſener Ent— 
fernung hielt. Wären die andern Indianer ſo kühn wie 
jener Vorreiter geweſen, ſo hätten ſie uns ohne Frage durch 
einen Maſſenangriff leicht bewältigen können. Aber das 
mußte ihnen wohl zu gefährlich ſcheinen. Selten wagen die 
Indianer, welche von Natur hinterliſtig ſind, einen offenen 
Angriff. Bei dem geringſten unerwarteten Widerſtande 
laufen ſie davon und greifen in der Regel nur da an, wo 
ſie zwanzig gegen Einen ſind, oder wenn ſich ihnen die 
Gelegenheit bietet, ſich in einen ſichern Hinterhalt legen zu 
können. Von den alten Stagekutſchern und den verwegenen 
berittenen Grenzjägern werden ſie als Feinde gründlich ver— 
achtet. In unſerm Falle warteten ſie nur darauf, daß etwas 
am Geſchirr oder am Wagen bräche, um alsdann über 
uns herzufallen. Daß ſie das Geſpann niederſchießen und 
wir ſo unrettbar Havarie leiden und ihnen in die Hände 
fallen würden, brauchten wir nicht zu befürchten, außer es 


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träfe eine ſchlecht gezielte Kugel eins der Pferde; denn auf 
die Grauſchimmel hatten ſie es beſonders abgeſehen. Unſere 
Skalpe galten ihnen nur als eine angenehme Beigabe. 
Die Indianer ſaßen, oder vielmehr lagen wie ange— 
wachſen auf ihren Ponies und deckten ſich auf der von 
uns abgewendeten Seite ihrer Thiere ſo viel wie möglich 
vor unſeren Kugeln. Die meiſten von ihnen ritten ohne 
Sattel und hatten als Zaun einen Lederriemen um den 
Unterkiefer ihres Pferdes geſchlungen. Was wir von ihren 
roth bemalten Fratzengeſichtern zu ſehen bekamen, und das 
teufliſche Geheul, daß ſie uniſono angeſtimmt, benahm uns 
die Luſt, ihnen brüderlich die Hand zu reichen. In der 
Kutſche machten die ſchreienden Frauen und Kinder eine 
Vocalbegleitung zu dem Schlachtconcert, als ob die Wilden 
ſie bereits beim Schopfe hätten. Mehrere Kugeln flogen 
uns ziemlich dicht bei den Ohren vorbei, und auch einzelne 
Pfeile ſchwirrten herüber, die von den Indianern in hohem 
Bogen geſchoſſen wurden und uns faſt fo unangenehm wie 
die Kugeln vorkamen. Doch zielten die Indianer erbärm— 
lich und wurden augenſcheinlich durch unſer Schnellfeuer 
ſtark beunruhigt. Einzelne von ihnen blieben weit zurück 
und hie und da lief ein reiterloſes Pony fort, deſſen Eigen— 
thümer von unſern Kugeln getroffen war oder, dieſelben 
fürchtend, ſich auf den Boden geworfen hatte. Nachdem die 
Teufelsjagd ſo eine Viertelſtunde gedauert, verſchwanden die 
Indianer, welche wohl die nächſte Station, wo uns Hülfe 
erwartete, bemerkt hatten, mit ſtrategiſcher Meiſterſchaft 
plötzlich hinter einem Hügel und überließen uns das Schlacht— 
feld. Unſer Gefechtsſchaden belief ſich auf ein paar Kugel— 
löcher in Onkel Sam's Poſtſäcken, die oben auf der Stage 
feſtgeſchnallt lagen, ein Loch durch den Hut eines Gold— 
jägers und einen leichten Streifſchuß, den der Kutſcher am 
Oberarm erhalten hatte. Den Rothhäuten ein höhniſches 


33 


Lebewohl nebſt Complimenten an den „General Schlitznaſe“ 
nachrufend, waren wir dennoch froh, mit ungeſchorenem 
Haupte bei der nächſten Station anzulangen, wo wir uns 
nach der ſiegreich beſtandenen Hetzjagd wie die Helden einer 
modernen Ilias ſämmtlich ſtolz in die Bruſt warfen. 

Nach kurzem Aufenthalte befanden wir uns mit einem 
friſchen Sechsgeſpann auf der Weiterreiſe. Wollte ich be— 
haupten, daß wir, trotz unſeres Siegesrauſches, uns nach 
der Wiederholung eines ſolchen Scharmützels mit den Roth— 
häuten ſehnten, ſo müßte ich entſchieden unwahr reden. 
Nach wie vor recognoscirten wir die Steppe mit unſern 
Operngläſern und waren ganz zufrieden damit, keine In— 
dianer mehr in Sicht zu bekommen. 

Antilopen und Büffel zeigten ſich jetzt immer zahlreicher; 
die Prairiehunde hätte man nach Tauſenden zählen müſſen. 
Dieſe geſelligen Thierchen leben in förmlichen Dörfern bei— 
ſammen. Die etwa vier Stunden von Fort Kearny ent— 
fernte ſogenannte „Hundeſtadt“, in welcher die Erdlöcher 
in regelmäßigen Abſtänden zwanzig bis dreißig Fuß von 
einander entfernt liegen, ſoll ſich volle ſieben engliſche 
Meilen weit erſtrecken. Die Prairiehunde (Wiſch-Ton-Wiſch 
werden ſie von den Indianern genannt), welche ſich von 
Gras und Wurzeln nähren, ſind um Weniges größer, als 
die Eichhörnchen, dunkelbraun von Farbe mit weißem Bauch, 
und gehören zum Geſchlecht der Hamſter. Der Name „Prai— 
riehund“ iſt geradezu abſurd. Ihr „Tſchirp! Tſchirp!“, 
welchen Laut ſie, mit dem kurzen Schwanze wedelnd, oft ein 
Dutzend Male ſchnell nach einander wiederholen, hat nicht die 
geringſte Aehnlichkeit mit Hundegebell. Die luſtigen kleinen 
Thiere haben ſich eigenthümliche Hausgenoſſen ausgeſucht. 
Sie leben in Geſellſchaft von diminutiven Eulen, welche 
man oft am Eingange ihrer Löcher ſteif wie Grenadiere 
daſtehen ſieht, wie es heißt, um Wache für „die Familie“ 


3 


— — — 


34 


zu halten. Zu dieſer gehören auch noch Klapperſchlangen, 
gehörnte Eidechſen und Landſchildkröten, welche alle mit 
den Eulen und Prairiehunden in demſelben Neſte friedlich 
beiſammen wohnen. Aber letztere ſpielen die Rolle des 
Hausherrn und führen das Commando in der Familie. 
Sie ſind die fidelſten Geſchöpfe, welche man ſich nur denken 
kann, und wir gewannen ſie ſo lieb, daß es uns nie einfiel, 
ſie mit einem Schuſſe zu tödten. Nach ihrem runden, wohl— 
genährten Aeußeren zu ſchließen konnten ſich die Wiſch— 
Ton⸗Wiſch nicht über ſchlechte Zeiten beklagen. Oder war 
ihnen das fröhliche Gemüth und die angenehme Geſellſchaft, 
in welcher ſie ſich bewegten, zur Corpulenz zuträglich? Auch 
beim Menſchen können ja die Begriffe Gemüthlichkeit und 
Wohlbeleibtheit nicht gut von einander getrennt werden, 
und unter den Thieren gilt wohl dieſelbe Regel! 

Als magere Murrköpfe können unter den Steppen— 
bewohnern die hundsföttiſchen Coyotes paſſend betrachtet 
werden, und mit unſerer Freundſchaft für dieſelben war es 
nicht weit her. Einem ſolchen Hungerleiderpaar, das uns 
aus dem halb abgefreſſenen Cadaver eines dicht am Wege 
liegenden verreckten Büffels ſchief anſah, machten wir ſeinen 
ſocialen Standpunkt mit etlichen Revolverſchüſſen bald klar 
und ſtörten es in ſeinen Betrachtungen über den wohl— 
ſchmeckenden Buffalo. Dieſe Jakals der Ebenen ſind kleiner 
und ſchlanker gebaut, als die Wölfe; ſie haben ein ſchmutzi— 
ges, graugelbes, langhaariges Fell. Mitunter raſchelte eine 
Beutelratte ſcheu durch das Gras, ein niedliches kleines 
Thier mit Pausbacken und einem hellbraunen Streifen auf 
dem Rückgrat. Unter dem befiederten Volk waren die Black 
Birds in ganzen Schwärmen vertreten; Kibitze und glänzend 
ſchwarze Raben, die letzteren nie mehr als ein paar der— 
ſelben beiſammen, bemerkte ich zu verſchiedenen Malen. 
Prairiehunde zeigten ſich ſehr zahlreich; doch waren die— 


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ſelben ſcheu und hielten ſich in ehrerbietiger Ferne von uns 
ſeren Büchſen. Bleichende Thierſkelette lagen alle paar 
hundert Schritt am Wege da. 

Während wir ſtets ſcharf nach feindlichen Indianern 
ausſpähten, von denen unſer Reiſeprogramm ſtets unan— 
genehm unterbrochen werden konnte, fuhren wir ruhig weiter, 
und wieder tauchte die Sonne in den Landocean und das 
Dunkel der Nacht ſenkte ſich auf die große Steppe. Am 
ſchwarzblauen Himmelsgewölbe funkelten die Sterne durch 
die reine Luft, ſo blank, ſo glitzernd wie man ſie ſonſt nur 
auf hohen Bergen ſchaut. Der Wind hatte ſich gelegt 
und ernſte Stille lagerte auf der unendlichen Steppe, nur 
unterbrochen von dem Raſſeln der Räder und dem Schnauben 
der Roſſe. Ganz allmählich ſtiegen wir hinauf zum Rück— 
grat des Continents und waren bereits zweitauſend Fuß 
über dem Spiegel des Miſſouri, in einer Höhe, wo der 
Thau nicht mehr fällt. Nach Mitternacht ging der Mond 
auf und legte ſeinen magiſchen Schleier auf die Ebene. 


Die Nacht war mondhell. Schlafend lag 
Die bleiche Steppe da. 
Nur ein Coyote unterbrach 
Die Stille, wie banges Geklag'. 


Lautathmend ſchleppte mühſam nur 
Das dampfende Sechsgeſpann 
Dahin die hochbelad'ne Fuhr 
Auf tiefer, ſandiger Spur. 


Am Horizonte flammte auf 
Ein rother Prairiebrand. 
Die Roſſe hoben das Haupt mit Geſchnauf 
Und horchten im ſchnelleren Lauf. 


3 * 


36 


Phantaſtiſche Felſen ragten empor 
Wie zerfallener Tempelbau 
In Arabiens Wüſte. Mondlichtflor 
Umhüllte den offenen Chor. 


Mir däucht', hoch hob ſich ein Minaret 
Zwiſchen rieſigen Quadern dort. 
Ein Moslem, beturbant, ſtand zum Gebet 
Auf ſchwindelndem Felsſkelett 


Ich ſaß im warmen Buffalorock 
Beim Kutſcher; der nickte tief, 
Die ſchlaffen Zügel, den Peitſchenſtock 
In der Hand auf hohem Bock. 


Die Paſſagiere, in Decken gehüllt, 
Die ſchliefen im Wagen ſtill. 
Die Geiſter der Steppe mit zauberndem Bild 
Belebten das bleiche Gefild. 


Ich habe ganz alleine gewacht 
Auf ſchaukelndem Sitz, allein; 
Ich habe belauſcht die Geiſter ſacht 
Auf der Steppe in Mondſcheinnacht. 


PR 
7 
* 


Gegen Mitternacht erreichten wir die Station „Mo— 
nument“, wo wir eine zahlreiche Wachtmannſchaft, der Mehr— 
zahl nach Deutſche vorfanden. Hier mußten wir mehrere 
Stunden verweilen, weil die Indianer Tags zuvor ſämmt— 
liche Pferde als gute Beute von dort fortgetrieben hatter 
und die unſrigen der Ruhe bedurften. Bald hatte ich mich, 
in eine warme Wolldecke gehüllt, auf den Boden hinge— 
ſtreckt und vergaß die fremde Umgebung im feſten Schlafe. 


2. Von Monument nad) Denver. 


Hell ſchien die Morgenſonne des 26. April durch die 
Fenſter der Station Monument, als das Lärmen im Hauſe 
durch die Vorbereitungen zur Weiterreiſe mich aus tiefem 
Schlummer weckte. Toilette war bald gemacht und da das 
Frühſtück noch nicht fertig, ſo beeilte ich mich, die Einrich— 
tung und Umgebung dieſer Karavanſerei der Steppe etwas 
näher in Augenſchein zu nehmen. 

Die Stageſtation Monument, 183 engliſche Meilen 
von Salina, und 234 Meilen von Denver entfernt, war 
eine ſogenannte „home station“ d. h. eine ſolche, wo eine 
Familie wohnte und Frauen anſtatt Pferdeknechte Küche und 
Wirthſchaft beſorgten. Im Gegenſatze zu den Troglodyten— 
wohnungen, welche man von Big Creek bis Monument Häuſer 
zu nennen beliebte, konnte dieſes füglich als ein Hotel gelten. 
Das nette Fremdenzimmer, die anſehnlichen Stallungen und 
die ſaubere Umgebung ſtellten der Ordnungsliebe und dem 
Fleiße der deutſchen Bewohner ein ehrenhaftes Zeugniß. 
An dem hohen Ufer eines nicht weit von den Gebäuden 
in felſigem Bette fließenden Baches hatten meine kriegeriſchen 
Landsleute eine Batterie Kanonen aufgepflanzt, um damit 
die Wilden in Furcht zu ſetzen. Dieſe aus der Ferne ge— 
wiß ſehr gefährlich ausſehenden Geſchütze, welche auf Wagen— 
rädern ſtatt auf Lafetten ruhten, waren nichts anderes als 
glatt geſchälte Baumſtämme, mit gemalten Rohrmündungen. 
An Stelle der Kugeln, Bomben und Kartätſchen lagen leere 


38 


Blechbüchſen bergeweis da, und lieferten zugleich den Be— 
weis, daß unſere Wirthe, obgleich dem Mars dienend, doch 
die Paraphernalien des Friedens, in Geſtalt von Auſtern, 
Hummern, Sardinen, eingemachten Früchten, ſauren Gurken 
und ähnlichen Produkten der civiliſirten Yankee-Staaten, 
keineswegs verſchmähten. 

Ein achtzig Fuß hoher, natürlicher Obelisk, welcher ſich 
in der Nähe der Station iſolirt erhob, hatte jener ihren 
Namen gegeben. Außer dieſem merkwürdigen Felspfeiler 
bemerkte ich noch eine Anzahl pittoresker Felsgebilde, die in 
zackigen Formen fremdartig emporragten. Aber der an dieſem 
Morgen beſonders kalt und heftig wehende Wind bewog 
mich, meinen Spaziergang bald einzuſtellen. Im Fremden— 
zimmer war es angenehm warm, und den Paſſagieren kam 
es recht gelegen, nach eingenommenem vortrefflichen Früh— 
ſtück, bis acht Uhr Morgens bis die Pferde ihren Hafer 
verzehrt, dort verweilen zu dürfen. Nur zu bald deutete 
der Kutſcher mit Peitſchengeknall an, daß eingeſpannt ſei, 
und ermahnte uns mit lautem Halloh, einzuſteigen. 

Eine öde Gegend war es, durch welche wir zunächſt 
hinfuhren. Linker Hand floß der ſeichte ſchlammige Smoky 
Hill⸗Fluß, der voll von Sandbänken war, und eine mit 
ſpärlichem Gras und Zwergcactuſſen (prickly pear) be— 
wachſene dürre Fläche dehnte ſich vor uns bis zum Hori— 
zonte aus. Der Wind blies mit ſolcher Kraft, daß die 
Kutſche öfters davon in Gefahr kam, umgeworfen zu werden. 
Büffel waren nirgends zu ſehen und nur wenige Antilopen, 
die eilig entflohen, ſobald ſie die Stage gewahr wurden. 
Hier war es, wo am 9. December 1864 das berüchtigte 
„Blutbad am Sandbache“ (sand ereek massacre) ſtattfand. 
Die Indianer hatten in jenem Jahre durch ſich faſt täglich 
wiederholende haarſträubende Gräuel die Bewohner des 
Territoiums Colorado zur Verzweiflung gebracht, und da 


39 


alle Appellation an die Regierung zu Waſhington dort taube 
Ohren fand, ſo griffen die Grenzer zuletzt ſelbſt zu den 
Waffen. Am Sandbache überfiel der Obriſt Chivington 
mit einigen Compagnieen berittener Freiwilligen aus Denver 
ein Indianerlager, bei welcher Gelegenheit fünfhundert Roth— 
häute — Männer, Frauen und Kinder — erbarmungslos 
maſſacrirt wurden. Es iſt in der That entſetzlich, daß in 
unſeren Tagen noch ein ſo ſchauderhaftes Gemetzel vorkommen 
kann! Aber es würden ſich ohne Zweifel Tauſende von 
Weißen in den Grenzſtaaten und Territorien finden, welche 
an einer Wiederholung eines ſolchen Blutbads mit dem 
größten Vergnügen Theil nehmen möchten. Durch die ſo 
oft von den Indianern an wehrloſen Emigranten und an— 
deren Weißen verübten Grauſamkeiten werden die Leiden— 
ſchaften der Grenzer dermaßen aufgeſtachelt, daß dieſe, wenn 
ſich ihnen eine Gelegenheit zur Rache darbietet, dabei ſchlim— 
mer noch als die Wilden verfahren. 

Gegen Mittag überraſchten uns wunderbare Luftſpie— 
gelungen. Zitternde Büſche und fließende Gewäſſer, mit 
Nebelgeſtalten dazwiſchen, bald deutlicher geformt, bald 
in Dunſt verſchwimmend, kamen und verſchwanden am 
Horizonte und mitunter verfolgten ſich wie eine wilde Jagd 
die Wolken- und Luftgebilde in phantaſtiſchen Figuren. 
Aber die Wirklichkeit verdrängte die Nebelgeſtalten. Plötz— 
lich gewahrten wir lange Reihen von Zelten, ſtattliche hell— 
gelbe Steingebäude, mit flatternden Sternenbannern auf 
den Dächern, einen Artilleriepark, Wagenzüge, Fußſoldaten, 
Reiter und Roſſe; eine anſehnliche Militairſtadt auf einem 
grasreichen Plateau — ein romantiſches Bild! Es war 
dies das Fort Wallis, ein Militairpoſten, welcher hier 
vor zwei Jahren errichtet wurde, um der Ueberlandsroute 
zum Schutze zu dienen. Die im Bau begriffenen, recht an- 
ſehnlichen Garniſonsgebäude wurden aus einem hellgelben 


— nennen 


40 


Magneſia⸗Kreideſtein (dolomit) aufgeführt, der hier in 
mächtigen Ablagerungen vorkommt. Jene Steine ſind ſo 
weich, daß man ſie wie Holz ſägt und abhobelt, härten ſich 
aber bald an der Luft und bilden in dieſer baumleeren Ge— 
gend ein unſchätzbares Baumaterial. Die meiſten von den 
Soldaten im Lager, wo wir kurze Zeit anhielten, gehörten 
zu den „Fußläufern“, mit welchem Namen die Infanterie, 
welche auf den Ebenen ungefähr ſo zweckdienlich iſt, wie 
ein fünftes Rad am Wagen, von den Indianern verächt— 
lich bezeichnet wird. Die Stagekutſcher ſowohl wie die Be— 
wohner in den Stationen hatten wenig Vertrauen zu dem 
Schutze, den das reguläre Militair ihnen gegen die Wilden 
geben ſollte. Als Regel ſchien zu gelten, daß die Soldaten 
allemal an ſolchen Plätzen ſtationirt waren, wo man ſie am 
wenigſten gebrauchte. 

Bald nachdem wir Fort Wallis verlaſſen hatten, kamen 
wir nach der Station Pond Creek, wo ich zum erſten— 
male an der Smoky Hill Route den Verſuch zu einer 
Gartenanlage ſah und auch etliche Kühe, Schweine, Hühner 
und Gänſe bemerkte. Die Bewohner von Pond Creek waren 
ſämmtlich Inhaber werthvoller Bauplätze und angehende 
Millionaire in einer zukünftigen großen Handelsſtadt, welche 
hier nächſtens entſtehen ſollte. Auf nähere Anfrage erfuhr 
ich, daß es im Plane der Pacific-Eiſenbahn-Geſellſchaft 
liege, eine Zweigbahn von Pond Creek nach Santa-Fe 
in Neu-Mexiko zu bauen, deren weſtlicher Ausgangspunkt 
die Stadt San Diego am Stillen Ocean werden ſollte. Un— 
ſere Wirthe ſagten, es wäre lächerlich zu glauben, daß eine 
Eiſenbahn von Omaha nach San Franzisco wegen der 
auf jener Route zu paſſirenden Schneeregionen im Winter 
befahrbar ſein könne, wogegen ſich dem Bau einer Eiſen— 
bahn von Pond Creek City nach San Diego faſt gar keine 
Terrainſchwierigkeiten entgegenſtellten und dieſelbe nirgends 


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die Schneelinie erreichen würde. In Pond Creek hätte ich 
leicht etliche tauſend Dollars in corner lots (Eckbauplätzen) 
anlegen können, und wurde von den Stationsleuten mit 
Bedauern betrachtet, als ich einige leiſe Zweifel über die 
zukünftige Größe ihrer geographiſch ſo vortheilhaft gelegenen 
Steppenſtadt fallen ließ. 

Die Steppe gewann jetzt mehr und mehr das Bild 
einer der großen weſtlichen Prairien. Weithin dehnte ſich 
die mit goldgelben Sternblumen und mit weißen, blauen 
und lila Blümlein beſäete grüne Fläche ringsum bis zum 
Horizonte aus, und nirgends wurde die Ausſicht von Höhen— 
zügen beſchränkt. Der gleichmäßige Wind, welcher als eine 
endloſe Luftwelle über die Steppe rauſchte, ſtählte ſozuſagen 
die Lungen, und die Atmoſphäre war ſo rein, daß der 
Horizont ſich weiter auszudehnen ſchien und der Himmel, ein 
unermeßlich großes Glockengewölbe, auf der wie eine Scheibe 
abgerundeten grünen Erde herrlich daſtand. Zierliche Anti— 
lopen jagten, mit zurückgelegtem Nacken, gleichſam ſchwebend 
über die Ebene, und prallten ab und zu erſchreckt vor der 
Landſtraße zurück, ungeheure Maſſen von Büffeln weideten 
auf den üppigen Grasfluren, und wieder rannten kleinere 
und größere Schaaren von ihnen trotz unſerer Schüſſe im 
ſchweren Galopp mit uns um die Wette, um vor uns die 
Straße zu kreuzen, daß es nur ſo eine Luſt war. 


Die Sonne neigte ſich tief hinab 
Zur weſtlichen Himmelshöh', 
Und zwiſchen uns und dem Horizont 
Lag ſchimmernd die blumige See. 


Ein goldener Teppich erglänzte ſie 
Im ſcheidenden Sonnenſtrahl, b 
Von ſchwarzen Flecken marmorirt, 
Von Buffalos ohne Zahl. 


42 


Die ſchnaubenden Roſſe ſprengten ftolz 
Vor der raſſelnden Kutſche hin; 
Die helle Straße, ein goldgelb Band, 
Schnitt endlos durch's blumige Grün. 


Seht! — plötzlich beleben ſich rechts und links 
Die ſchwarzen Flecken mit Macht; 
In ſchwerem Galopp, in langen Reih'n 
Naht der Büffel donnernde Jagd. 


Im Wettlauf mit dem Sechsgeſpann 
Stets näher ſtürmen ſie wild; 
Die Straße zu kreuzen iſt ihr Ziel. 
Es bebt das weite Gefild. 


Hei! luſtig, ihr Renner, greifet aus! 
Du, Kutſcher, die Peitſche geknallt! 
Seht, näher und näher dem Fahrweg ſchon 
Kommt der Hörner wirbelnder Wald. 


Vor den Roſſen kreuzen die Straße ſie, 
Erſt einer, dann hundert und mehr; 
Dann tauſend und immer noch kommen ſie, 
Wie die Wogen im ſtürmenden Meer 


Die Büchſen knallen vom hohen Bock, 
Zum Schnauben der Renner ertönt 
Das jauchzende Hurrah, die Luft iſt dick 
Vom Staub und der Boden dröhnt. 


Das war eine köſtliche Kutſchenfahrt 
Auf der Steppe im großen Weſt! 
Und denke ich dran, noch bebt mein Herz 
Von berauſchendem Jagdluſt-Feſt. 


* R * 


43 


Nachdem ſich die Sonne mit ſüdlicher Farbenglut in 
den Landocean geſenkt hatte, legte ſich weiche Dämmerung 
auf die große Steppe, und das lang dauernde Zwielicht 
errinnerte mich an die deutſche Heimath. Als wir uns 
der nächſten Station näherten, deren Gebäude ſich ſcharf 
am Himmel abzeichneten, gewahrten wir dort einen uns 
unerklärlichen weißen Hügel. Mehrere hundert Büffel— 
ſkelette waren es, auf engem Raum zuſammengedrängt. 
Im vorjährigen Februar erlagen die armen Thiere dem 
Futtermangel und einer damals hier herrſchenden wahr— 
haft ſibiriſchen Kälte. Die Stationswächter berichteten uns, 
daß ſie die halbverhungerten Thiere nicht mit Schüſſen 
von den Heuſchobern hätten forttreiben können. Als das 
Thermometer in einer bitterkalten Nacht zwei und dreißig 
Grad Fahrenheit unter Zero anzeigte, legten ſich die Büffel 
dort nieder mit kläglichem Gebrüll, bis ſich der Tod ihrer 
erbarmte. Da die Gefahr vor feindlichen Indianern nicht 
mehr groß war, ſo nahm ich bei einbrechender Nacht meinen 
Sitz im Coupé der Stagekutſche wieder ein, um dort ein 
paar Stunden Schlaf zu erhaſchen. Von den Mitgliedern 
der Chicagoer Familie wurde ich als unberufener Eindring— 
ling mit feindlichen Blicken betrachtet. Doch ich ſank, trotz 
Kindergeſchrei und Gezänk bald in einen tiefen Schlummer, 
aus dem erſt der lichte Morgen mich weckte. Beim Oeffnen 
der Augen hatte ich eine ſeltene Ueberraſchung. Mir ge— 
genüber ſaß der pater familias in feſtem, ſonorem Schlafe 
mit weit geöffnetem Munde und offenen verglaſ'ten Augen 
— ein Abbild des ſchönſten Nußknackers, der mich je in 
goldenen Tagen der Jugend auf einem deutſchen Jahrmarkt 
entzückt hat! 

Bald hatte ich meinen alten Platz neben dem Kutſcher 
wieder eingenommen, wo mich ein intereſſantes Schauſpiel 
überraſchte. Vor uns auf der Steppe wimmelte es förm— 


dad 


lich von Büffeln, denen wir uns raſch näherten. Soweit 
das Auge reichte, war die Ebene buchſtäblich ſchwarz von 
ihnen, die ſämmtlich nordwärts eilten. Bald waren wir 
mitten unter der ungeheuren Heerde und fuhren langſam 
hin durch die lebendige Maſſe, die ſich ſcheu vor uns zer— 
theilte. Wir Paſſagiere konnten nicht umhin, manchem 
alten Buffalo, der mit lang aus dem Hals hängender 
Zunge und krummem Buckel vorbeigaloppirte, Eins auf 
dem zottigen Pelz zu brennen. Die naſeweiſen Kälber, 
welche an dem Schießen Gefallen zu finden ſchienen, wur— 
den vorſorglich von ihren Müttern beſchützt, die nichts 
Eiligeres zu thun hatten, als ſich zwiſchen uns und die 
Jungen zu drängen. Von einem Berittenen kann ein 
Büffelkalb leicht eingefangen werden, indem jener nur die 


Alten von dem Kalb fortzujagen braucht, worauf dieſes 


ſeinem Pferde unfehlbar irgendwohin folgen wird. Volle 
zwei Stunden nahm es uns, durch die dichteſten Heer— 
ſchaaren der Büffelarmee hindurchzupaſſiren, und während 
weiterer zwei Stunden kamen wir bei Tauſenden von Seiten— 
ſchwärmern vorbei, die einzeln oder in kleineren und größeren 
Abtheilungen vorüber defilirten, alle gegen Norden eilend, 
als ſäße der Teufel ihnen auf den Ferſen. Es war dies 
die große ſüdliche Büffelheerde, welche auf ihrer jährlichen 
Wanderung nordwärts nach den Weideplätzen am oberen 
Arkanſasfluſſe begriffen war. 

Der Büffel (bison americanus), welcher zur Zeit 
der Entdeckung Amerika's bis zum Atlantiſchen Ocean ſtreifte 
und noch vor dreißig Jahren an den Ufern des unteren 
Miſſouri weidete, hat ſich in neuerer Zeit nach den weſt— 
lichen Ebenen zurückgezogen. Eigenthümlich, gleichſam ein 
Bruchſtück aus der Vorwelt, iſt das Ausſehen dieſer unſeren 
Rindern ſtammverwandten Thiere. Dicht hinter dem ſtäm— 
migen Halſe erhebt ſich ein buſchiger Höcker. Der Vorder— 


45 


bau mit der gewaltigen Bruſt und dem dicken Kopfe, mit 
den beiden etwa einen Fuß langen, kräftigen und leicht ge— 
bogenen Hörnern ſteht in keinem Verhältniß zu dem ſchmäch— 
tigen Hinterbau. Der koloſſale mit ſchwarzbraunem zottigen 
Fell bekleidete Körper und die zierlichen Beine, die kleinen 
feurigen Augen und der plumpe Kopf paſſen gar nicht zu 
einander und das Thier ſcheint eine verfehlte Schöpfung 
zu ſein. Trotz ihrer ſcheinbaren Unbeholfenheit und großen 
Schwere — die ausgewachſenen Thiere wiegen voll fünf— 
zehnhundert Pfund und ſind etwa acht Fuß lang — beſitzen 
die Buffalos eine erſtaunliche Gewandtheit und überholen 
im Dauerlauf ſelbſt das flüchtige Roß, wie ich zu ſehen 
bereits oft die Gelegenheit hatte. Die Verſuche, welche man 
gemacht hat, um jung eingefangene Buffalos zu zähmen 
und als Zugthiere für die Landwirthſchaft nutzbar zu machen, 
ſind nicht von dauerndem Erfolg geweſen, da es unmöglich 
iſt, jene Thiere in einer Umzäunung zu halten. Hohe Zäune 
werden von ihnen gar nicht berückſichtigt. Sie überſpringen 
dieſelben mit Leichtigkeit, und der Schaden, den ſie in den 
Feldern anrichten, überwiegt bei Weitem den Vortheil, den 
ihre rieſige Kraft als nicht ganz unwillige Zugthiere ge— 
währen kann. 

Es giebt gegenwärtig drei von einander getrennt le— 
bende große Büffelfamilien, die ſich gelegentlich in kleinere, 
jede zweitauſend bis dreitauſend Stück zählende Heerden 
theilen. Die erſte von jenen drei Hauptfamilien lebt am 
großen Winipeg-See und am Saskatchewan-Fluſſe, die 
Heimath der zweiten iſt am Yellow-Stone, die der dritten 
am Platte- bis ſüdwärts vom Arkanſas-Fluſſe. Jede dieſer 
drei großen Büffelheerden, die ſich auch durch Wuchs und 
Größe von einander unterſcheiden, macht aber häufige Streif— 
züge nach neuen Weideplätzen von vielen hundert engliſchen 
Meilen aus ihren oben angedeuteten Weideplätzen. Ihr 


46 


Futter beſteht meiſtens in dem kurzen und krauſen ſoge— 
nannten Buffalogras, welches, einerlei ob durch die Sonnen— 
hitze vergilbt oder im Winter halb verfault, außerordentlich 
nahrhaft iſt. Nach ihren Tränkplätzen traben die Thiere 
täglich einmal viele Meilen weit in langer Reihe hinter 
einander her und bilden ſo die tief ausgetretenen Pfade, 
welche die Steppe meiſtens in der Richtung von Süd nach 
Nord und rechtwinklig gegen die von Weſten nach Oſten 
ſtrömenden Flüſſe zahlreich durchkreuzen. Die älteren Stiere 
werden nach wüthenden Kämpfen mit ihren jüngeren Ri— 
valen in der Regel durch dieſe von den Heerden fortge— 
trieben und führen das einſame Leben eines Hageſtolzen, 
welches ihr Temperament verſauert und ſie den Reiſenden 
und Jägern zu gefährlichen Gegnern macht. Für die auf 
den Ebenen wohnenden Indianerſtämme ſind die Büffel 
von unſchätzbarem Werthe, und ohne dieſelben könnten jene 
dort gar nicht exiſtiren. Jedes Stück von dieſen Thieren 
wird von den Indianern nutzbar gemacht. Aus den Sehnen 
verfertigen ſie Bogenſchnüre und Zwirn zum Nähen, aus 
den Hörnern Nadeln und aus den Mähnenhaaren Stricke 
und Laſſos; die vermittelſt Alcali gegerbten Felle werden 
zu Kleidern, Decken und Zeltdächern verarbeitet; das Fleiſch 
wird entweder friſch gegeſſen, oder es dient getrocknet zum 
Winterproviant. Die Büffelpelze (buffalo robes), welche 
die Indianer ſelber nicht benutzen, verkaufen ſie an die 
Pelzhändler. Die amerikaniſche Pelzeompagnie käuft davon 
jährlich an 70,000 Stück. Feingegerbte Felle, die nach in— 
dianiſcher Mode mit rothen Wollſchnüren in phantaſtiſchen 
Figuren durchwirkt ſind, mit Augen daran und elegant be— 
malt und gefüttert, koſten je nach ihrer künſtleriſchen Voll- 
endung auf den Ebenen von acht bis zwanzig, in Chicago 
bis zu vierzig Dollars das Stück. Als Reiſedecken, um 
darauf zu ſchlafen und den Wind abzuhalten, ſind die 


47 


Buffalorobes vorzüglich, nur muß man fie vor dem Regen 
ſchützen, da ſie alsdann ſteif werden und ſchwer wie Blei 
ſind. Die Jagd auf Büffel, von denen jährlich 200,000 
bis 300,000 getödtet werden, wird von den Indianern 
ſyſtematiſch betrieben. Größere Heerden werden nur zu be— 
ſtimmten Jahreszeiten, wenn die Felle am tauglichſten ſind, 
getödtet, ſonſt nur ſo viele davon, um dem Bedarfe zum 
Lebensunterhalte zu genügen. Dagegen dürfen vereinzelt 
umherſtreifende Buffalos zu jeder Zeit getödtet werden. 
Das Nichtachten dieſer Geſetze wird von den Indianern 
mit Todesſtrafe geahnt. Die Weißen, welche ſich in der Regel 
um jene Anordnungen wenig kümmern, müſſen ihre rück— 
ſichtsloſe Jagdluſt nicht ſelten mit dem Tode büßen, indem 
die Indianer, welche durch das nutzloſe Niederſchießen der 
Büffel ihre Exiſtenz bedroht ſehen, dadurch zur äußerſten 
Wuth gereizt werden.“ 

Es war hoher Nachmittag geworden, das Wetter 
frühlingswarm, und luſtig trabten unſere ſechs Braune 


* Während der Jahre 1872 und 1873 wurde die große füdliche 
Buffaloheerde von Jägern, welche die Thiere lediglich der Häute 
halber tödteten, beinahe vernichtet, und viele hunderttauſend von 
Büffelſkeletten bleichen gegenwärtig auf der Steppe. Alleine am 
Republikanfluſſe befanden ſich im Herbſte 1873 an zweitauſend 
ſolcher Jäger. In Folge jener Maſſentödtung iſt der Preis von 
ungegerbten Büffelhäuten, welche früher drei Dollars per Stück 
brachten, auf vierzig Cents bis zu einem Dollar herabgegangen. 
An den Stationen der Kanſas Pacifie-Eiſenbahn ſieht man die 
weißen Knochen jener Thiere bergeweis aufgeſchichtet, um als 
Handelsartikel für allerlei Zwecke nach den öſtlichen Märkten ver— 
ſchifft zu werden. Der Sucht nach Gewinn fielen mit der voran— 
ſchreitenden Civiliſation des weißen Mannes jene harmloſen 
Geſchöpfe zum Opfer. Heute giebt es ſüdlich vom Arkauſasfluſſe 
kaum noch ſo viele Buffalos, um eine in früherer Zeit als klein 
bezeichnete Heerde zu bilden, und auch dieſe werden ihrer baldigen 
Vernichtung nicht entgehen. 


48 


dahin über den glatten Plan. Als wir eine fanft ans 
ſchwellende Bodenhebung hinangefahren waren, lagen ſie 
plötzlich vor uns, die leuchtenden Felſengebirge in unge— 
heurem Bogen, vom fernſten Süden bis weit nach Norden, 
Zacke an Zacke, Grat auf Grat, ſich einander übergipfelnd, 
im blauen Aether — ein wundervolles Panorama! Die 
Erſcheinung kam ſo unerwartet, als wären wir auf einmal 
in eine fremde Welt verſetzt worden. Zwiſchen uns und 
den blendend weißen Hochgebirgen dehnte ſich die weite 
Steppe aus, ein hellgrüner Rieſenteppich, der vor dem 
Silberthrone des Continentes ausgebreitet war. Nicht die 
geringſte Bodenhebung unterbrach die Ausſicht auf den 
gezackten Demantwall der Felſengebirge. Das Gebirgs— 
panorama iſt jedoch auf den Ebenen nur zu dieſer Jahres— 
zeit ein fo ergreifendes. Im Spätſommer entblößen ſich 
in Folge der ſchmelzenden Schneemaſſen die Abhänge und 
Bergkuppen mehr und mehr von ihrem Silberſchmucke; 
denn nur die höchſten Gipfel der Felſengebirge ſind mit 
ewigem Schnee und Eis bedeckt. 

Fern im Süden thürmte ſich der durch das Goldfieber, 
welches ſeinen Namen führt, berühmt gewordene Pike's 
Peak empor, ein von der Hauptkette der Felſengebirge 
gleichſam abgelöſter gewaltiger Gebirgsknoten, deſſen mit 
Eis und Schnee gekrönter Scheitel herrlich im Sonnenlichte 
blinkte. 14,216 Fuß über dem Meeresſpiegel erhebt der 
Koloß ſein Silberhaupt in den Aether und blickt achtzig 
Stunden weit auf die Ebenen hinaus. Die Quellen des 
Arkanſas und des Colorado entſpringen auf ſeinen gold— 
durchflochtenen Abhängen. Genährt von den nie verſiegen— 
den Waſſern ſeiner ſchmelzenden Schneemaſſen brauſen ſie 
thalwärts, jener zum Golfe von Mexiko, dieſer zum Golfe 
von Californien. Weit im Nordweſten lag der 14,050 Fuß 
hohe Long's Peak, deſſen Umriſſe jedoch theilweiſe durch 


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Nebeldünſte verſchleiert waren. Zwiſchen beiden Bergrieſen 
dehnte ſich, mit ungeheurem Bogen den ganzen weſtlichen 
Abſchnitt des Horizontes umgürtend, die gezackte Kette der 
Felſengebirge aus. Es war kaum zu glauben, daß wir 
einhundertundfünfzig engliſche Meilen vom Fuße jener Berg— 
kette entfernt waren; denn erſt zwanzig Stunden weſtlich 
von Denver beginnen die Hochgebirge, — ſo rieſig war 
das Bild, welches ſie vor unſeren Augen entrollten. Die 
Steppe hatte jetzt alles Intereſſe für uns verloren, und 
nur die Zinnen der leuchtenden Hochfeſte des Continents 
feſſelten das Auge. Als der Sonnenball ſich hinter ihre 
Gluth blinkenden crenellirten Mauern geſenkt hatte und 
dann ein violettblauer Schleier das Hochgebirge bedeckte, 
als die Nacht mit ſchwarzem Vorhang daſſelbe längſt ſchon 
unſeren Blicken entzogen hatte, dachte ich immer noch an 
das glänzende Zauberbild, bis die neue Sonne wieder 
die Schneezacken entzündete, und das Prachtpanorama in 
ſchweigender Majeſtät noch größer, noch ſchöner, als Tags 
zuvor uns entgegentrat. 

Fort! — fort! — immer gen Weſten! — Es iſt der letzte 
Tag unſerer Steppenfahrt. — Luſtig trabten die muthigen 
Roſſe über den glatten Plan; immer näher kamen uns 
die mächtigen Hochgebirge. Dunkle Streifen an denſelben, 
in mannigfachen Schattirungen zwiſchen den Schneefeldern 
hinauflaufend deuteten hier tief eingeſchnittene Seitenthäler, 
dort dichte Wälder, ſchwarze Felsmaſſen oder jähe Abhänge 
an. Fünfundzwanzig engliſche Meilen vor Denver begrüßte 
uns die endloſe Reihe der Telegraphenſtähe au der Land— 
ſtraße von Omaha, und bald hatten wir die große Platte— 
Straße erreicht und blickten ungeduldig aus nach der jugend— 
lichen Hauptſtadt der Ebenen, dem raſch emporblühenden 
Denver. Der Wind blies wieder mit vollem Uebermuth, 
als wollte er uns beim Abſchied von der Steppe noch 


4 


50 


einmal recht feine Kraft zeigen. Als wir bei der letzten 
Station vor Denver die Pferde wechſelten, rollte er den 
ſchweren Wagen an zwanzig Schritt zurück, ſo daß der 
Kutſcher hurtig einen Poſtſack hinter ein Rad warf, um 
die Stage zum Stehen zu bringen. 

Weiter jagen wir, den immer höher ſich empor— 
thürmenden Gebirgen entgegen eilend. Schon zeigen ſich 
vereinzelte Häuſer und Heerden von bunten Rindern, 
Landwagen und Reiter; ein leichtes „Buggy“, mit einem 
Pärchen darin, fliegt an uns vorüber. Jetzt begrüßen uns 
anſehnliche Häuſerreihen auf der Ebene, und ehe wir's 
gedacht — am ſiebenten Tage unſerer Stagefahrt, nach 
einer Reiſe von 417 engliſchen Meilen ſeit wir Salina 
verlaſſen — raſſelt unſere Kutſche durch die von ſchmucken 
Häuſern eingefaßten breiten Straßen von Denver und 
hält um die Mittagsſtunde vor dem langen Portico des 
„Planters Hotels“. 


B. 
Von Denver nach Salt Lake City. 


1. Bis zur Waſſerſcheide des Continents. 


Der Tag meiner Ankunft in Denver war ein Sonntag. 
In einem Platze wie dieſer, der, obgleich keine eigentliche 
Minenſtadt, doch das Hauptemporium und den Centralort 
für die reichen Golddiſtricte von Colorado bildet, iſt der 
Sonntag, wie in allen Minenländern, der Haupttag für 
Geſchäft und Vergnügen. Die Stadt war denn auch le— 
bendig von Goldjägern und Abenteurern aller Art, welche 
aus den etwa vierzig engliſche Meilen entfernten im Ge— 
birge liegenden Minenlagern des Amüſements halber her— 
gekommen waren, um hier ihre überflüſſigen Dollars auf 
gentile Weiſe klein zu machen. Prachtvoll ausgeſtattete 
Billardſalons, Hunderte von elegant eingerichteten Trink— 
ſtuben, zahlreiche Tanzlocale, Spielhöllen ꝛc. ꝛc., ein Theater, 
zwei tägliche und zwei Wochenzeitungen ſorgten für die 
Unterhaltung und geiſtige Ausbildung der Bewohner und 
Gäſte dieſes verfeinerten Goldhafens. 

Die Stadt Denver liegt am Zuſammenfluſſe des Platte 
und des Cherokeebachs und zählte zur Zeit meines Beſuchs 
etwa ſechstauſend Einwohner. Dem im Cherokeebach ge— 


4 * 


52 


fundenen Goldſtaub, der aber längſt ausgewaſchen worden 
iſt, hat der Platz ſeine Entſtehung zu verdanken. Später 
hat ſich derſelbe zum Handelsemporium des reichen Terri— 
toriums Colorado emporgeſchwungen, und iſt ſeine Zukunft 
durch feine günſtige geographiſche Lage und namentlich 
dadurch, daß er der weſtliche Endpunkt der Kanſas Pacific— 
Eiſenbahn werden wird, jedenfalls als eine bedeutende ſicher 
geftellt.* Es befanden ſich in Denver große Waarenlager, 
aus denen ſowohl die Minenplätze Colorado's, als die 
Städte Santa Fe und Albuquerque in Neu-Mexiko ſich 
verſorgten, und namentlich die nach dem fernen Weſten 
ziehenden Emigranten, als in der erſten Halteſtation jen— 
ſeits der Ebenen, Vorräthe aller Art für die Weitereiſe 
einkauften. Eine Zweigmünze der Vereinigten Staaten 
verwandelte hier den aus den Minen herbeiſtrömenden 
Goldgewinn in blanke Zwanzigdollargoldſtücke. Bis zum 
Juli 1864 prägte die Zweigmünze in Denver etwa zehn 
Millionen Dollars. 

Zur Zeit meines Beſuchs litt Denver an einer Geld— 
und Geſchäftskriſis, wie dieſelbe ſich in allen neuen Ländern 
periodiſch wiederholt, und die hier in Folge der Indianer— 
unruhen durch das Stocken des Verkehrs mit dem Oſten 


* Diejes für die zukünftige Größe Denvers geſtellte glänzende 
Prognostikon hat ſich nur als theilweiſe richtig erwieſen. Bis zum 
Jahre 1873 war die Stadt Denver in einem ſo raſchen Aufblühen 
begriffen, daß man den Ort als ein zweites San Franzisko zu be— 
zeichnen pflegte. Seitdem geräth die „Hauptſtadt der Ebenen“, 
welche die Handelsconcurrenz mit St. Louis und anderen öſtlichen 
Städten nicht auszuhalten vermag, in raſchen Verfall, und Handel 
und Wandel liegen jetzt (beim Jahresſchluß 1874) in ihr kläglich 
danieder. Ihre Hoffnung auf die Wiederkehr der beſſeren Zeit 
bauen die Denveraner auf den Bau einer Eiſenbahn, welche den 
Seehafen Galveſton in Texas mit ihrer Stadt in directe Ver— 
bindung bringen ſoll. 


53 


bedenklich gefteigert wurde. Da der Platz feinen ganzen 
Bedarf an Kaufmannsgütern vom Miſſouri her bezog, ſo 
nahm eine Unterbrechung des Verkehrs mit dem Oſten hier 
die Form einer allgemeinen Calamität an. Statt wie 
ſonſt täglich drei bis vier mit Paſſagieren gefüllte Stage— 
kutſchen und lange Züge von Emigranten und Frachtfuhren 
vom Oſten in ihrer Stadt eintreffen zu ſehen, blickten die 
ergrimmten Bewohner Denvers jetzt hinaus auf die ganz 
verödete Steppe. Der Haß gegen unſere rothen Brüder 
war hier deshalb ein wahrhaft ſataniſcher und man ver— 
langte allgemein einen Vernichtungskrieg gegen die Roth— 
häute. Die Territorial-Regierung bot ſogar eine Prämie 
von zwanzig Dollars Gold pro Scalp, mit den Ohren 
dabei. Dieſer barbariſche Zuſatz war deshalb gemacht 
worden, weil die Scalpjäger ſonſt mit Leichtigkeit drei oder 
gar vier Scalpe aus der Kopfhaut eines getödteten In— 
dianers hätten herausſchneiden können — jeder Indianer 
aber bekanntlich nur zwei Ohren hat. 

Was mich in Denver recht unangenehm berührte, war 
der dort fortwährend außerordentlich heftig wehende Wind, 
welcher um die Straßenecken pfiff, daß man ſtets Obacht 
geben mußte ſeinen Hut nicht zu verlieren. Außer daß er 
die Straßen hübſch rein gefegt hielt, war an dem Denver— 
Wind wenig zu loben, obſchon er der Geſundheit ſehr zu— 
träglich ſein ſoll. Man gab mir jedoch die Verſicherung, 
daß es am Tage meines Beſuches durchaus nicht ſtark wehe; 
es ſäuſele nur ein ſanfter Zephyr! An wirklich windigen 
Tagen pflegten die Fenſterſcheiben von dem dagegen— 
gepeitſchten feinen Sand wie von einem Diamanten zer— 
kratzt zu werden. Daß die Vegetation in und um Denver 
bei einer ſo windigen Atmoſphäre eine äußerſt kümmerliche 
war, nahm mich nicht Wunder. Gärten gab es hier nur 
wenige, und die Bäume hätte ich leicht zählen können. 


54 


Das Klima iſt in dieſem Platze, der 5317 Fuß über dem 
Meere liegt, ein ſehr rauhes, und in den Gebirgen ſind 
die Winter außerordentlich ſtrenge. Oft fällt das Thermo— 
meter daſelbſt bis zu dreißig und mehr Grad Fahrenheit 
unter Zero, und heftige Schneeſtürme giebt es dort in 
jedem Monat im Jahre. Am Nachmittage meines Auf— 
enthaltes in Denver wüthete ein ſolches Unwetter im 
Hochgebirge. Die ſchwarzen Wolkenwogen, welche an der 
Seite des Gebirgs hinrollten und ab und zu einen oder 
mehrere von den Silbergipfeln aus ihrem dunklen Gewim— 
mel hervortreten ließen, gaben ein grandioſes Bild. In 
jener Gegend lag die großartige Gebirgsſcenerie, welche 
durch unſeres genialen Landsmanns Bierſtadt herrliches 
Gemälde „Ein Schneeſturm in den Felſengebirgen“ welt— 
berühmt geworden iſt. Wenn erſt das eiſerne Roß bis zu 
jener hohen Burg des nordamerikaniſchen Continentes hin— 
jagt, werden gewiß Tauſende von Touriſten in jedem Som— 
mer dieſe herrliche Gebirgsgegend, mit Recht die amerika— 
niſche Schweiz genannt, beſuchen. — 

Bleich und düſter brach der Morgen des 29. April an, 
an welchem Tage ich meine Weiterreiſe von Denver antreten 
ſollte. Ein Blick aus dem Fenſter meines Schlafgemachs im 
wohnlichen „Planter's Hotel“, wo ich zum erſten Mal ſeit 
ich Leavenworth verlaſſen wieder in einem Bett geſchlafen, 
zeigte mir die Luft draußen lebendig von großen Schnee— 
flocken. Vom Gebirge war gar nichts zu ſehen, Fußgänger, 
bis über die Ohren in Mäntel gehüllt, eilten ſchnell vorüber 
und ich erwartete jeden Augenblick, das Klingeln eines 
Schlittens zu hören. Es war ein Wintertag, wie man 
ihn im Januar ſich nicht beſſer hätte wünſchen können! 

Bald hatten wir Paſſagiere, welche die Fahrt über 
die Felſengebirge machen ſollten, uns im Speiſeſaal des 
Hotels verſammelt und nahmen dort in wenig reiſeluſtiger 


55 


Stimmung unſeren Morgenimbiß ein, ab und zu mit ſchwer— 
müthigen Blicken das immer heftiger werdende Schnee— 
geſtöber durch die Fenſter betrachtend. Die Chicagoer 
Familie, welche während der Reiſe über die Steppe meine 
philoſophiſche Langmuth ſo ſehr auf die Probe geſtellt hatte, 
war zu meiner Beruhigung in Denver zurückgeblieben, 
und von meinen alten Reiſegefährten bemerkte ich nur die 
Mormonendame mit ihrem ſanften blauäugigen Knaben, der 
von dem Agenten der Stage-Compagnie beim Empfange 
des Paſſegeldes als viertel Größe taxirt worden war. 
Fünf männliche Paſſagiere, welche nach Salt Lake City und 
Montana reiſen wollten, bildeten meine neuen Begleiter. 
Dieſelben hatten ſich mit Büffelpelzen, Wollendecken, 
ſchottiſchen Umſchlagetüchern, Federkiſſen, Zephyrs, Ohren— 
wärmern, Pelzmützen, Muffs und Ueberſchuhen verſehen, 
als ob ſie eine Reiſe nach Alaska unternehmen wollten. 
Einer von ihnen, ein reicher ariſtokratiſcher Irländer, wie es 
ſchien ein ſeelenguter Mann, bediente ſich bei jeder paſſen— 
den und unpaſſenden Gelegenheit des Wortes wonderful. 
Das Schneegeſtöber war „wonderful!“ — der blauäugige 
Mormonenſohn, die Frau Wirthin mit den verſchloſſenen 
Augen, der fette Bärenſchinken, die ſteinhart geſottenen Eier 
waren „wonderful!“ — Ein zweiter Paſſagier war eine 
von jenen unglücklichen Naturen, die Alles ſchlecht finden, 
Jedermann haſſen und ſich und ihren Nebenmenſchen das 
Leben verbittern. Der Kaffee war ihm zu heiß, die Hühner— 
augen plagten ihn ſchrecklich, der Speiſeſaal war zu dunkel, 
der Kellner zu dumm, die Zeit zum Abfahren zu früh, und 
den ſanften Mormonenknaben ſah er, als derſelbe ihm 
einmal zufällig zu nahe kam, mit orthodorchriftlicher Ent— 
rüſtung an. Dieſer Miſanthrop, ein getaufter Jude, war 
ein Yankee aus Boſton und nannte ſich Miſter Eiſak 
(Iſaac). Er ſchien der Mentor des Herrn Wonderful 


56 


zu ſein, von deſſen fabelhaftem Reichthum und frommer 
Geſinnung er der Tiſchgeſellſchaft vor ihm laut erzählte. 
Herr Wonderful reiſ'te nach Montana, um dort von Miſter 
Eiſak für den Spottpreis von 60,000 Dollars eine Gold— 
mine zu kaufen, welche, wie dieſer verſicherte, unter Brüdern 
ihre zwei Millionen werth ſei. Die drei anderen mit— 
reiſenden Herren waren Spießbürger aus Denver, welche 
ſich in Utah und Montana ein Bischen umſehen wollten. 

Das Peitſchenknallen und das Hallohrufen auf der 
Straße deutete an, daß die Stage vorgefahren ſei, und ich 
eilte hinaus, mir das Gefährt anzuſehen, welches uns über 
die Felſengebirge befördern ſollte. Es war ein mittel— 
großer, mit einem Leinentuch überdachter Wagen, anſtatt 
der eleganten Kutſche, welche uns über die Ebenen bis 
nach Denver gebracht hatte. Beim Kutſcher war nur ein 
extra Außenſitz, im Wagen kaum Raum für ſechs Paſſagiere 
vorhanden. Da meine neuen fünf Neiſegefährten ſich alle 
vor mir in Denver hatten einſchreiben laſſen und der Mor— 
monendame mit ihrem Knaben ſelbſtverſtändlich der beſte 
Platz im Wagen reſervirt worden war, ſo mußte ich mit 
dem Außenſitz vorlieb nehmen; beim Schneegeſtöber und 
vorausſichtlich kalten Wetter in den Hochgebirgen während 
einer ſechshundert Meilen langen Reiſe, die ununterbrochen 
Tag und Nacht dauern ſollte, gewiß ein wenig beneidens— 
werther Platz! Das Gefährt, welches beim reiſenden 
Publikum den unpoetiſchen Namen „Schmutzwagen“ (mud 
wagon) führte, wurde von unſerem ariſtokratiſchen Irländer 
ſofort mit „wonderful“ bezeichnet. 

Wir ſollten von nun an unter dem Banner der 
Mammuth-Expreß-Geſellſchaft von Wells, Fargo und 
Comp. reiſen, welche ſich im Beſitze der Haupt-Stage— 
linien und Poſtrouten im Veſten der Vereinigten Staaten, 
zwiſchen dem Miſſouri und dem Stillen Ocean, befindet. 


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Alle Verkehrslinien zuſammen gerechnet, auf denen Wells, 
Fargo und Comp. Stagekutſchen fahren, betragen circa 
3500 engliſche Meilen. Ueber 2000 Pferde, 500 Zug— 
ochſen und Mauleſel und eine ganze Brigade von Kutſchern, 
Stallknechten, Stationswächtern, Fuhrleuten und Agenten, 
von bewaffneten Schutzwachen auf den Stages, welche die 
edlen Metalle befördern, von Zahlmeiſtern ꝛc. ſtehen im 
Dienſte der Compagnie. Auf allen ihren Linien ſind jede 
zehn bis zwölf engliſche Meilen Stationsgebäude und 
Stallungen erbaut, auf Tauſenden von Wegſtunden die 
einzigen Zeichen der Civiliſation in den Wildniſſen des 
Continents.« Von der Geſellſchaft wird auf allen ihren 
Routen nebſt ihrer eigenen Brief- und Packetpoſt, gegen 
hohe Vergütung die Poſt der Vereinigten Staaten befördert. 
Die Kaufleute und Miner in den Staaten und Territorien 
an der pacifiſchen Küſte ziehen meiſtens die Briefcouverte 
von Wells, Fargo und Comp., welche à 5 Cents koſten, 
denen der Vereinigten Staaten zu 3 Cents vor, weil jene 
dem Adreſſaten ſchnell und direct ins Haus befördert werden. 
Das Hauptbureau von Wells, Fargo und Comp. in San 
Franzisco iſt ein großartiges Etabliſſement, in welchem Alles 
mit militäriſcher Genauigkeit angenommen und abgeliefert 
wird. Ein etwaiger Verluſt von Werthſachen, wenn z. B. 
die Stages, wie oft vorkommt, ihrer Metallſchätze beraubt 
werden, wird dem Eigenthümer ohne Widerrede ſofort ver— 
gütet und ſind Fälle vorgekommen, wo die Geſellſchaft 
10,000 und mehr Dollars auf ſolche Weiſe auf einmal 
ausgezahlt hat. Die in einem Jahre zurückgezahlten Ver— 


* Seit der Eröffnung der Pacificbahn fahren täglich mit Werth— 
ſachen und Eilgütern beladene geſchloſſene Waggons, die Wells, 
Fargo und Comp. excluſiv gehören, von New⸗York bis nach San 
Franzisco. Wo keine Eiſenbahnlinien ſind, fahren nach wie vor 
Stagekutſchen im Dienſte jener Geſellſchaſt. 


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lüſte haben ſich ſchon auf 100,000 Dollars belaufen. Da— 
gegen berechnen Wells, Fargo und Comp. ſelbſtverſtändlich 
einen hohen Procentſatz (aus entfernten Minenlagern zwei 
bis vier Procent vom Werthe) für die Beförderung der 
edlen Metalle von den Minen nach San Franzisco und 
dem Oſten, welche faſt ganz in ihren Händen iſt. In je— 
dem nur einigermaßen bedeutenden Orte, von Arizona bis 
nach Montana und Britiſh Columbia, vom Stillen Meer 
bis nach den Felſengebirgen, hat dieſe Geſellſchaft ein 
Expreßbureau errichtet. In jedem Minendiſtricte iſt fie 
Bankier, Poſtbote und Generalagent ſowohl der Kaufleute 
als Miner. Eine Kneipe, eine Schmiede und eine Wells, 
Fargo und Comp. „Office“ find die erſten Grundbeſtand— 
theile jeder neuen Minenſtadt. 

Für die Beförderung und die Verpflegung der Paſſa— 
giere iſt auf den Stagerouten, welche jener Geſellſchaft 
gehören, ſo gut geſorgt, wie es ſich in ſolchen wilden und 
entlegenen Gegenden vernünftiger Weiſe erwarten läßt. 
Eine Ausnahme bildete jedoch die erſt kürzlich durch Wells, 
Fargo und Comp. käuflich erworbene Linie von Nebraska 
nach Salt Lake City, wo Alles in größter Unordnung und 
die Verpflegung geradezu abſcheulich ſein ſollte. Da ich 
in Denver genaue Erkundigung über die Beſchaffenheit der 
Naturalverpflegung eingezogen, womit die Reiſenden zwiſchen 
dort und der Marmonenſtadt am großen Salzſee regalirt 
wurden, jo hatte ich mich mit „extras“ und „et caèteras“ 
wohl verſorgt und ſchob zur Freude des Kutſchers, neben 
dem ich Platz nahm, einen anſehnlichen Proviantkaſten unter 
den Bock. Der Inhalt deſſelben beſtand, wie ich hier beiläufig 
erwähnen will, aus zehn Dutzend hart geſottenen Eiern und 
zwei gebratenen, mit Roſinen ausgeſtopften Truthühnern, 
nebſt entſprechendem Vorrath von Knackwürſten, getrocknetem 
Büffelfleiſch, Limburger Käſe, ſauren Gurken, Sardinen und 


59 


Auſtern in Blechbüchſen, Aepfeln, Feigen und Mandeln, 
Eingemachtem, Kringeln, Biscuit, Brot, Kuchen und Pfeffer— 
nüſſen und ſechs Flaſchen von dem beſten Whisky, den ich 
in Denver hatte auftreiben können. Der keines Neides 
fähige Irländer, welcher meinen Proviantkaſten wißbegierig 
muſterte, bezeichnete denſelben beifällig als „wonderful“. 
Um ſieben Uhr Morgens waren wir reiſefertig, und 
mit einem Fluche auf das Wetter hieb unſer Kutſcher auf 
das Viergeſpann ein. Durch die winterlichen Straßen von 
Denver jagten wir, paſſirten den Cherokeebach auf einer 
langen Holzbrücke und fuhren im dichten Schneegeſtöber 
direct nach Norden. Die Stage-Route, welcher weiter 
nördlich das Nivellement der Unionpacific-Eiſenbahn in uns 
gefährer Richtung folgte, lief von Denver aus nach Norden 
bis zur großen Laramie-Ebene , dann in einem Bogen 
nach Nordweſt und überſchritt die Felſengebirge im Bridger's 
Paß, von wo ſie in direct weſtlicher Richtung, nach dem 
Becken des großen Salzſees führte. Die bedeutend kürzere 
Linie, durch den 11,400 Fuß hohen „Berthoud-Paß“ direct 
nach Weſten, war, wegen der daſelbſt faſt unpaſſirbaren, 
entſetzlich felſigen Straßen, nach kurzem Verſuche im vorigen 
Jahre von der Stage-Compagnie wieder aufgegeben worden. 
Unſere erſte Tagereiſe führte uns durch das beſte Acker— 
bauland und die blühendſten Anſiedelungen des Territoriums 
Colorado. Die Fahrt auf einer vortrefflichen Landſtraße 
wäre eine ſehr angenehme geweſen, hätte nicht das dichte 
Schneegeſtöber alle Fernſicht verſchloſſen und die Hoch— 
gebirge ganz unſerem Blick entzogen. Die Niederlaſſung 
St. Vranes, 33 englifche Meilen von Denver, würde eine 


* Auf dieſer Linie iſt die „Cheyenne- und Denver-Eiſenbahn“, 
als Anſchluß an die Unionpacifiebahn bei der zur Zeit meiner Reiſe 
noch nicht exiſtirenden Stadt Cheyenne, erbaut worden, 


60 


Zierde für eins der geſegneten Counties im Miſſiſſippithale 
ſein. Eine Luſt war es, das herrliche grüne Heu an den 
Stationen zu ſehen, welches auf den Prärieen geſchnitten 
wird und ein außerordentlich nahrhaftes Futter für das 
Vieh giebt. Mehrere kleine Flüſſe paſſirten wir, reißende 
Berggewäſſer, deren klare Fluth quer über die Landſtraße 
lief. Die bedeutendſten derſelben, der große und der kleine 
Thompſon, verſperren, da ſie nicht überbrückt ſind, nach 
ſchnellem Schmelzen des Schnees im Gebirge oft tagelang 
die Paſſage. Beide Flüſſe waren ziemlich geſchwollen, 
ſo daß beim Hindurchfahren uns das Waſſer bis in's 
Wagenbett trat. 

Am Nachmittage klärte ſich das Wetter auf. Nach 
rechts hin rollte der Schneeſturm ſeine grauen Wolken 
über die Ebene, linker Hand zeigten ſich in der Nähe, 
in pittoresken Formen, aber faſt ganz von Baumwuchs 
entblößt, die felſigen Schwarzen Hügel. Dieſer berg— 
ähnliche Höhenzug erſtreckt ſich in nördlicher und nordweſt— 
licher Richtung, mit den Felſengebirgen bis zu den britiſchen 
Beſitzungen parallel laufend. Weiter nördlich iſt derſelbe 
mit Kiefern dicht beſtanden, welche von fern ſchwarz aus— 
ſehen; daher ſein Name. Der mächtige Stamm der Sioux 
Indianer pflegt dort ſeine Winterquartiere aufzuſchlagen, 
weil zahlreiche Büffelheerden in den geſchützten Thälern 
jener Bergkette vor dem rauhen Wetter alsdann eine Zu— 
flucht ſuchen und in bequemer Nähe einen unerſchöpflichen 
Vorrath von Fleiſch zum Lebensunterhalte gewähren. 
Gegen Abend wurde das Wetter wunderſchön, und beim 
Sonnenuntergange glühte rechter Hand die weite Ebene 
wie vergoldet. Es war dies ein prächtiges Schauſpiel 
und ganz einzig in ſeiner Art, das ſeine Urſache in dem 
Reflex der Sonnenſtrahlen hatte, welche ſchräge auf die 
dort meilenweit abgebrannte Grasfläche fielen. 


61 


Bei eintretender Dunkelheit erreichten wir, 67 englische 
Meilen von der Stadt Denver, die Stage-Station „Cache 
la Poudre“, neuerdings „La Porte“ getauft. Der frühere 
Name wurde dem Orte nach einigen franzöſiſchen Bären— 
jägern gegeben, welche, von Indianern hart bedrängt, einen 
bedeutenden Pulvervorrath in einer nahe gelegenen Höhle 
vergraben hatten. Ein klarer Bergſtrom, reich an köſtlichen 
Forellen, welcher dicht bei der Station vorbeirauſchte, 
wohlgepflegte grüne Felder und Gärten und die ſauberen 
Gebäulichkeiten gaben ein freundliches Bild. La Porte 
war eine Oaſe unter den Stations-„Hotels“, welche wir 
bis jetzt geſehen hatten, und die immer ſchlechter wurden, 
je weiter wir kamen. Beim Anblick der ſauberen, mit 
duftenden Speiſen reich beſtellten Tafel und insbeſondere 
der bildſchönen jungen Wirthin, die bei Tiſch aufwartete, 
vergaß ich meinen Proviantkaſten. Nie hat mir ein Abend— 
brot in einem Hotel erſter Claſſe beſſer gemundet, als die— 
ſes in der beſcheidenen Stage-Station an der Grenze des 
entlegenen Territoriums Colorado. Zum Verwundern war 
es, wie unſere jugendliche Wirthin die Grazie einer feinen 
Cultur an einem Orte bewahrt hatte, wo rohe Fuhrknechte, 
Abenteurer und Grenzler die Hauptbeſtandtheile der männ— 
lichen Nomadenbevölkerung bildeten, die mit nichts weniger 
als polirten Sitten jene Station frequentirte. 

Wir befanden uns wieder auf der Landſtraße, noch 
immer nordwärts kutſchirend. Langſam verging die Nacht, 
während welcher ich mich mit Gewalt wach hielt, um nicht 
auf dem rauhen Wege vom hohen Kutſcherbock herunter 
zu fallen. Dabei wehte ein eiſig kalter Wind, der durch 
meine ſchwere Wolldecke wie durch dünnes Tuch hindurch— 
blies. Als wir uns dem Felsthale von Virginia Dale 
näherten, graute endlich der Morgen. Hier rieth der Kut— 
ſcher allen Paſſagieren auszuſteigen und zu Fuß nach der 


62 


nächſten Station durch die etwa zwei Meilen lange Schlucht 
zu wandern, um die romantiſche Scenerie, beſſer als vom 
Wagen aus geſchehen konnte, zu genießen. Mit Ausnahme 
des Miſter Eiſak, der einen weinerlichen Methodiſten— 
Morgengeſang in der Kutſche angeſtimmt hatte, befanden 
wir männlichen Paſſagiere uns bald alle zu Fuß auf der 
Landſtraße und wanderten rüſtig durch das enge Thal, wo 
ſich die mit rieſigen Granitblöcken überſäeten ſchneegekrönten 
Bergabhänge und nackte Felswände zu beiden Seiten mehrere 
hundert Fuß hoch emporthürmten. Mein Gefährte, der 
liebenswürdige Irländer, mit dem ich beſondere Freundſchaft 
geſchloſſen und öfters Reiſeerinnerungen aus der Schweiz, 
die er vor Kurzem beſucht hatte, austauſchte, rief vor Eeſtaſe 
einmal über das andere „wonderful“ aus und fand dieſen 
Engpaß ſo großartig, wie die Via Mala. Es hält ſchwer, 
einen richtigen Vergleich zwiſchen ſolchen weit von einander 
getrennt liegenden Naturſcenerieen anzuſtellen, da das Neue 
auch den unbefangenen Beobachter ſtets vorwiegend feſſelt. 
Großartige Berg- und Felspartieen find immer anziehend, 
und dieſes Felsthal war gewiß ſehenswerth; aber der nach 
dem Splügen führenden weltberühmten Schweizerſtraße war 
daſſelbe an grandioſer Schönheit, trotz aller Bewunderungs— 
rufe meines Freundes Wonderful, nicht ebenbürtig. 

In der Station Virginia Dale, wo wir, nach einer 
Reiſe von hundert engliſchen Meilen ſeit wir Denver ver— 
laſſen hatten, gegen fünf Uhr Morgens anlangten, erfreute 
uns in der Wirthsſtube ein rieſiges Kaminfeuer, welches, 
mit Hülfe einer Taſſe heißen Moccas, unſer fröſtelndes 
Blut bald wieder warm pulſiren machte. Zur Sommerszeit 
mußte dies ein reizender Aufenthaltsort ſein, obgleich von 
Bequemlichkeit daſelbſt nicht die Rede war. Die keineswegs 
palaſtartigen Gebäulichkeiten — ein beſcheidenes Wohnhaus, 
nebſt Pferdeſtall und Schmiede — boten keinen Comfort, 


63 


und die Mahlzeiten vermöchte ſelbſt ein im Küchenzettel wenig 
wähleriſcher Hinterwäldler nicht als luculliſch zu bezeichnen. 
Aber die romantiſche Umgebung gab hinreichenden Erſatz 
dafür. Im felſigen Bette rauſchte ein klarer Bergſtrom 
durch einen kleinen Thalkeſſel, in den ſich die Felsſchlucht, 
durch welche wir gekommen waren, öffnete. Die zu dieſer 
Jahreszeit ſchneegekrönten Bergkuppen, gewaltige Fels— 
abhänge, an denen hin und wieder ſchlanke Fichten Fuß 
gefaßt hatten, und im Thalgrund ein reizendes, von waldi— 
gen Höhen umkränztes hellgrünes Stück Wieſenland gaben 
ein ſchweizeriſches Bild. Am jenſeitigen Rande der Wieſe 
ſtanden maleriſch die weißen Zelte eines Truppendetachements, 
das zum Schutze der Station gegen die Indianer daſelbſt 
ein Lager bezogen hatte. Zur Zeit meines Beſuchs wohnten 
in Virginia Dale, außer den wenigen Soldaten im nahen 
Zeltlager, nur drei Männer, deren Geſchäft ſich darauf 
beſchränkte, die Pferde zu füttern und in der Schmiede 
etwaige Reparaturen an den Stagekutſchen zu machen. 
Eine einzelne Frau bediente die Gäſte und hatte das 
wenig beneidenswerthe Amt, täglich für zwei Stageladungen 
hungriger und beſtaubter Reiſenden die Mahlzeiten zu kochen. 
Unſere frühere liebenswürdige ſchöne Wirthin in La Porte 
hatte bis vor Kurzem hier gewohnt und Virginia Dale 
den Reiſenden zum Paradieſe auf der Ueberland-Stageroute 
gemacht. Von der vierſchrötigen iriſchen Köchin, welche hier 
gegenwärtig als Hebe bei Tiſch aufwartete, war jedoch 
nicht zu behaupten, daß fie einem Praxiteles ein paſſendes 
Modell für eine Venus Amathuſia gegeben hätte. 

Nur ungern nahmen wir Abſchied von dem romantiſchen 
Virginia Dale. Ein ueues Viergeſpann war eingeſchirrt, 
und der Kutſcher, der in ſchlechter Laune war, hätte uns 
juſt ſo lieb zurückgelaſſen, als fünf Minuten länger auf 
uns zu warten. Unſer Plan, den Soldaten in ihrem Zelt— 


— . 0 00¶9tg 


64 


lager einen freundſchaftlichen Morgenbeſuch abzuſtatten, 
wurde durch die im kategoriſchen Imperativ geſtellte Auf— 
forderung des Roſſelenkers, ſofort einzuſteigen, vereitelt. 
Ehe noch die Inſaſſen des „Schmutzwagens“ gehörig Platz 
genommen und ſich in ihre Büffelpelze, Wollendecken, ſchot— 
tiſchen Umſchlagetücher, Zephyrs, Muffs ꝛc. gehüllt hatten, 
jagten wir bereits weiter über eine felſige Landſtraße, auf 
welcher ſich die Stage in halsbrechenden Sätzen erging. 
Die Paſſagiere wurden erbärmlich durcheinander geworfen. 
Zum erſten Male hörte ich den frommen Miſter Eiſak 
gottesläſterliche Flüche äußern, während mein Freund, der 
Irländer, in den Schoß der ihm gegenüberſitzenden Mor— 
monendame geſchleudert wurde und ſich wiederholt mit dem 
Ausruf „wonderful“ entſchuldigte, — eine urkomiſche Scene, 
welche ſogar die ernſten Spießbürger aus Denver in ein 
homeriſches Gelächter ausbrechen ließ. 

Nach einer Fahrt von dreizehn engliſchen Meilen, die 
uns eine öde Gebirgsgegend, voll von gigantiſchem Fels— 
geröll, führte, debouchirten wir in weſtlicher Richtung auf 
die „große Laramie Ebene“, ein mehr als 7000 Fuß über 
dem Meere erhabenes ausgedehntes Plateau, über welches 
der eiſig-kalte Wind mit doppelter Stärke hinpfiff. Der— 
ſelbe bläſt hier manchmal mit ſolcher Heftigkeit, daß nicht 
nur Zelte, ſondern ſogar Wagen mit dem leinenen Bezug 
davon umgeworfen werden. 

Linker Hand hatten wir einen prächtigen Blick auf die 
mit dichten Waldungen bedeckte ſchueegekrönte Centralgruppe 
der Felſeugebirge, über welche ſich der gewaltige Long's 
Peak mit ſeinem 14,050 Fuß hohen eiſigen Scheitel in 
den blauen Aether emporthürmte. Die helle Morgenſonne 
zeigte die Gebirge in blendender Beleuchtung; die Bäume 
ſahen ſo friſch aus, als ob ſie eben den Schlaf abgeſchüttelt 
hätten. Auf der Hochebene ſtanden hier und dort ſeltſame 


65 


Felsgebilde wie fremde Geſtalten da, die an das Felſen— 
Meublement eines Schweizergletſchers im Hochſommer er— 
innerten. Die geologiſche Formation des Continents änderte 
ſich hier, und weißer oder röthlicher Sandſtein und Kies— 
conglomerat traten an die Stelle der Kreidelager. Die 
außerordentlich heftigen, mit feinem Sand geſchwängerten 
Winde, welche von Zeit zu Zeit über das Hochland ſtreichen, 
thun im Bunde mit der ſibiriſchen Kälte des Winters und 
den Regengüſſen der Herbſt- und Frühlingsmonate das 
Mögliche, um jene leicht zerbröckelnden Geſteinmaſſen in 
groteske Formen umzubilden. 

Auf glattem Wege fuhren wir den ganzen Tag hin⸗ 
durch über die Laramie Ebene. Gegen Mittag waren wir 
gezwungen, bei einer Station während zwei Stunden zu 
verweilen, da die Mauleſel, welche uns weiter bringen 
ſollten, es ſich in den Kopf geſetzt, einen längeren Spazier— 
gang zu machen. Dieſer unerwartete Aufenthalt kam mir 
jedoch ſehr gelegen, indem ich dadurch Zeit zu einer Sieſta 
auf einem duftenden Heuſchober gewann, mein erſtes Schläf— 
chen in Dakota, deſſen Grenze wir ſoeben überſchritten 
hatten. Der Mangel an Schlaf iſt von allen Strapazen 
auf einer ſolchen Reiſe das Schlimmſte. Man muß den— 
ſelben förmlich ſtehlen, und oft war ich froh, wenn es mir 
gelang, auf dem Kultſcherbock in ſitzender Stellung ein 
halbes Stündchen nicken zu können. Unter ſolchen Ver— 
hältniſſen kam mir der Heuſchober wie das weichſte Daunen— 
bett vor! Nur zu früh nach unſerem Wunſche waren die 
Eſel wieder eingefangen, und mit ſchwerem Herzen verließ 
ich mein bequemes Lager, um auf's Neue meinen Jammer— 
ſitz beim Kutſcher wieder einzunehmen. 

Nach und nach verengte ſich jetzt die Ebene, welche 
zu beiden Seiten von niedrigen Höhenzügen begrenzt war. 
Rechter Hand ſtand in weiter Ferne der ſchöne bläuliche 


5 


66 


Eiskegel des Laramie Peak, der die Hochebene um 6000 Fuß 
überragte. Der Boden war hier mit kleinen Feuerſteinen, 
bunten Kieſeln und Quarzſtücken gleichſam überſäet, und 
hin und wieder bemerkte ich Striche von Alcaliſalzen, welche 
den ſpärlichen Graswuchs wie friſchgefallener Schnee be— 
deckten. Die Stationshäuſer, bei denen wir vorſprachen, 
ſahen alle arg verfallen aus, und an der Mahlzeit mußte, 
nach den ſauren Mienen meiner Miteſſenden zu urtheilen, 
wenig zu loben ſein. Mein unerſchöpflicher Proviantkaſten, 
zu dem ich meinen Freund Wonderful und die Mormonen— 
dame mit ihrem Knaben wiederholt einlud, überhob mich 
jedoch der Gaſtmähler, welche die Stage-Compagnie den 
Reiſenden auftiſchte. Der Nektar in meinen Flaſchen hatte 
mir den Kutſcher zum Buſenfreund gemacht, ſo daß dieſer 
mir willig die Hälfte von ſeiner warmen Büffeldecke abtrat. 
Als es gegen Abend immer kälter wurde, war dies ein 
wahrer Freundſchaftsdienſt! 

Um zehn Uhr in der Nacht langten wir bei der Station 
Coopers Creek an. Hier begannen die eigentlichen 
Strapazen der Ueberlandreiſe, welche mir alle vorhergehen— 
den Mühſale im roſigen Lichte erſcheinen ließen. Man 
bedeutete uns, daß die Stagekutſche, vulgo „Schmutzwagen“ 
genannt, nicht weiter fahren könnte. Stellenweiſe läge der 
Schnee noch achtzehn Fuß tief auf der Landſtraße, die ſo 
ſchlecht ſei, daß jeder auf Federn ruhende Wagen dort 
kurz und klein brechen müßte — und wie ſonſt die be— 
ängſtigenden Neuigkeiten hießen! Genug, wir wurden per— 
emptoriſch aufgefordert, in einem federnloſen ſogenannten 
Rumpelwagen (lumber wagon) Platz zu nehmen, 
der einem jütiſchen Bauernwagen auf ein Haar glich, und 
den mein iriſcher Freund ſofort mit „wonderful“ bezeichnete. 
Sitze waren, mit Ausnahme von ſolchen, welche unſere 
Mantelſäcke und des guten Onkel Samuels benagelte Poſt— 


67 


beutel bildeten, keine darin vorhanden. Doch ermöglichten 
wir es, durch ſinnreiches Ineinanderſchlagen unſerer Beine 
uns acht und ein viertel Perſonen in dem Gefährte ein 
Unterkommen zu verſchaffen. Die Mormonendame und 
ihren Knaben (die viertel Größe) bemitleideten wir am 
meiſten, und ſorgten für ihre Bequemlichkeit, ſo gut es 
ſich unter den Umſtänden machen ließ. Was mich bei dem 
Arrangement allein befriedigte, war die Gewißheit, daß 
Miſter Eiſak, welcher ſtets um den beſten Platz im Wagen 
geſtritten hatte, fortan in keiner Beziehung bequemer als 
wir anderen Paſſagiere fahren würde. Da wir nach An- 
gabe der Stationsleute an dreihundert engliſche Meilen in 
ſolchen „Poſtkutſchen“ zurücklegen ſollten, ſo wird es der 
Leſer natürlich finden, daß mein Vorſatz, auf dieſer Reiſe 
jegliches Ungemach als ein weiſer Mann fortzulachen, gänz— 
lich zu Schanden wurde und ſich meiner eine Art ver— 
zweifelten Ingrimms bemächtigte. 

Keine hundert Ellen weit waren wir im ſchlanken 
Trab auf einem entſetzlich holperigen Wege gefahren, als 
Miſter Eiſack, wie ein Türke fluchend, vom Wagen ſprang, 
wobei er der Länge nach hinfiel und Wells, Fargo und 
Comp., die Beſitzer dieſer famoſen Stagelinie, mit einer 
Fluth von unliebenswürdigen Wörtern überſchüttete. Er 
ſchwor, daß er lieber zu Fuß nach Salt Lake City laufen 
wolle, als ſich auf einem ſolchen Wagen rädern und ſchinden 
zu laſſen! Der Kutſcher nahm keine Notiz von ihm und 
fuhr ſchnell weiter, bis er nach einer viertel Stunde auf 
unſere Bitten ſtill hielt und den Murrkopf, der bereits ein 
halbes Dutzend Mal in tiefe Schmutzlöcher gefallen war 
und gottsjämmerlich ausſah, wieder an Bord nahm. Da 
wir andern Paſſagiere es uns während ſeiner Abweſenheit 
den Umſtänden nach bequem gemacht hatten, ſo mußte Eiſak 
zur Strafe für feine unbefonnene Hitze mit einem Sitz auf 


5 * 


68 


der ſcharfen Kante des Wagenbetts vorlieb nehmen. Es 
war übrigens eine Nachtfahrt, wie man ſich derſelben Zeit 
ſeines Lebens erinnert! Der eiſige Nordwind pfiff uns 
um die Ohren und eine klingende Kälte drang ſelbſt durch 
die Büffeldecken, ſo daß wir Alle wie Espenlaub zitterten 
und uns die Zähne vor Froſt klapperten. Wo man hinſah 
lag Eis und Schnee (wir befanden uns 7000 Fuß über 
dem Meere), und der Weg war ſo holperig, daß wir auf 
den mit eckigen Kupfernägeln beſchlagenen Poſtſäcken, die 
ſich fortwährend unter uns verſchoben und deren nichts 
weniger als ſanfter Inhalt von voluminöſen Staatsdocu— 
menten und Congreß Pamphleten mich unangenehm be— 
rührte, hin und her gerüttelt wurden, als ob eine Ladung 
von loſen Knochen im Wagen läge. Etwas nach Mitter— 
nacht hatten wir das ſeltene Schauſpiel, die „Venus durch 
den Mond gehen“ zu ſehen, was mich in anderen Ver— 
hältniſſen ſehr intereſſirt haben würde. Ehe der ſchöne 
Planet hinter der leuchtenden Mondſichel verſchwand, ſah 
das Bild genau ſo aus wie der türkiſche Halbmond mit 
ſeinem Stern darüber, und dabei funkelte die Venus in 
der klaren winterlichen Nacht heller als ich ſie je geſehen. 
Bei dieſer ſchändlichen Fahrt im Rumpelwagen ärgerte ich 
mich jedoch ſowohl über die Venus als den Mond, die 
beide gar keine Urſache hatten, uns ein ſolches Schauſpiel 
zum Beſten zu geben. 

Endlich brach der Morgen an, der erſte des Monats 
Mai. Wunderſchön war er freilich nicht, aber klar und 
froſtig, wie ein Januarmorgen. Die Umgebung war ſonſt 
recht romantiſch. Seitwärts zeigten ſich bewaldete Berg— 
kuppen und weite Schneefelder, vor uns lag das finſtere 
Elkgebirge, welches wegen der faſt täglich auf ihm wüthen— 
den Schneeſtürme einen böſen Namen hat. Dieſes Gebirge, 
ein vereinzelt daliegender Bergrücken, erhebt ſich ganz all— 


69 


mählig und fällt an feiner höchſten Stelle fteil ab. Aus 
der Ferne geſehen erinnert daſſelbe an einen rieſigen Be— 
lagerungswall, wie ihn Cäſar gegen den Vereingetorix an— 
wandte. Das Elkgebirge iſt die Heimath unzähliger Elen— 
thiere (elk — daher fein Name), Antilopen, Wölfe, ſchwarz— 
geſchwänzte Hirſche und ſchwarzer und brauner Bären. 
Auch der gewaltige Grizzly-Bär, der König der amerika— 
niſchen Thierwelt, hat in ihm ſein Domicil aufgeſchlagen. 
In den elenden Stageſtationen, wo ich kaum eine einzige 
Feuerwaffe ſah, waren die Bewohner alle in tödtlicher Angſt 
vor den Indianern, welche bereits mehrere Mordthaten 
unter haarſträubenden Grauſamkeiten auf der Laramie Ebene 
in Scene geſetzt hatten. Sobald das Gras, welches ihren 
Ponies Nahrung geben müſſe, hinreichend gewachſen ſei, 
hieß es, würden ſie auch in dieſer Gegend ihr Erſcheinen 
machen. 

Als wir weiter fuhren, fanden wir die Landſtraße 
durch Schneebänke, die an dreißig Fuß tief lagen, ganz 
verſperrt. Das eingetretene Thauwetter hatte ein Hinüber— 
fahren über dieſelben unmöglich gemacht, ſo daß wir einen 
halsbrechenden Weg am Rande eines abſchüſſigen Berges 
einſchlagen mußten, wo unſer Fuhrwerk in der ſogenannten 
„Teufelsſchlucht“ ſtecken blieb. Hier hieß es: ausſteigen 
und abladen! — Im Kniehoſencoſtüm wateten wir durch 
den breiartigen halbgeſchmolzenen Schnee, zogen die Poſt— 
ſäcke achtzig Schritt weit durch den Sumpf auf trockenes 
Land und zerrten ſchließlich die wild hintenausſchlagenden 
ſtörriſch gewordenen vier Mauleſel nebſt dem Rumpelwagen 
mit vereinter Kraft durch den tiefen Moraſt, eine Arbeit, 
welche wenigſtens das Gute im Gefolge hatte, daß ſie uns 
recht erwärmte. Jenſeits der „Teufelsſchlucht“ nahmen 
wir unſere Jammerſitze auf Onkel Sam's Poſtſackkiſſen, 
welche durch den Schmutz hübſch lackirt worden waren, 


70 


aufs Neue ein und fuhren in trübſeliger Stimmung weiter. 
Bei meinen Leidensgefährten, welche ſeit dem vorigen Nach— 
mittage keinen Biſſen zu ſich genommen hatten, meldete ſich 
auch noch ein nagender Hunger. Hier war mein uner— 
ſchöpflicher Proviantkaſten, aus deſſen Inhalt ich ein herr— 
liches Mahl für die Reiſegeſellſchaft auftiſchte, in Wahrheit 
eine Hülfe in der Noth! 

Die Gegend, durch welche wir hinfuhren, beſtand aus 
einer Reihe von aufeinander folgenden allmählich anſteigenden 
Thalmulden, welche für den Bau einer Eiſenbahn wie ge— 
ſchaffen ſchienen. Die Gebirge hatten nicht die Geſtalt einer 
zuſammenhängenden Bergkette, ſondern waren in viele ver— 
einzelte Höhenzüge getrennt. An den Abhängen ſtanden 
hie und da verkrüppelte Fichten und Bergceedern, an den 
Bächen und in den Niederungen wuchſen Weiden und cana— 
diſche Pappeln. Aber die meiſten Berge waren von Bäumen 
ganz entblößt. Die allerorten ſich zeigenden aſchefarbigen 
zwei bis drei Fuß hohen Büſche von wildem Salbei (sage- 
brush; artemisia tridentata) gaben der Landſchaft ein troſt— 
loſes Ausſehen. 

Das dichtbewaldete Elkgebirge zeigte ſich immer groß- 
artiger, je näher wir demſelben kamen. Plötzlich rollten 
finſtere Wolken den langgeſtreckten Gebirgszug hinan, ein 
Schneegeſtöber fiel in das Thal und der Sturm kam mit 
einer ſolchen Wuth daher gebrauſ't, daß wir gezwungen 
waren, eine halbe Stunde lang anzuhalten. Als wir uns, 
hinter den Wagen geduckt, vor dem blendenden Schneeſturm 
zu ſchützen ſuchten, tauchten plötzlich ein paar hundert 
flüchtige Thiergeſtalten kaum fünfzig Schritt vor uns durch 
das dichte Schneegeſtöber auf und eilten wie eine wilde 
Jagd quer über die Landſtraße. Es waren der Mehrzahl 
nach Antilopen, mit rieſigen Elenthieren untermiſcht, welche 
letzteren mächtige vier bis ſechs Fuß lange Geweihe trugen. 


71 


Das fliehende Heer, mit dem Gewimmel der großen und 
kleinen Geweihe, erſchien ſo unerwartet und verſchwand ſo 
ſchnell vor unſeren Blicken, daß wir keine Zeit fanden, ihm 
einige Schüſſe nachzuſenden und uns damit begnügen mußten, 
ſeine Flucht durch ein lautes Hurrah zu beſchleunigen. 
Schnell wie er gekommen, brauſ'te der Schneeſturm vor— 
über, und als dann plötzlich wieder die helle Sonne ſchien, 
und die über die wilde Gebirgslandſchaft hineilenden dunklen 
Wolken wie mit Silber umſäumte, war das Bild groß— 
artig ſchön. 

Gegen Mittag paſſirten wir das ganz verlaſſen da— 
ſtehende Fort Halleck, eine Reihe von jämmerlichen Woh— 
nungen und Stallungen, zu deren Erhaltung auch nicht das 
Geringſte gethan war. Die dort ſtationirt geweſenen Truppen 
waren vor einigen Tagen nach dem auf der Laramie Ebene 
liegenden Fort Sanders gezogen, wie es hieß zum Schutze 
der dortigen Gegend gegen die Indianer, obgleich ihre Ge— 
genwart hier eben ſo nothwendig geweſen wäre. Der Kut— 
ſcher behauptete ſarkaſtiſch, daß der Umzug beſonders des— 
halb ſtattgefunden, weil das Brennholz hier zu billig ſei 
und die Herren Lieferanten damit beſſere Geſchäfte auf der 
holzarmen Laramie Ebene machen könnten. Bald nachdem 
wir Fort Halleck verlaſſen hatten, kamen wir nach der Elk 
Mountain⸗Station, wo meine Mitreiſenden ſich ein arm— 
ſeliges Mittagsmahl buchſtäblich erbetteln mußten, während 
ich mich mit Freund Wonderful wieder über meinen uner— 
ſchöpflichen Proviantkaſten hermachte. Müde und hohläugig 
und an allen Gliedern wie zerſchlagen, boten wir ein wahres 
Jammerbild, als wir mit den ſchweren Poſtſäcken und un- 
ſerem Handgepäck den Umzug nach dem zweiten Rumpel— 
wagen bewerkſtelligten. 

Weiter ging's durch die Gebirge, gottlob auf einer 
nicht ſo rauhen Straße wie früher, ſo daß der Wagen 


72 


wenigſtens erträglich ſtieß. Nachdem wir durch den 7560 
Fuß über dem Meere liegenden „Klapperſchlangenpaß“ 
paſſirt waren, traten wir hinaus auf ein weites Plateau. 
Heerden von Antilopen flohen hie und da über den Plan, 
und auf gutem Wege fuhren wir raſch dahin. Als wir 
gegen Abend eine Bodenhebung erſtiegen hatten, breitete 
ſich ein herrliches Panorama vor uns aus. Die Haupt— 
kette der Felſengebirge lag vor uns, weit von Südoſt bis 
über den an einer Sattelſenkung zu erkennenden Bridger's 
Paß nordweſt reichend. Der Fuß der Gebirge war mit 
Schneefeldern bedeckt, in mittlerer Höhe zog ſich ein Kranz 
dunkler Wälder hin, die von leuchtenden Schneegipfeln über— 
ragt wurden. Zacke an Zacke, Kuppe an Kuppe, Grat an 
Grat dehnte ſich die gewaltige Gebirgskette vor uns aus, 
den halben Horizont mit ihrem blitzenden Demantgürtel 
umſchließend. Als beim Sonnenuntergange alle Schnee— 
gipfel auf einmal wie in Brand ſtanden, war das Rieſen— 
gemälde wundervoll. Ueber anderthalb Stunden hatten wir 
das grandioſe Gebirgspanorama vor Augen; dann fuhren 
wir auf abſchüſſigem Wege ſchnell hinunter in das Thal des 
Nord Platte und erreichten, 226 engliſche Meilen von Denver, 
bei einbrechender Dunkelheit die Station Nord Platte, in 
der wir übernachten ſollten. 

Zunächſt forſchte ich nach einem bequemen Nacht: 
quartier, da ich todtmüde war und wir, wie vorauszuſehen 
war, während der uns bevorſtehenden Fahrt über den 
Bridger's Paß wieder wenig Gelegenheit zum Schlafen 
finden würden. Wie gewünſcht entdeckte ich an der Seite 
eines gewaltigen Heuſchobers ein trauliches Plätzchen, wo 
ich mich für die Nacht comfortable einrichtete und bald, das 
ſternenbeſäete Firmament als Himmelbett über mir, ent— 
ſchlummerte. Die Sonne ſtand bereits hoch am Himmel, 
als mein Freund, der Irländer, mich mit dem Ausruf 


73 


„wonderful“ aus dem duftenden Heu hervorzog und die 
Meldung brachte: das Frühſtück fer aufgetiſcht! — Antilopen⸗ 
ſteaks, Cinnamonbären-Friccaſſee und ein mit Zwiebeln ge— 
füllter Schweinskopf à la francais. Die beiden letztge— 
nannten Gerichte waren leider bereits verzehrt, als ich 
in eiliger Haſt im Speiſeſaal anlangte, ſo daß ich mich zu 
meinem Aerger mit einem ledernen Antilopenſteak begnügen 
mußte. Mich nach der Ausſicht zur Weiterreiſe erkundigend, 
erfuhr ich, daß noch keine Stagekutſche vom Paß ange— 
langt ſei und wir wahrſcheinlich den Tag über in Nord 
Platte verweilen müßten. Die gegebene Mußezeit be— 
nutzte ich, um mich in der Station und ihrer Umgebung 
etwas umzuſehen. 

Die „Home-Station“ Nord Platte liegt in der Nähe 
des Fluſſes, deſſen Namen ſie trägt, eines klaren und ſchnell— 
fließenden Stromes, welcher ſich mit dem weſtlich von der 
Stadt Denver entſpringenden Süd Platte etwa hundert eng— 
liſche Meilen unterhalb Julesburg vereinigt. Bei Hochwaſſer, 
wenn der Schnee in den Gebirgen ſchmilzt, iſt die Paſſage 
dieſes Fluſſes eine äußerſt gefährliche, für ſolche Fälle be— 
fand ſich allerdings ein Fährboot zur Stelle, das aber 
ſtark leckte und ganz unbrauchbar war. Seit einigen Tagen 
war der Fluß bedeutend angeſchwollen. Sollte derſelbe 
noch drei Fuß ſteigen, ehe die Stage vom Paß anlangte, 
ſo mußten wir mit Gepäck und Poſtſäcken in einem Nachen 
an das jenſeitige Ufer befördert werden, — eine ge— 
fährliche Paſſage! Man erzählte uns, daß im vergangenen 
Jahre fünf Perſonen bei einer ſolchen Fahrt ertrunken 
ſeien. Dieſelbe hätten die Zeit nicht abwarten wollen, bis 
der Fährmann ſein Frühſtück eingenommen, und wären 
allein über den Fluß gerudert, wobei ihnen der Kahn um— 
ſchlug. Die Frau eines der Ertrinkenden hatte vom dies— 
ſeitigen Ufer unter herzzerreißendem Geſchrei das Unglück 


ER. 


mit angeſehen, ohne ihrem mit den Fluthen ringender 
Manne irgend welche Hülfe bringen zu können. Erſt kürz— 
lich wäre eine Ochſenfuhr, welche den Fluß zu kreuzen ver: 
ſucht, von der Fluth erfaßt und fortgeriſſen worden; ein 
Meile unterhalb hatte der Strom aber Fährmann und 
Ochſen glücklicherweiſe gegen das Land geſchleudert, ſo daf 
ſie gerettet worden waren. Dieſe Erzählungen trugen ihr 
gut Theil dazu bei, daß wir den Tag über das ſchnelle 
Steigen des Fluſſes mit Unruhe beobachteten. 

Mit Ausnahme der nothwendigſten Einrichtungen war 
von den Bewohnern der Station Nord Platte abſolut gar 
nichts zur Bequemlichkeit ihres Lebens gethan worden. Weder 
Gartenanlagen noch ſonſtige Verſchönerungen bemerkte ich, 
kein Federvieh, Kühe oder andere nützliche Hausthiere waren 
vorhanden: nur ein Paar ausgehungerte Hunde zerrten 
gierig an den in Menge auf dem Hofe umherliegenden 
Antilopenfellen. Unſere ſonſt ſehr arbeitſamen Wirthsleute 
erklärten freimüthig, daß ſie nicht geneigt ſeien, die Station 
für ihre Nachfolger zu verſchönern. Sie wüßten nicht, 
wie lange ſie noch hier wohnen bleiben ſollten, und erwar— 
teten außerdem eheſtens die Indianer, die ſo wie ſo Alles, 
was nicht niet und nagelfeſt ſei, fortſchleppen würden. Lieber 
zahlten ſie einen Dollar für das Pfund Faß-Butter, zwei 
Dollars für das, Dutzend Eier aus Denver oder Salt 
Lake City, und anderthalb Dollars für eine Blechbüchſe mit 
eingemachten Früchten, als dieſe Dinge ſelber zu produciren. 
Vor zwei Jahren wäre es in dieſer Gegend ſchrecklich her— 
gegangen. Sogar Frauen und Kinder wären damals von den 
Indianern ſcalpirt worden. An einem Tage hätten die rothen 
Teufel fünf Weiße ermordet und alle Pferde geraubt, und 
die Station ſei wochenlang förmlich in Belagerung geweſen, 
ſo daß die Inſaſſen derſelben faſt vor Hunger umgekommen 
wären, | 


75 


Unſere Naturalverpflegung beſtand hier faſt ausſchließ— 
lich aus Antilopenfleiſch, das beim Kauen deſſelben ſeltſam 
an Volumen zunahm. Mir ſagte ſein Geſchmack nicht zu, 
obſchon andere Reiſende das Delicate jenes Wildfleiſches 
ſehr gerühmt haben. Möglicherweiſe war es jedoch das 
Fleiſch von alten Böcken, welches uns aufgetiſcht wurde. 
Um unſeren Mittagstiſch mit einigen neuen Gerichten zu 
verſorgen, gingen wir Paſſagiere am Vormittage ſämmtlich 
auf die Jagd und waren auch ſo glücklich, einen Haſen und 
zwei fette Sagehühner zu ſchießen. Letztere haben eine 
den Sagebüſchen ähnliche aſchgraue Farbe. Oft laſſen ſie 
ſich unter jenen Sträuchern kaum erkennen, und fliegen, ehe 
man ſie bemerkt hat, Einem dicht vor den Füßen auf. Sie 
ſind bedeutend größer als die bekannten Prairiehühner und 
haben ein zartes und wohlſchmeckendes Fleiſch. 

Während der Nachmittagsſtunden machte ich es mir 
im Telegraphen-Zimmer bequem und lauſchte dem „Klick! 
Klick!“ des electromagnetiſchen Zauberſtromes. Geſprächs— 
weiſe erfuhr ich von den Beamten, daß die Telegraphiſten 
an der Ueberland-Route 50 Dollars per Monat Gehalt 
und freie Verpflegung, die Stationswächter an den Home— 
Stationen 75, an den Nebenſtationen 50, die Fuhrleute 
und Stagekutſcher 50 Dollars den Monat bezögen. Erſt— 
genannte Anſtellungen wurden für fette Poſten gehalten, 
da ſich ſtets viel nebenbei „machen“ ließ, wogegen die oft 
den Angriffen der Indianer ausgeſetzten Fuhrleute ein we— 
niger beneidenswerthes Amt inne hatten. Das Leben in 
den Wildniſſen des fernen Weſtens hat aber für jene Leute 
einen großen Reiz. Bei den Fuhrleuten gilt dazu die ge— 
ſellſchaftliche Stellung eines Stagekutſchers als der höchſte 
Ehrenpoſten in der Kutſchercarriere. Einer dieſer Herren 
vom Bock würde eher ein Vier- oder Sechsgeſpann, ſei es 
auch mitten durch ein Lager von feindlichen Indianern, 


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76 


umſonſt lenken, als freiwillig jenem Ehrenpoſten, dem ver— 
wirklichten Ehrgeize eines ganzen Lebens, entſagen. 

Nicht umhin konnte ich, über die Nachläſſigkeit zu erftau- 
nen, mit der man in dieſer Station, mehr noch als in anderen, 
mit den Poſtſäcken umging. Zweihundertundfünfzig der— 
ſelben lagen ohne jegliche Aufſicht im Freien am Heuſchober 
aufgeſtapelt, manche davon halb offen und alle dem Regen 
und Wetter ausgeſetzt. Nicht die geringſte Mühe ſchien 
man ſich zu nehmen, dieſelben prompt weiter zu befördern. 
Von den Säcken, die wir mitgebracht, wurde ein halbes 
Dutzend auf den Poſtſack-Chimborazo geworfen, wo ſie nach 
der Aeußerung des Stallknechtes wohl liegen bleiben würden, 
bis man Gelegenheit fände, ſie auf einem Ochſenwagen 
nach Californien weiter zu transportiren. Während meines 
Aufenthaltes in der Station Nord Platte lieferten fremde 
Fuhrleute zwei volle Briefbeutel, welche ſie von der Land— 
ſtraße aufgehoben hatten. Den ehrlichen Findern dankte man 
in dieſem Falle nicht einmal und behauptete naiver Weiſe, 
daß die nächſte Stagekutſche ſo wie ſo die verlorenen Säcke 
gefunden und mitgebracht haben würde. Ein in der Tele— 
graphenſtube anweſender Agent der Stage-Compagnie ſtellte 
die Behauptung auf, daß die Poſtſäcke oft von den Paſſa— 
gieren vom Wagen heruntergeworfen würden, wenn dieſen 
die Kupfernägel als Sitz nicht mehr convenirten, — eine 
ſchmähliche Verläumdung, gegen welche ich nicht umhin konnte, 
lebhaft Proteſt einzulegen. 

Am hohen Nachmittage langte zu unſerer nicht ge— 
ringen Freude eine ſchöne Concord-Stage* vom Weſten 
an, die den Namen „Montezuma“ in goldenen Lettern am 
Kutſchenſchlag trug. Unſeren abgedankten Rumpelwagen be— 


* Nach der Stadt Concord im Staate New⸗Hampſhier benannt, 
wo jene Wagen gebaut werden. 


77 


trachteten wir jetzt mit Blicken grenzenloſer Verachtung und 
lebten der frohen Hoffnung, ſeines Gleichen während unſerer 
Weiterreiſe nie mehr zu ſchauen. Da der Nord Platte 
bedenklich im Steigen begriffen war, ſo erhielt der Kutſcher 
die Weiſung, ſobald als möglich nach dem „Paß“ zurück— 
zufahren, welche Anordnung mit allſeitigem Jubel begrüßt 
wurde. Punkt ſieben Uhr waren wir reiſefertig, und bald 
befand ſich die „Montezuma“ mitten im Nord Platte, wo 
das Waſſer bereits einen halben Schuh tief in's Wagenbett 
ſtieg. Doch erreichten wir ohne Unfall das jenſeitige Ufer. 
Nur die hinten am Wagen in einem Lederverſchlag tiefer 
liegenden Briefbeutel wurden gründlich eingeweicht. 

Als die Sonne unterging, hatten wir einen intereſſanten 
Rückblick auf das Elkgebirge, welches, der Geſtalt eines 
rieſigen Wallfiſches treffend ähnlich, in herrlicher Beleuch— 
tung über den niedrigeren kahlen Höhen ſich erhob. Unter 
den wenigen Vögeln, welche dieſe ungaſtliche Wildniß be— 
wohnten, bemerkte ich ein Elſternpaar, das auf dem Tele— 
graphendrathe augenſcheinlich eine wichtige Unterredung mit 
einander hielt. Aber bald verdeckte die Nacht Gebirg und 
Thal, und wir konnten von der Gegend nichts als mit— 
unter einige ſchroff am Wege emporſteigende Felswände und 
weiße Schneebänke erkennen. In der Kutſche ſchwieg die 
Unterhaltung, und Einer nach dem Andern von uns ſank in 
einen unruhigen Schlummer. Wenn wir auf beſonders 
holperigen Stellen tüchtig hin und her gerüttelt wurden 
und, erwachend, mit ängſtlichen Händen über die Büffel— 
pelze hinfuhren, ſo ſchienen tauſend Sternlein im Wagen 
aufzublitzen, — elektriſche Funken, welche, mitunter kniſternd, 
aus den Büffelhaaren unter unſeren Fingern hervorſprangen. 

Um Mitternacht kamen wir, fünfundzwanzig engliſche 
Meilen vom Nord Platte, bei der Station „Pine Grove“ 
unerwartet zum Stillſtand. Die Stagekutſche, hieß es, 


78 


könnte auf dem ſchlechten Wege nicht weiter fahren, wir 
müßten hier auf einen Rumpelwagen vom Paß warten. 
Mit ſchwerem Herzen verließen wir die warme „Montezuma“ 
und ſuchten uns Schlafſtellen auf einem nahen Heuſchober. 
Die Nacht war grimmig kalt und über uns funkelten die 
Sterne prächtig am dunkelblauen Himmelsgewölbe. In den 
Wipfeln einiger einſam daſtehenden Fichten, nach denen die 
Station ihren Namen erhalten, rauſchte der Wind, und 
das Geheul eines in der Nähe umherſtreifenden Wolfes 
verſcheuchte den Schlaf von unſeren Augen. Ein Schuß, 
dem ein Jammerſchrei folgte, ſchreckte uns plötzlich auf und 
bewog uns Alle, in der Richtung des Knalls nach einem 
nahen Hügel hinzueilen, wo einer der Stationswächter uns 
einen ſoeben von ihm erlegten gewaltigen ſilbergrauen Wolf 
zeigte. Fortan war von Schlafen keine Rede mehr, und 
froh nahmen wir die freundſchaftliche Einladung unſeres 
Nimrods an, ihm bei einer Taſſe Kaffee Geſellſchaft zu 
leiſten. Bald waren wir Alle in dem kleinen von einem 
brennenden Kienſpan erleuchteten Zimmer des Stations— 
wächters verſammelt und ſchlürften behaglich den heißen 
duftenden Trank, während wir den ſchauerlichen Erzählungen 
von Abenteuern und Grizzly-Bären und Indianern horchten, 
mit denen unſer Wirth uns gratis regalirte. 

Endlich brach der neue Tag an, der dritte des Mai— 
monds, kalt und glanzlos wie ein deutſcher Novembermorgen, 
und bald darauf kam der Rumpelwagen vom Weſten durch 
die winterliche Gegend dahergeraſſelt und hielt vor der 
einſamen Station. Schnell warfen wir unſere Bagage und 
die Poſtſäcke in das offene Gefährt, verſchafften der Mor— 
monendame mit ihrem Knaben den bequemſten Sitz und 
nahmen auf Onkels Sam's benagelten Vriefbeuteln Platz, 
und raſſelnd und klappend rollte unſere „Staatskaroſſe“ 
dem Paß entgegen. Die Landſtraße war entſetzlich rauh, 


79 


und oft biſſen wir wie verzweifelt die Zähne zuſammen, 
wenn der federloſe Wagen ſich in kühnen Sprüngen er— 
ging. Miſter Eiſack ſaß wie ein Geſpenſt, hohläugig 
und mit blaſſen Wangen, auf einem beſonders eckigen Poſt— 
ſack und ächzte bei jedem Satz, den der Wagen machte, 
daß es zum Erbarmen war, während der Irländer nicht 
umhin konnte, dieſe Expreßfahrt wiederholt mit „wonderful“ 
zu bezeichnen. 

Die Gegend ſah troſtlos öde aus. Von Waldungen 
war nirgends eine Spur zu ſehen: nicht einmal vereinzelte 
Bäume brachten Abwechſelung in das öde Landſchaftsbild. 
An den Abhängen wuchſen verkrüppelte Salbeibüſche, Schnee 
lag in den Schluchten und Felsgetrümmer am Wege. Die 
Berge erhoben ſich, von unſerem Standpunkte aus geſehen, 
zu geringer Höhe und ſahen einer Kette von Hochgebirgen 
gar nicht ähnlich. Vergebens ſuchte mein Auge nach den 
leuchtenden Alpengipfeln, von denen phantaſiereiche Touriſten 
hier geredet haben! Bridger's Paß iſt ſo unromantiſch wie 
nur denkbar, und von großartiger Gebirgſcenerie iſt in ſeiner 
Nähe gar nicht die Rede. Für den Bau einer Ueberland— 
Eiſenbahn ſcheint derſelbe jedoch wie geſchaffen zu ſein. 
Die Terrainſenkung iſt von der großen Steppe und über 
die Laramie Ebene, mit Ausnahme der etwas über 8000 
Fuß hoch anſteigenden „Schwarzen Hügel“ *, bis zur Paß— 
höhe ſo allmählig, daß dieſelbe dem Nivellement eines 
practikablen Schienenweges unmöglich ernſte Schwierigkeiten 
bereiten kann. Das größte Hinderniß, welches ſich dem 
Bau einer Eiſenbahn durch die Mitte des Continents ent— 
gegenſtellt, iſt nicht die Geſtaltung des Bodens, ſondern 


*Die dort an der Unionpacific-Eiſenbahn erbaute Station 
Sherman, die höchſte Eiſenbahnſtation in der Welt, liegt 8235 
Fuß über dem Meeresſpiegel. 


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die menſchenleere faſt endloſe Wildniß. Im Winter ma 
der Schnee die Fahrten der Dampfzüge zeitweilig unter 
brechen; aber die Gegend iſt zu offen, als daß ſolche leich 
zu beſeitigende Schwierigkeiten den Verkehr auf die Daue 
ſtören dürften. Von dem tiefen Schnee, der hier im ver 
gangenen Winter gelegen, wußte unſer Kutſcher Wunder 
bares zu berichten. Stellenweiſe waren die etwa fünfzehn 
Fuß hoch an den Pfoſten hinlaufenden Telegraphendräht 
durch Schneebänke verdeckt geweſen, und bei einzelnen Stage 
ſtationen hatte man Stufen bis zu vierzig Fuß tief durd 
den Schnee ſchaufeln müſſen, um von der Landſtraße ar 
die Thüren der Gebäude gelangen zu können. Der eigent 
liche Paß, welcher 7100 Fuß über dem Meere liegt, if 
fünfundzwanzig engliſche Meilen lang. 

Die aufeinander folgenden Thalmulden, durch welch 
wir hinfuhren, erhoben ſich faſt unmerklich. Der Wes 
verſchlechterte ſich jedoch zuſehends. Mancher Felsblock kan 
den Wagenrädern unangenehm in die Quere und veran 
laßte, namentlich in Folge unſerer ſeltſam queckſilberiger 
Poſtſackſitze, oft nicht eben freundſchaftliche Berührunger 
unſerer Köpfe und Schultern. Der Schnee war ſtark in 
Schmelzen begriffen, und mitunter geriethen wir unverſehens 
in tiefe Löcher und rollten auf jämmerliche Weiſe im Wager 
untereinander. In einem ſolchen Sumpfloch fiel der Wager 
um und ſchleuderte uns in romantiſchem Gewirr mit Ge— 
päck und Briefbeuteln in den tiefen Schnee. „Wonderful!“ 
rief der Irländer, als der unter ihn und die Mormonen— 
dame gefallene Miſter Eiſack, Mund, Naſe und Ohren voll 
Schnee, puſtend und ſich ſchnäuzend auf allen Vieren unter 
ihm hervorkroch. Sobald das Gepäck und die Poſtſäcke wieder 
aufgeladen und die Mormonenfrau mit ihrem weinenden 
Knaben im Wagen untergebracht worden waren, jagte der 
Kutſcher weiter und ließ uns männlichen Paſſagiere eine 


81 


halbe Stunde lang durch den tiefen Schnee hinterdrein— 
laufen, ehe er uns wieder an Bord nahm. 

Von jetzt an war unſere Reiſe mit Recht eine be— 
jammernswerthe zu nennen! Mit jeder Minute wurde es 
mir klarer, daß ich die allerſchlechteſte Jahreszeit zur Stage— 
fahrt über die Felſengebirge gewählt hatte. Wir vertauſchten 
den Rumpelwagen jetzt mit einem Schlitten, oder, beſſer 
geſagt, mit einem auf Eiſenreifen ruhenden halbzerbrochenen 
Wagengeſtell. Ehe fünf Minuten vergangen waren, warf 
der Wagen um, diesmal zur Veränderung mitten in 
einem an zwanzig Schritt breiten Graben, der etwa 
drei Fuß tief mit einer halbzerſchmolzenen breiartigen 
Schneemaſſe angefüllt war. Ganz durchnäßt reiſten wir 
weiter, bald im Schlitten hockend, der im Paß noch drei 
Mal umwarf, bald bis an die Kniee durch loſen Schnee 
nebenher watend, bald auf halbgefrorenen Schneefeldern, 
wo wir faſt bei jedem Schritt durch die dünne Kruſte brachen 
und oft auf Händen und Füßen kriechen mußten, uns, ſo 
gut es ging, einen Weg ſuchend. 

In der Mitte vom Bridger's Paß paſſirten wir zwölf, 
je mit zehn Mauleſeln beſpannte Frachtfuhren. Die Ladung 
dieſer Karavane, welche von Salt Lake City nach einem 
Militairpoſten auf der Laramie Ebene unterwegs war, be— 
ſtand aus Speckſeiten und lag auf einer Strecke von anderthalb 
engliſchen Meilen am Wege im Schnee zerſtreut da, weil 
die Wagen ihre Fracht in kleinen Partien mit doppeltem 
Vorſpann über den beinahe bodenloſen Gebirgspaß ſchaffen 
mußten. Die Fuhrleute verwünſchten den Paß; die ſtör— 
riſch gewordenen Eſel ſchlugen hinten und vorne aus, biſſen 
nach den Treibern, oder wälzten ſich im Schnee; mehrere 
Wagen waren umgeſtürzt und lagen, der Speck darunter, 
unterſt zu oberſt im Schnee. Wir machten ſchlechte Witze 
und erkundigten uns nach den „Speckpreiſen im Paß“, und 


6 


82 


der luſtige Irländer lief mit zwei prächtigen Schinken davon, 
von einem grimmig ſcheltenden Fuhrmann durch Schnee 
und Salbeigeſtrüpp verfolgt, — ein amüſantes Intermezzo, 
das uns Alle wieder in fröhliche Stimmung brachte. 
Weiter gings durch den Paß, jetzt auf härterem Wege 
und wieder auf einem Rumpelwagen. Neben uns rieſelten 
die Bäche von geſchmolzenem Schneewaſſer noch immer nach 
Oſten thalab, deren Lauf ich aufmerkſam beobachtete, um 
die Waſſerſcheide des Continents zu entdecken. Endlich be— 
merkte ich einen kleinen, ſehr kleinen Strom, der nach Weſten 
lief. Dicht hinter mir lagen nun die Quellen des Platte, 
der ſein klares Gebirgswaſſer dem finſteren Miſſouri ent— 
gegenträgt. Der Vater der Flüſſe wird es, nach einem 
Laufe von mehr als tauſend deutſchen Meilen, in ſeinem 
gewaltigen Fluthenſchoße dem blauen mexikaniſchen Golfe 
zuſenden; und hier ſtand ich auf dem Rückgrat des Con— 
tinents, an den Quellen des unerforſchten Colorado, der, 
fünfhundert Stunden von uns entfernt, im ſonnigen Süd— 
weſten ſeine Wellen in den Golf von Californien ergießt. 


2. Die Salbei: und Alcaliwüſte. 


Hinter uns lag der Bridger's Paß, und in einem mit 
Leinewand überdachten, ringsum geſchloſſenen Wagen, einem 
ſogenannten Käfig (cage), raſſelten wir luſtig bergab. 
Während unſerer Fahrt über den Paß hatten wir ſechs 
Mal Fuhrwerke gewechſelt: Rumpelwagen, Schlitten, 
Schmutzwagen, Schlitten, Rumpelwagen und Käfig. Bei 
der Station „Sulphur-Springs“, die nach einigen in 
ihrer Nähe hervorbrechenden Schwefelquellen benannt war, 
verließen wir den eigentlichen Paß, die Schneefelder ver— 
ſchwanden hinter uns und die öde Berglandſchaft erweiterte 
ſich mehr und mehr. Von Baumwuchs war nirgends eine 
Spur zu ſehen; nichts als ſonnenverbranntes Salbeigeſtrüpp, 
ſpärliches an Büſcheln wachſendes vergilbtes Gras und 
Zwerg-Cactuſſe bedeckten den Boden. Dabei ſauſ'ten ſtoß— 
weiſe ein heftiger mit Staub und feinem Sand geſchwän— 
gerter Wind, daß Einem die Haut davon prickelte, als 
würde man mit Nadeln geſtochen. 

An jeder Station wurden wir mit Beſchreibungen von 
dem ſchrecklichen Zuſtande der Straßen unterhalten. Wie 
man uns erzählte, hätten noch vor vierzehn Tagen die 
Stages im günſtigſten Falle volle zwei Wochen zur Reiſe 
von Salt Lake City nach Bridger's Paß gebraucht. Mehrere 
derſelben wären bis zum Grünen Fluß, einer Strecke von 
nur 183 engliſchen Meilen, ſechszehn Tage und Nächte 
unterwegs geweſen, wobei die Paſſagiere ſtellenweiſe bis an 


6 * 


84 


den Leib durch die geſchwollenen Berggewäſſer hätten waten 
müſſen. Froh waren wir, als wir am Nachmittage eine 
leere Concord-Stage, welche den Namen „Eelipſe“ führte, 
am Wege daſtehen fanden, der wir uns ſofort bemächtigten 
und den Käfig an ihrer Stelle für die nächſte Reiſegeſell— 
ſchaft zurückließen. Leere Wagen und Stages ſtanden an 
dieſer Strecke der Ueberland-Route nicht ſelten auf der 
Landſtraße unter Gottes freiem Himmel da und wurden 
von den Kutſchern nach Belieben ausgetauſcht. Keiner be— 
wachte dieſelben, weil ſie Niemand ſtehlen konnte. Ein 
Wagendieb würde auf der einzigen durch dieſe Wildniß 
führenden Landſtraſte bald von den Stationswächtern an— 
gehalten werden, wenn er nicht auf einem Fuhrwerke ſüd— 
wärts nach dem Lande der Montezumas oder nordwärts 
nach der Baffinsbai ſozuſagen querfeldein fahren wollte. 
Die hohläugigen Inſaſſen der Rumpelwagen und Käfige, 
denen wir ab und zu begegneten, wußten erbärmliche Jere— 
miaden über die entſetzliche Reiſe, welche ſie durchgemacht 
hatten, zu erzählen. 

Als wir uns gegen Abend dem berüchtigten Thale des 
Bitterbachs (bitter creek) näherten, verflachte ſich die Ge— 
gend. Verkrüppeltes, aſchgraues Salbeigeſtrüpp, Sandhügel, 
heftige, dichte Staubwolken aufwirbelnde Windſtöße, hie 
und da Striche von fchmutzig weißen Alcaliſalzen und, außer 
gelegentlich einer Sagehenne oder einem einſamen Vogel, 
der ſeinen Weg verloren haben mußte, von lebendigen 
Weſen keine Spur, — ſo ſah es im Vorhofe jenes Thales 
aus. Da es innerhalb ſeiner Grenzen auf einer Strecke 
von achtzig engliſchen Meilen nur alcalihaltiges Waſſer zum 
Trinken gab, das unſerem Gaumen wenig zuſagte, ſo hatten 
wir, ehe wir dorthin gelangten, wohlweißlich alle unſere 
leeren Flaſchen mit reinem Quellwaſſer gefüllt. Während 
der Nachtfahrt wurden wir jämmerlich im Wagen hin und 


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her geſtoßen. Oft mußten wir ausſteigen, um den Maul- 


eſeln, welche den Vorſpann bildeten, das Ziehen zu er— 
leichtern, und waren gezwungen, auf langen Strecken im 
Finſtern durch Pfützen und Bäche zu waten. Brücken exiſtirten 
nirgends, und es nahm Wunder, daß auf dem entſetzlichen 
Wege nicht Alles am Wagen kurz und klein brach. In 
keinem Lande der Welt würde man es wagen, mit Poſt— 
kutſchen auf ſolchen Wegen zu fahren! 

Endlich brach der Morgen an und geſtattete uns, die 
ſchreckliche Gegend genauer zu betrachten. Zu beiden Seiten 
war das ſchmale gewundene Thal von Bergen umkränzt, 
die ausſahen, als ob ſie mit Aſche beſtreut ſeien. Schmutzig— 
weißes Alcali bedeckte meilenweit die Landſtraße, und der 
Boden war von der Sonnenhitze gebacken und zerſprungen. 
Wohin man ſah, wuchs verkrüppeltes gelblich-graues Salbei— 
geftrüpp. Bäume oder nur Büſche gab es keine; grün 
wird es in dieſer Gegend nie! Alle paar hundert Schritt 
lagen Thiergerippe am Wege, und ekelhafte Verweſungs— 
dünſte ſetzten unſere Geruchsnerven in Aufruhr. Skelette 
von Wölfen, welche Thiere von den Stationswächtern der 
Bequemlichkeit halber mit Strychnin vergiftet wurden, waren 
beſonders zahlreich. Die Pfützen im Wege ſahen bräunlich 
aus, wie Blutlachen in einem Schlachthaus. In den Sta— 
tionen brannte, in Ermangelung eines anderen Feuerungs— 
materials, auf den Kochheerden trockenes Salbeigeſtrüpp, 
das ein ſchnelles und außerordentlich heißes, dabei aber in 
wenigen Minuten ausbrennendes Feuer giebt, und den 
Speiſen einen pikanten Saleratusduft mittheilt. Der Kaffee 
hatte von dem Alcaliwaſſer, worin er gekocht ward, einen 
eigenthümlichen Beigeſchmack wie von grüner Seife. Der 
ſich in den Green River ergießende Bitterbach iſt ein etwa 
vierzig Fuß breites Gewäſſer, mit gegen zwanzig Fuß hohen 
ſteilabfallenden und durch und durch von ſchmutzig weißen 


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Alcaliſalzen geſchwängerten Uferbänken. In kurzen Schlangen- 
windungen ſtrömte das ſchwarze ſtygiſche Waſſer durch dieſe 
entſetzliche Wüſtenei, als ob ein Ungeheuer dort auf Raub 
hinkröche. 

Wir begegneten einer Bande von etwa hundertund— 
fünfzig Schlangenindianern (Snakes) unter ihrem den Weißen 
freundlich geſinnten Häuptlinge Waſhakie, der auf einem 
elenden Klepper, deſſen Rippen man unter der ſchlotterigen 
Haut zählen konnte, an den Kutſchenſchlag geritten kam. 
„Wonderful!“ — rief mein Freund, der Irländer, als 
Sr. Majeſtät, der ſo ſchmierig ausſah, als wäre Sie ſo— 
eben aus einem ſchmutzigen Fetttopf gekrochen, ihm herab— 
laſſend die Hand reichte uud um Taback bettelte. Dieſer 
indianiſche Häuptling bildete ein frappantes Gegenſtück zu 
den „edlen rothen Männern“, welche von den Dichtern oft 
in anmuthigen Romanzen beſungen worden ſind! Waſhakie's 
Unterthanen gehörten zu demſelben Indianerſtamme, welcher 
im öſtlichen Oregon jahrelang ſoviel Unfug trieb. Seit 
General Connor aber im Jahre 1863 an vierhundert der— 
ſelben am Bärenfluſſe tödtete und General Crook ſie im 
Oregon zuſammenhieb, haben ſie ſich, die Untugend des 
Pferdeſtehlens abgerechnet, in dieſer Gegend muſterhaft be— 
tragen. Ich konnte deshalb nicht umhin, mit Fürſt Waſhakie 
Brüderſchaft zu trinken. Leider war ich ſo unvorſichtig, 
ihm die dickbauchige Whiskeyflaſche mit dem köſtlichen Feuer— 
waſſer darin zuerſt hinzugeben, die er, wahrſcheinlich in 
der Abſicht, um mir einen Beweis ſeiner tiefgefühlten Hoch— 
achtung zu geben, auf einen Zug bis auf die Nagelprobe 
leerte. Die Indianer brachen ſoeben ihr Lager ab, das an 
einer Stelle geſtanden, wo mächtige Sandſteinwälle wie 
rieſige Baſtionen aus einem anſehnlichen Berge (table rock) 
hervortraten. Die Squaws, welche ihre Kinder in Korb— 
geflechten auf dem Rücken trugen, waren alle fleißig bei 


87 ; 

der Arbeit und leiſteten willig Handlangerdienſte. Die in 
Lumpen gehüllten Männer der Wildniß ſahen gleichgültig 
der Arbeit zu, während ihre Ehehälften ſchwere Bündel 
fortſchleppten und die langen Zeltſtangen, den Proviant 
und die als Zeltdächer dienenden getrockneten Büffelhäute 
auf den Rücken der Ponies befeſtigten. Auf der Wande— 
rung ſchleifen die mit einem Ende am Sattelknopfe befeſtigten 
ſechszehn bis achtzehn Fuß langen Zeltſtangen mit dem an— 
deren Ende am Boden hinter den Ponies her. Waſhakie 
war Generallieutenant (lighting chief) der Bande. Ein 
älterer Häuptling ſchlichtete die häuslichen Zwiſtigkeiten 
und handhabte die Geſetze mit eiſerner Strenge. Die 
Stage-Compagnie hatte aus Reſpect gegen den großen Häupt— 
ling Waſhakie eine ihrer Stationen, die zweite weſtlich von 
Bridger's Paß, nach ihm benannt, * 

Das Bitterbach-Thal ſchien gar kein Ende nehmen zu 
wollen. Wie es Leute geben konnte, die freiwillig in einer 
ſolchen Gegend wohnten, war ein pſychologiſches Räthſel. 
Aber die Stationswächter ſahen Alle geſund und zufrieden 
aus, und das Seifenklima mußte ihnen wohl zuträglich 
fein. Da der Boden dieſes Thales ganz von Alaaliſalzen 
geſchwängert und ſelbſt das als Feuerholz benutzte Salbei— 
geſtrüpp und das Trink- und Kochwaſſer voll davon waren, 
ſo kamen die Bewohner dieſes Seifenſiederparadieſes eigent— 
lich nie aus dem Seifengeſchmack heraus. In einer Weg— 
ſtation wohnte eine Mormonenfamilie. Die Hausfrau, eine 
vierſchrötige Schwedin, erzählte uns, daß ihr Gemahl mit 
ſeiner erſten Ehehälfte, einer Dänin, nach Salt Lake City 
gereiſt ſei. Hier war ein practiſcher Beweis von der Aus— 


Von der Unionpacific-Eifenbahn iſt dieſe Station als Halte⸗ 
platz beibehalten worden, ſo daß Waſhakie's ſtolzer Name der Zu— 
kunft nicht verloren gehen wird. 


88 


führbarkeit einer ſkandinaviſchen Union, obgleich Dänemark 
wie gewöhnlich das Commando führen wollte. Die Schwedin, 
welche die Kinder der Dänin mit ihren eigenen zu Hauſe 
behalten hatte und hätſchelte, ſchien mit ihrer Familienſtellung 
als zweite Ehehälfte ganz zufrieden zu ſein und wurde von 
uns mit Verwunderung betrachtet. 

Für die nach dem Weſten ziehenden Emigranten iſt das 
Bitterbachthal oft ein wahres Todtenthal geworden, denn 
Hunderte von Stück Vieh kommen daſelbſt jährlich durch 
Futtermangel und Entbehrungen um. Von den Mauleſeln 
und Ochſen werden im Nothfall die Salbeiblätter gefreſſen, 
aber die Pferde ſind für ein derartiges Futter zu civiliſirt; 
dieſe hungern lieber oder knabbern an den ſpärlich wachſen— 
den mit Alcaliſalzen gewürzten vergilbten Grasbüſcheln, als 
ſich an den Salbeibüſchen zu vergreifen. Bricht etwas an 
den Fuhrwerken, was auf den rauhen Wegen nicht ſelten 
vorkömmt, ſo iſt bei alsdann unvermeidlichem Aufenthalte 
der Tod eines Theiles der Zugthiere die unvermeidliche 
Folge. In den Sommermonaten ſoll der mit Alcali ge— 
ſchwängerte Staub bei der hier herrſchenden Backofenhitze 
kaum zu ertragen ſein. Die Stationsgebäude und die er— 
bärmlichen Wickiups (Zelthütten) der Indianer abgerechnet, 
ſieht man gegenwärtig auf der ganzen vierhundert engliſche 
Meilen langen Strecke von der Laramie Ebene bis zum 
Salzſee kaum eine einzige Menſchenwohnung. Im Bitterbach- 
thale gipfelt die troſtloſe Dede dieſer Salbeiwildniß. Es 
muß Wunder nehmen, wie Ochſenfuhren, welche nur zehn 
bis zwölf engliſche Meilen im Tage zurücklegen, es möglich 
machen, jene endlos ſcheinende Einöde zu durchkreuzen. 
Aber ſie thun es, Jahr ein, Jahr aus. Wenn erſt das eiſerne 
Roß ſeine Stelle einnehmen wird, und die Reiſenden aus 
den Fenſtern dahinfliegender Palaſtwaggons dieſe ungaſtliche 
Wildniß betrachten werden, mögen ſich Jene der armen Emi 


89 


granten erinnern, welche vor ihnen mit heißen und wunden 
Fußſohlen, entzündeten Augen und ausgetrocknetem Gaumen 
Schritt vor Schritt durch dieſe gleichſam von Gott ver— 
fluchte Gegend ziehen mußten, ehe ſie die fruchtbaren Thäler 
am fernen Stillen Meere erreichen konnten. 

Endlich hatten wir das Bitter-Creek-Thal hinter uns 
und wir fuhren am hohen Nachmittage auf hartem Wege 
über eine baumleere Hochebene. Rechter Hand hatten wir 
eine ſchöne Ausſicht auf die ſchneegekrönten Windfluß-Berge 
(wind river mountains), welche ſich mit ihren zahlreichen 
glänzenden Gipfeln, worunter der Fremont's Peak, herrlich 
ausnahmen. Im Frühjahr 1868 wurden in jener Berg— 
kette Goldadern entdeckt; zwiſchen ihr und dem Süd-Paß 
in den Felſengebirgen liegen, nicht weit von den Quellen 
des Grünen Fluſſes, die „Sweet Water-Goldminen“. Das 
Land zeigte ſich jetzt wieder ſehr zerriſſen, die Berge waren 
mit loſem gebrannten Geſtein bedeckt. Mit Ausnahme von 
grauem Salbeigeſtrüpp, verkrüppeltem Wachholder und 
ſpärlich wachſenden vergilbten Grasbüſcheln gab es auch 
hier keine Vegetation. Unter den Steinen waren rothe und 
bunte Carneole, welche geſchnitten zu Ringen verarbeitet 
werden, und Achate zahlreich. Der hier beſonders häufig 
vorkommende Moosachat, ein von feinen Moosblättchen 
gleichſam durchwirkter Feuerſtein, wird geſchliffen vielfach 
zu Bruſtnadeln, Siegelringen, Uhrgehängen und dergleichen 
Zierrathen benutzt. 
Bei Sonnenuntergang erreichten wir den hier die 
Grenze zwiſchen den Territorien Wyoming und Utah bil— 
denden Green River, einen Nebenfluß des Colorado. Die 
Berge an den Ufern jenes Stromes waren nackt und 
phantaſtiſch geformt. Gewaltige Felspyramiden wuchſen gleich— 
hie und da aus den jähen Abhängen hervor. Auf 
halsbrechendem Wege fuhren wir im ſchlanken Trab hin— 


90 


unter in das felſige Thal, überſchritten den etwa achtzig 
Ellen breiten Strom vermittelſt einer Fähre und gelangten 
bei einbrechender Nacht nach der 403 engliſchen Meilen von 
Denver entfernten Station „Green River“. Zu unſerer 
Freude erfuhren wir todtmüden Reiſenden hier, daß wir 
vor dem nächſten Morgen nicht weiterfahren ſollten. Nach 
genoſſenem frugalen Abendbrot ſtreckten wir uns im ge— 
ſelligen Nebeneinander auf dem nackten Fußboden des Fremden— 
zimmers und fielen bald in tiefen Schlaf, trotzdem ſieben 
Grünfluß⸗Dilettanten eine ohrzerreißende muſikaliſche Soiree 
mit vier kratzenden Geigen, einer verſtimmten Guitarre, einem 
Banjo und einer Ziehharmonika in unſerer Stube aufführten. 

Die neue Sonne fand uns, geſtärkt von erquickendem 
Schlummer wieder auf der Reiſe, in der bequemen „Eclipſe“ 
immer noch weſtwärts kutſchirend. Das Wetter war wunder— 
ſchön und ein wolkenloſer tiefblauer Himmel wölbte ſich 
über uns. Einen eigenthümlichen Gegenſatz zu der uns 
umgebenden einförmigen Landſchaft, mit ihren öden Sand— 
hügeln und dem mit verkrüppeltem Salbeigeſtrüpp ſpärlich 
bewachſenen harten Lehmboden, bildeten rechts in der Ferne 
die Windfluß-Berge und linker Hand, im Südweſten, das 
ſchöne Uinta-Gebirge in Utah. Beide, zu dieſer Jahreszeit 


* Als der nach dem Weſten fortſchreitende Bau der Union— 
pacific⸗Eiſenbahn den Green River erreichte, ſprang hier eine von 
den wüſteſten Städten, welche Amerika je geſehen hat, gleichſam aus 
dem Boden hervor, die beim Weiterbau der Eiſenbahn aber eben ſo 
ſchnell wieder verſchwand. Das zu damaliger Zeit ſich in „Green 
River City“ breit machende ungezügelte Leben der daſelbſt aus aller 
Herren Länder zuſammengeſtrömten Abenteurer ſpottet aller Be— 
ſchreibung. Jetzt iſt dort auf das Lärmen und wüſte Treiben jener 
Strolche, auf den Glanz der Spielhöllen, Trinkbuden ꝛc. ꝛc. die 
öde Stille der Wildniß gefolgt, und nur das bei einer beſcheidenen 
Station zeitweilig anhaltende Dampfroß macht die Felshänge von 
ſeinem wilden Geheul widerhallen. 


91 


ſchneebedeckte, Bergketten blinkten mit ihren gezackten 
Gipfeln herrlich in dem hellen Sonnenlichte. Ab und zu 
kamen wir an einigen elenden indianiſchen Wickiups vorbei, 
deren zerlumpt bekleidete Bewohner, die dem Stamme der 
Shoſhones angehörten, uns mit verdummten Geſichtern 
nichtsſagend anſtierten. Als Lewis und Clark im Jahre 
1805 ihre erſte Reiſe über den nordamerikaniſchen Continent 
machten, waren die Shoſhones ein mächtiger, kriegeriſcher 
Stamm; jetzt ſind ſie geiſtig und körperlich ganz verkommen 
und gehen mit ſchnellen Schritten ihrem Untergange entgegen. 

Der Boden wird nun ſteiniger, und hie und da traten 
ſeltſame iſolirt daſtehende Hügel (Buttes) aus der baum— 
leeren öden Ebene hervor. Der Grund war mit bunten 
Kieſeln, Granitſtückchen, weißen, gelben und marmorirten 
Quarzſplittern und pechartig ausſehendem Obſidian (ſchwar— 
zem natürlichen Glaſe) gleichſam überſäet, welche Steine 
augenſcheinlich alle in der Urzeit von einer über dieſes 
Plateau hinbrauſenden gewaltigen Fluth abgerundet worden 
waren. Die in dieſer Gegend häufig vorkommenden Moos— 
achate nahmen unſere Aufmerkſamkeit ganz beſonders in 
Anſpruch: ſchnell ſprangen wir vom Wagen, wenn wir ein 
hübſches Stück davon am Wege gewahr wurden, um uns 
gegenſeitig den Fund abzujagen. Dreißig Meilen weſtlich 
vom Green River wurden wir zur Veränderung wieder 
einmal auf einen Rumpelwagen verſetzt, ein ganz unnöthiger 
Umzug, da die Poſtkutſche juſt ſo gut wie ein offener 
Bauernwagen auf dieſem glatten Wege hätte fahren können. 
Doch hatten wir dabei das Angenehme, auf den Poſtſack— 
Kiſſen eine freie Rundſchau genießen zu können. 

Wir näherten uns jetzt dem ſogenannten Kirchen— 
felſen (church butte), einem der intereſſanteſten Natur— 
wunder auf der Ueberland-Route. Bereits aus bedeutender 
Ferne ſahen wir ſeine unförmliche Felsmaſſe linker Hand 


92 


dicht an der Landſtraße über die öde Ebene emporragen. 
Ich fühlte mich zuerſt ſehr getäuſcht, denn ich vermochte 
in dem Felſen durchaus keine Aehnlichkeit mit einer Kirchen— 
ruine zu entdecken. Als wir jedoch demſelben näher kamen, 
nahm die Sandſteinmaſſe allmählich eine wunderbare Ge— 
ſtalt an, und als wir langſam erſt vor feiner langen Fagade 
und dann ganz um den Berg herumfuhren, erſtaunten wir 
über dieſen einer ungeheuren Tempelruine in der That auf— 
fallend ähnlichen Naturbau. 

Der Berg, denn als einen Felſen konnte man die 
vor uns liegende gewaltige Sandſteinmaſſe nicht wohl be— 
zeichnen, war von jeglicher Vegetation entblößt. Seine 
lange Fagade zeigte eine wunderbare Aehnlichkeit mit einer 
in Trümmer ſinkenden uralten rieſigen Tempelmauer. Ver— 
witterte Säulen und hohe, und halb zerfallene Spitzbögen 
ragten empor, die ſich bald wie Fenſterniſchen, bald wie 
von Schutt ausgefüllte Portale ausnahmen. Gigantiſche 
Bilder waren gleichſam aus den Felſen hervorgehauen, hatten 
aber im Laufe der Jahrtauſende ihre Schönheit eingebüßt. 
Mit theilweiſe abgebrochenen Gliedern, hier kopflos, dort 
wieder mit weit aufgeriſſenen Augen Einen ſeltſam an— 
ſtierend, ſaßen ſie in faltenreichen Gewändern an der Berg— 
wand da. Es bedurfte nur ein wenig Einbildungskraft, 
um dieſe ſeltſamen Sandſteingebilde in Götzen der Urzeit 
umzuwandeln. Mächtige Strebepfeiler, wie man ſie an 
gothiſchen Kirchen ſieht, traten in gleichmäßigen Zwiſchen— 
räumen aus der Maſſe des Berges hervor, als ob die zu— 
ſammenſinkenden Mauern damit geſtützt werden ſollten. Als 
wir um den „Church Butte“ herumfuhren, der eine halbe 
Meile im Umfang war, vermehrte ſich unſer Erſtaunen 
über die ſonderbaren Felsgebilde, womit die ſchaffende Natur 
dieſen Wunderbau ausgeſtattet hatte. Wir meinten an den 
Mauern ſeltſame Thiergeſtalten zu erkennen, und an einer 


93 


Stelle drängten ſich die zwölf Apoſtel, mit abgebrochenen 
Beinen und Naſen, in einer Niſche zuſammen. Weiterhin 
war ein Dach eingeſtürzt, und die Kapitäler zerbrochener 
Säulen bedeckten den Boden; daneben lag ein Arm und die 
Rieſennaſe eines Mönchs, der, in zerriſſener Kutte, unter 
eine Säule gefallen war. Von einer zertrümmerten Orgel 
ſtanden noch eine Anzahl Pfeifen da, und eine Kanzel ſchien 
ziemlich gut erhalten zu ſein. Das Hauptſchiff war ganz 
zuſammengeſtürzt, nur hie und da ſtand noch eine offene 
Fenſterniſche, durch welche man den blauen Himmel ſehen 
konnte. War nun der „Church Butte“, bei Tage geſehen, 
ſchon ein Wunder in der Wüſte, welchen Eindruck mußte 
er da in heller Mondnacht mit ſeinen geiſterhaften Ruinen 
und Märchengeſtalten auf den Beſucher machen! 


Der Kirchenfels. 


Ein wüſter Tempel ragt empor 
Im Weſt, an Wundern reich, 
Wo ſich Dakota's Oede bleich 
Ausdehnt zum Echothor.“ 


Durch's Bitterthal dein Weg dich führt, 
Wo die Gebirge ſchau'n 
Wie aſchenfarb'nes Todesgraun, 
Von Wölfen Nachts durchſpürt. 


Uinta blinkt im hellen Blau 
Im Süd von Utah her, 
Und um und um ein endlos Meer 
Von Haide, dürr und grau. 


* Der öſtliche Zugang von Echo Canon. 


— .. 


94 


War'n thätig fleiß'ge Geiſterhänd' 
Beim Bau des Tempels dort? 
Fürwahr, ein ſeltner Schauerort 
Für ſolch ein Monument! 


Vor hunderttauſend Jahren ſtand 
Allhier ein Rieſendom, 
Davor die Peterskirch' in Rom 
Wie eitler Spielwerkstand. 


Der Ew'ge hat aus Chaos Leer' 
Im Anfang ihn gebaut; 
Doch wie ſein Tempel einſt geſchaut, 
Weiß Niemand heute mehr. 


Nur Trümmer, rieſenhaft zertheilt, 
Zernagt vom Zahn der Zeit, 
Sieht der beſtaubte Wand'rer heut', 
Der durch die Wüſte eilt. 


Zerbroch'ne Säulen, gelblich-braun, 
Und Mauern, morſch und bloß, 
Aus deren trümmervollem Schoß 
Gigant'ſche Bilder ſchaun; 


Wie betende Figuren bald, 
Wie Ungeheuer hier, 
Halb Menſchen gleich, halb wildem Thier 
In fremder Urgeſtalt. 


Die Kanzel an den Fels ſich ſchmiegt: 
Der ſtolze Hochaltar 
Mit alter Heil'genbilder Schar 
In tauſend Trümmern liegt. 


95 ( Er 
Die Kuppel ragt im Sonne gol 
Wie ein Gebirg' empor, — 
Die mächt'ge Orgel, Rohr an Rohr, 
Als ob ſie donnern ſollt'! 


Ein Chor, durchbrochen einſt im Kranz 
Von wunderbarem Fries, — 
Der Mososachate ſelt'ner Kies 
Beweiſt den alten Glanz! — 


Wenn voll der Mond mit Silberſchein 
Umſpielt die Trümmer ſacht, 
Soll's um die ſtille Mitternacht 
Hier nicht geheuer ſein. 


Man hat geſehn, wie Bild auf Bild 
Vom Felſen kam herab, 
Und wanderte um's Tempelgrab, 
In Trauer tief gehüllt. 


Und dröhnte dann der Orgel Baß, 
Als ob Niagara 
Den Bau durchtobte, — wer ihm nah', 
Entfloh, vor Schrecken blaß! 
. 4 * 

An den von allen Seiten aus dem „Church Butte“ 
ſo zu ſagen herausfließenden Strömen von pulveriſirtem 
Sandſtein kann der Beſchauer leicht erkennen, wie jenes 
ſeltſame Naturſpiel entſtanden iſt. Regen, Sturm, Froſt 
und Hitze, und namentlich die in dieſer Gegend ſtetig wehen— 
den, feine Sandtheile mit ſich fortführenden, heftigen Winde 
haben die weicheren Beſtandtheile des Felſens allmählig 


| 


—— . ONE. u 


96 


fortgenagt, ihn gleichſam ausgemeißelt. Noch ein paar 
Jahrhunderte, vielleicht nur Jahrzehnte, und jener Wunder— 
felſen wird von der Erdoberfläche verſchwunden ſein. Ein 
öder Sandberg wird die Stätte andeuten, wo einſt der ge— 
waltige „Kirchenfels“ ſtand und die Reiſenden in Erſtaunen 
geſetzt hat.! Aehnliche, wenn auch nicht in demſelben Grade 
wie der „Church Butte“ merkwürdige Felsgebilde zeigen ſich, 
wie oft erwähnt worden, weſtwärts vom Miſſouri bis nach 
den Grenzen Californiens in erſtaunlicher Menge und Ab— 
wechſelung. So einförmig die endlos ſcheinenden Steppen 
und Salbeiwüſten ſonſt ſind, jene ſeltſamen Felsauswüchſe 
geben ihnen einen immer neuen Reiz. Die meilenlangen 
Felſenmauern, welche, oft eine über der andern, an den 
Hügelkronen hinlaufen, bald wie künſtlich aufgeworfene 
Dämme, mit Durchbrüchen in regelmäßigen Zwiſchenräumen, 
bald wie Feſtungsmauern, mit Baſtionen, Cavalieren und 
detachirten Forts ſich ausnehmend; jene natürlichen Säulen, 
Pyramiden und Obelisken und die tauſend mehr Nonde— 


* Die Pacific-Eiſenbahn nimmt ihren Weg ſieben engliſche 
Meilen nördlich vom Church Butte. Wenn Robert von Schlag— 
intweit (dem ich bei dieſer Gelegenheit meinen Dank für die freund— 
liche Aufmerkſamkeit ſage, womit derſelbe meinen Namen in ſeinen 
Werken öfters genannt hat) in ſeinem intereſſanten Buche „Die 
Pacific-Eiſenbahn in Nordamerika“ (bei Eduard Heinrich Mayer, 
Cöln und Leipzig 1871) bemerkt: — „daß man von der Eiſenbahn— 
Station Church Buttes die Umriſſe einer rieſigen Cathedrale 2c. 
hoch oben am Gebirge ſehe“ — ſo iſt dies ein doppelter Irr— 
thum. Der „Kirchenfels“ liegt unter einer Reihe von niedrigen, 
aus Sandſtein und Conglomerat gebildeten Hügeln auf einer flachen 
Hochebene, und iſt von der Eiſenbahn gar nicht bemerkbar. Wie 
der gegenwärtig in der Eiſenbahnſtation Church Buttes angeſtellte 
Agent, Herr J. Leach, mir gütigſt mitgetheilt, zerfällt der „Kirchen— 
fels“ in letzten Jahren ſehr ſchnell und hat jetzt faſt gar keine Aehn— 
lichkeit mehr mit einer Tempelruine. Der Verf. 


97 


feripta, welche wie Runenringe und Monumente auf den 
Hügeln thronen, oder wie halbzertrümmerte Rieſenwerke 
der Urzeit auf den Ebenen und am Gebirge daſtehen, muß 
man geſehen haben, um ſich eine richtige Vorſtellung von 
ihnen machen zu können. 

Doch die Zeit drängt zur Weiterreiſe! — Noch ein 
paar hübſche Stücke Moosachat, zur Erinnerung an den 
„Church Butte“, leſen wir auf, und dann haut der Kut— 
ſcher auf die Gäule ein, der Rumpelwagen tanzt flott dahin, 
und wir vergeſſen die Poeſie des in Staub zerfallenden 
Wüſtentempels bei den unſanften Berührungen mit den 
Kupfernägeln und eckigen Staatsdocumenten von Onkel 
Sams Poſtſackkiſſen. 

Die Sonne brannte heißer herab und bräunte uns 
mehr und mehr. Die dichten Staubwolken, welche das 
offene Gefährt umgaben, Augen, Naſe und Ohren mit feinen 
Sandtheilen anfüllten und das Geſicht grau überzogen, gaben 
uns das Anſehen von vergilbten, in dieſem verzauberten 
Lande wieder zum Leben erſtandenen Mumien. Wenn wir 
nach dem ſchneebedeckten Uinta-Gebirge hinüberblickten, wel— 
ches uns in einer Entfernung von etwa fünfunddreißig engliſchen 
Meilen zur linken Hand das Geleite gab, ſo konnten wir 
nicht umhin, uns nach ſeinen Schneefeldern und ſchattigen 
Thälern zu ſehnen und den Wunſch zu hegen, unſere bren— 
nenden, beſtaubten Glieder in einem kühlen Waldbache baden 
und den trockenen Gaumen mit friſchem Quellwaſſer netzen 
zu dürfen. Der Gegenſatz zwiſchen der öden, ſonnver— 
brannten Gegend, durch welche die Landſtraße führte, und 
jener prächtigen Bergkette ließ die Salbeiwüſte doppelt 
traurig erſcheinen 

Als wir uns gegen Abend Fort Bridger näherten, ge— 
wann die Gegend ein freundlicheres Ausſehen. Am Ufer 
eines murmelnden Baches, der ſich wie ein luſtiger Wanderer 


1 


98 


durch die Salbeiwüſte einen Weg ſuchte, erfreuten ſaftige 
grüne Grasflächen das Auge. Auch einige canadiſche Pap— 
peln bemerkte ich, die erſten Bäume, welche ich ſah, ſeit 
wir Bridger's Paß verlaſſen hatten. Gegen Sonnenuntergang 
zeigten ſich endlich die erſehnten Wohnhäuſer und Garniſons— 
gebäude von Fort Bridger, und bald darauf galoppirte 
unſer Viergeſpann über den großen Raſenplatz des „Forts“ 
nach dem Stations-Wirthshaus, wo wir ein angenehmes 
Quartier fanden. Auf den beſouderen Wunſch ſämmtlicher 
Paſſagiere telegraphirte der Agent der Stage-Compagnie 
in Fort Bridger in unſerem Namen ſofort nach der Station 
Weber und erſuchte den dort anſäſſigen Diviſionsagenten, 
uns zu erlauben, hier bis zum nächſten Morgen raſten zu 
dürfen. In zwei und einer halben Minute brachte der 
dienende Blitz, welcher mittlerweile hundert engliſche Meilen 
durcheilt hatte, die frohe Erwiderung: „permitted with 
pleasure!“ — In Fort Bridger war es idylliſch, daß 
man uns den Wunſch, daſelbſt ein wenig zu verweilen, 
nicht verargen konnte. Der anſehnliche Militairpoſten, wo, 
außer den dort garniſonirenden Truppen, mehrere dem Civil— 
ſtande angehörige Familien in ſchmucken Privathäuſern 
wohnten, lag in einer fruchtbaren Niederung, die von vier 
Armen des Black Fork-Fluſſes durchſtr᷑ömt ward. Grüne 
Wieſen, rauſchende Baumwipfel, Blumengärten, mur— 
melnde Bäche und die ſilbernen Alpenwipfel von Ulinta 
in der Ferne: — es war wie ein Zauberparadies in der 
endloſen Salbeiwildniß, das wir, nach langer Entbehrung 
aller jener Herrlichkeiten, wie eine Oaſe in der Wüſte be— 
grüßten! 


3. Die Cauons * in Utah. 


Der ſechste Morgen des Maimonds war angebrochen, 
der achte Tag unſerer Stagefahrt von Denver, und wir 
rüſteten uns zur Weiterreiſe. Nur ungern ſagte ich dem 
freundlichen Fort Bridger Lebewohl, wo wir, ſeit wir La 
Porte am Fuße der Schwarzen Hügel verlaſſen hatten, 
zum erſten Male wieder ein angenehmes Quartier und gute 
Verpflegung fanden. Sogar Auſtern und eingemachte Früchte 
erſchienen hier auf der Wirthstafel, als ſollte damit der 
Beweis geliefert werden, daß ſolche Gerichte auch wirklich 
auf der Ueberland-Route exiſtirten. Als Regel werden 
dieſelben jedoch nur in Amerika berühmten Journaliſten und 
Reiſenden aufgetiſcht, bei denen die Stage-Compagnie vor— 
ausſetzt, daß ſie die noble Behandlung, welche ihnen wäh— 
rend der Fahrt über den Continent zu Theil ward, in den 
Landeszeitungen gebührend rühmen werden. Was die allen 
Paſſagieren vor dem Antritt der Ueberland-Reiſe verſprochene 
ſchnelle Beförderung in eleganten Concord-Kutſchen anbe— 
trifft, ſo iſt dabei im Allgemeinen dieſelbe Regel wie bei 
der Naturalverpflegung ſtichhaltend, wie der Leſer es von 
den Rumpelwagen, Schmutzwagen, Schlitten und Käfichen 
wohl ſchon gemerkt hat. Doch hört es ſich recht hübſch an, 
wenn man z. B. erfährt, wie der Millionär Ben Holladay 


| 


* Sprich: Kénnyon — enges Thal — ein dem Spaniſchen 
entlehntes Wort. 


1 


7 * 


100 


in ſechs und einem halben Tage von Salt Lake City nach 
Atchiſon am Miſſouri fuhr und nur zwölf Tage und zwei 
Stunden, ohne das eiſerne Roß zu benutzen, von San 
Francisco dorthin unterwegs war. 

Die Stagekutſcher, welche gern von ſolchen ſchnellen 
Reiſen berichten, erzählen den Paſſagieren oft und mit 
Stolz von der wilden Fahrt, womit einer von ihrer Gilde, 
der berühmte Sechsgeſpannlenker Hank Monk weiland 
den weltbekannten Horace Greeley über die Sierra Ne— 
vada beförderte. Dieſem ging die Reiſe über den Con— 
tinent (es war im Jahre 1859) immer noch zu langſam, 
obſchon man überall auf der Linie für friſchen Vorſpann 
und die beſten Renner geſorgt hatte. Er befand ſich ge— 
rade in dem damaligen Territorium Nevada und bemerkte 
zu dem Kutſcher, daß man ihn zu einer beſtimmten Stunde 
in einer kleinen californiſchen Stadt jenſeits der Sierra 
erwarte, in der er eine Rede halten ſolle; er würde 
aber ſicherlich die dort angeſagte Vorleſung verſäumen, falls 
die Reiſe in einem ſolchen Schlendrian weiter ginge. Hank, 
der den mürriſchen Philoſophen dazumal in Obhut hatte, 
ſpannte bei der nächſten Station ſechs wilde Muſtangs vor 
und rief Herrn Greeley zu, als er die Zügel ergriff und 
auf die Renner einhieb: „Keep your seat, Mr. Greeley, 
we'll get yon there on time!“ (bleiben Sie nur ruhig 
ſitzen, Herr Greeley, wir werden Sie ſchon zur rechten Zeit 
hinbringen). — Die Straße war hier eine der felſigſten 
und gefährlichſten auf der ganzen Ueberland-Route; aber 
darum kümmerte ſich Hank Monk gar nicht. In ſauſender 
Carrierre jagte er bergauf und bergab, in kurzen Wendungen 
um vorſpringende Felswände herum und am Rande tiefer 


* Gegenwärtig legt man diefelbe Strecke auf der Pacifiebahn 
in regelmäßig vier Mal vierundzwanzig Stunden zurück. 


101 


Abgründe entlang, ohne auf die großen Steine im Wege 
zu achten, gegen welche die Kutſche jede Minute mit den 
Rädern anrannte, ſo daß dieſelbe wie ein Schiff in hohler 
See wankte und ſchwankte und jeden Augenblick entſetzliche 
Sätze machte. 

Greeley, welcher ganz allein in der Stage ſaß, machte 
die verzweifeltſten Anſtrengungen, ſeinen Sitz zu behaupten. 
Vergebliche Mühe! Von einer Ecke des Wagens in die andere 
ward er geſchleudert und ſtieß bei jedem Sprung, den die 
Kutſche machte, mit dem Kopfe gegen die Wagendecke. An 
einer etwas weniger rauhen Stelle auf der Landſtraße 
rief Horaz dem Kutſcher ängſtlich aus dem Wagenfenſter 
zu, daß er nicht ſo große Eile habe, worauf dieſer ganz 
ſarcaſtiſch erwiederte: „Bleiben Sie nur ruhig ſitzen, Herr 
Greeley, wir werden Sie ſchon zur rechten Zeit hinbringen!“ 
— und weiter ging's in noch raſenderer Eile, und Hank 
peitſchte auf die Muſtangs los und ſtimmte dabei ein india— 
niſches Schlachtgeheul an, daß es dem friedlichen Welt— 
weiſen bei dem wilden Gejauchze und den unaufhörlichen 
Knuffen und Stößen in der Stage förmlich grün und gelb 
vor Augen wurde. Als Hank auf die Minute in dem 
Städtchen anlangte, wo Herr Greeley ſeine Rede halten 
wollte, ſoll der dazumal halb geräderte Horaz mit ſeinem 
ganz demolirten weißen Cylinderhut eine gottsjämmerliche 
Figur geſpielt haben. Doch war er klug genug, die wilde 
Stagefahrt als einen guten Scherz hinzunehmen. Als Hank 
Monk ſpäter einmal mehrere Paſſagiere auf ähnliche Weiſe 
über dieſelbe gefährliche Gebirgsſtraße beförderte, ſchenkten 
ihm dieſe eine ſilberne Uhr mit dem darauf gravirten Spruch: 
„keep your seat ete.““ —, und das von Greeley erlebte 
Abenteuer iſt auf der Ueberland-Stageroute hiſtoriſch be— 
rühmt geworden, — wir reiſ'ten jedoch nicht auf eine ſolche 
barbariſche Weiſe, ſondern mehr nach dem Motto: „Nur 


102 


immer langſam voran!“ Doch hatten wir den Vortheil da— 
von, Land und Leute gründlich kennen zu lernen. Eine 
Geſchwindreiſe in eleganten Concord-Kutſchen, wie ſie Ben 
Holladay, Colfax, Greeley und andere über den Continent 
gemacht haben, wobei unterwegs in Saus und Braus ge— 
lebt wird und nur die Lichtſeiten des Landes durch ge— 
ſchliffene Champagnergläſer geſehen werden, hat gewiß ihre 
ſehr angenehmen Seiten; aber eine richtige Vorſtellung von 
den Culturzuſtänden im fernen Weſten können berühmte 
Männer in Amerika auf ihren Ausflügen unmöglich erlangen, 
außer ſie beſehen ſich das Land incognito und reiſen wie 
andere gewöhnliche Sterbliche. — 

Hinter uns lag die Oaſe von Fort Bridger und wir 
ſteuerten wieder hinaus in eine öde Gegend, welche je— 
doch nicht mehr paſſend als eine Wüſte bezeichnet werden 
konnte. Grüne Grasflächen wechſelten mit den Schnee— 
feldern ab, und ab und zu paſſirten wir kleine Hölzungen 
von niedrigen Cedern. Die Hügel waren theilweiſe be— 
waldet, ſelbſt die Salbeibüſche wuchſen üppiger und nahmen 
eine mehr grünliche Farbe an. Linker Hand begleitete uns 
noch immer das ſchöne Uinta-Gebirge, während die Wind— 
fluß⸗Berge wie weiße Wolken weit hinter uns am Horizonte 
lagen. Das Wetter war wunderſchön und in dieſer hoch— 
gelegenen Gegend, trotzdem die Sonne aus wolkenloſem 
Himmel ihre Strahlen herabſandte, angenehm kühl. Wir 
befanden uns hier noch immer 6000 bis 7000 Fuß über 
dem Meeresſpiegel und näherten uns, über zerriſſene Pla— 
teaus fahrend, den Ausläufern der Waſatch Berge, der öſt— 
lichen Waſſerſcheide des großen Salzſee-Beckens. Unter den 
oft ſeltſam geformten „Buttes“ führte einer den Namen 
„Die Rennbahn“ (race course), ein runder ringsum ſteil— 
abfallender Felsberg, deſſen ganz glatter Gipfel an ſeinem 
äußeren Rande genau eine engliſche Meile im Umfang hat, 


103 


— ein natürlicher, regelrecht angelegter Hippodrom. Zu 
beiden Seiten der Landſtraße lief eine doppelte Reihe von Tele— 
graphenpfählen hin, die eine die Denver- und die andere 
die Fort Laramie-Linie. Dicht neben uns fand fortwährend 
unſichtbar der Gedankenaustauſch zwiſchen dem Oſten und 
Weſten dieſes ungeheuren Continents ſtatt, und obgleich 
wir ſeit Wochen nur gelegentlich und in weiten Zwiſchen— 
räumen eine einſame Station paſſirt hatten, befanden wir 
uns doch hier, mitten in der Wildniß, ſtets in unmittel— 
barer Nähe des geiſtigen Verkehrs der Menſchheit; für— 
wahr! ein Gedanke, der zum etwas Stolzſein auf die Zeit, 
in welcher wir leben, wohl ſeine Berechtigung hatte. 

Wir kamen nun in ein entſetzlich felſiges Land, das 
voll von iſolirten Bergrücken, engen Schluchten und tiefen 
Thälern war. Viele Hügel hatten ein röthliches Ausſehen 
und manche von ihnen waren ſtellenweiſe mit weißer Thon— 
erde bedeckt, als ob Schnee auf ihnen läge. Fichten und 
Zitter-Espen (quaking asp) bildeten den Hauptbaumwuchs 
in dieſer Gegend. Das dunkelgrüne Laubwerk jener Bäume 
und die rothen und weißen Felſen, untermiſcht mit Schnee— 
feldern und gelblich grünem Salbeigeſtrüpp, gaben äußerſt 
bizarre Farbenſchattirungen. Wilde Berggewäſſer rauſchten 
in kurzen Zwiſchenräumen über die Landſtraße, und der 
Weg wurde furchtbar rauh und ſteinig. Nicht ſelten waren 
wir Paſſagiere gezwungen, neben dem Rumpelwagen zu 
marſchiren, namentlich an den mit wüſtem Felsgeröll be— 
deckten Bergabhängen, welche der Wagen langſam und 
ſchwankend, den Hemmſchuh an den Rädern, mehr gleitend 
als rollend hinabfuhr. Oefters mußten wir auf meilen- 
langen Strecken eine beſſere Straße ſuchen und fuhren über 
halbzerſchmolzenen Schnee, wobei die Räder das, einen pi— 
kanten Salbeiduft verbreitende Sagegeſtrüpp zerquetſchten. 
Im Wagen verſchoben ſich auf den rauhen Wegen, nament- 


104 


lich beim Bergabfahren, das Gepäck und die Poſtſack-Sitze 
faſt fortwährend. Es war zum Verzweifeln, auf dem 
Rumpelwagen ſo durcheinander geſchleudert zu werden, 
wenn nicht gar, wie mehrere Male geſchah, der Wagen 
umwarf und wir nebſt Gepäck und Poſtſäcken in intereſſanter 
Gruppirung zwiſchen Felsblöcken, Schnee und Sage-Ge— 
ſtrüpp ein plötzliches Unterkommen fanden. 

Gegen Mittag erreichten wir den Bärenfluß, welcher 
ſich in den großen Salzſee ergießt. Am Fuße einer ſteilen 
Felsterraſſe floß zwiſchen Weiden und canadiſchen Pappeln 
der gegen vierhundert Fuß breite Strom durch ein enges 
Thal, die Terraſſen waren mit grünem Graswuchs bedeckt, 
und darüber erhoben ſich baſtionenartig die rothen Felſen: 
ein außerordentlich romantiſches Bild! Wir hatten jetzt die 
Kette des Waſatch-Gebirges erreicht und befanden uns be— 
reits in ſeinen öſtlichen Ausläufern. An verſchiedenen 
Stellen wird jener Bergzug von langen und tiefen Quer— 
thälern, Casſons genannt, durchſchnitten, den natürlichen 
Zugängen zum Becken des großen Salzſees. Rechter Hand 
erhob ſich eine Kette von Schneebergen, vor uns öffneten 
ſich die Cafions, in denen der Schnee noch tief gehäuft lag. 
Goldige, blaue und weiße Sternblümlein, hellrothe Ver— 
benen und große glänzend gelbe Sonnenblumen wuchſen 
hart an den Schneefeldern, und manche bunte Blume ſchaute 
aus der kühlen weißen Decke zum blauen Himmel empor. 
Hier ſtanden, in geringer Entfernung vom Wege, die ge— 
waltigen „Nadelſelſen“ (needle rocks), mächtig aufgebautes 
Conglomeratgeſtein, das ſich in der That ſeltſam ausnahm. 
Unter den ſcharfen Felszacken, welche in langer Reihe ſchräge 
übereinander lagerten, oder umgeſtürzt am Berghange da— 
lagen, zeigten ſich halbzerſtörte Figuren, wie Nachbildungen 
von rieſigen Thiergeſtalten, Katafalken, offenen Särgen, mit 
lebloſen Mönchen darin, und anderen der Wirklichkeit täuſchend 


105 


ähnlichen Wunderdingen, welche Wind und Wetter aus dem 
langſam zerbröckelnden Geſtein geſchaffen hatten. 

Jetzt fuhren wir auf abſchüſſigem Wege hinunter zum 
Gelben Bach (yellow creek). Schneebänke, rauſchende 
Gebirgswaſſer und dicht emporwirbelnde Staubwolken, — 
Alles war hier dicht beieinander! Während der Wagen 
den jenſeits des Thales liegenden ſteilen Berg mühſam 
hinanwankte, eilten wir männlichen Paſſagiere demſelben zu 
Fuß voran und erreichten den Gipfel, als gerade die Sonne 
unterging. Noch nie hat mich eine Rundſchau mehr über— 
raſcht, als auf jener Höhe, denn wir waren nur deshalb 
den Berg hinangeſtiegen, um den Pferden das Ziehen des 
Wagens zu erleichtern, und hatten keine Ahnung davon, 
dort oben eine beſonders ſchöne Ausſicht zu treffen. In 
ungeheurem Bogen umſpannten den ganzen Geſichtskreis 
ſcharfgezackte, mit Schnee gekrönte Gebirgskämme, die von 
einander abgeſondert liegenden Ketten und Ausläufer der 
Waſatch-Berge; und alle Schneegipfel blinkten im Lichte der 
untergehenden Sonne, wie vergoldet. Die tauſend von 
einander getrennten Schneefelder, welche durch dunkle Wälder 
und ſchwarze Landſtriche ſcharf geſchieden waren, ließen die 
tiefer liegende Gegend ſchwarz und weiß gewürfelt erſcheinen, 
— ein ungeheures Schachbrett, das einen ganz ſeltſamen 
Anblick bot. Nirgends war von Cultur die geringſte Spur 
zu entdecken, die ganze Gegend ſah ſo urwild wie nur ir— 
gend denkbar aus. In weiter Ferne zeigte ſich vor uns 
die lange hellrothe Linie der Felſen von Echo Canon. 
Die Sonne war bereits untergegangen, als wir beim 
Zwielicht des aufgehenden Mondes um neun Uhr Abends 
den Eingang jener herrlichen Thalſchlucht erreichten. Un— 
merklich hatte ſich das Terrain während unſerer letzten 
zwei Tagereiſen geſenkt, und hier, 5535 Fuß über dem 
Meeresſpiegel, war die Luft milde und lau wie in einer 


106 


Sommernacht. Im Mondſchein fuhren wir auf offenem 
Wagen langſam durch dieſes romantiſchſte Felsthal in der 
neuen Welt, das nicht mit Burgen und Schlöſſern ge— 
ſchmückt iſt, ſondern, wie die Natur es geſchaffen hat, den 
Wanderer entzückt. 

Echo Kafion, welches mit feinen Fortſetzungen, dem 
Silberbach- und Parley's Canon, von Oſten den Haupt— 
verbindungsweg nach dem Baſſin des großen Salzſees bildet, 
iſt ein gegen dreißig engliſche Meilen langes gewundenes 
und enges Felsthal, daß ſich in nordweſtlicher Richtung 
nach dem Weberfluſſe erſtreckt. An ſeiner Nordſeite ragen 
die meiſtens ſenkrecht abfallenden Felſen dreihundert bis 
fünfhundert Fuß hoch empor. Dort haben die in dieſer 
Gegend vorherrſchenden heftigen Südwinde dem Geſtein ein 
verwittertes Ausſehen gegeben, mit nur ſpärlich darauf 
wachſender Vegetation, wogegen an der Südſeite die vor 
Wind und Wetter mehr geſchützten Berge gewölbt und mit 
Gras und Strauchwerk bedeckt ſind. Durch das Thal fließt, 
in oft zwanzig Fuß tief eingeſchnittenem Bette, ein Ge— 
birgsbach, der ſeinen Lauf bald auf der einen, bald auf der 
andern Seite deſſelben nimmt. Weiden und Büſche ver— 
decken nicht ſelten ſeine klare Fluth. Die rothen Felſen 
an der Nordſeite ſind von zahlreichen Querſchluchten durch— 
brochen und folgen einander wandartig, indem das weichere 
Geſtein zwiſchen dem härteren allmählig zerbröckelt und von 
Regengüſſen fortgeſchwemmt wurde. Die ſtehen gebliebenen 
Felſen find meiſtens Conglomerat. Mitunter ſpielen die— 
ſelben in's Weißliche und Hellgelbe, in der Regel aber ſind 
fie ocherroth und bilden dabei die ſeltſamſten Figuren: na= 
türliche Feſtungswerke, Pyramiden, Obelisken, Minarets, 
Pagoden, Thürme, Säulen, Porticos ꝛc. An jedem vor— 
ſpringenden Winkel wird das Auge durch eine neue impo— 
ſante Scenerie überraſcht. 


107 


Langſam fuhren wir durch das romantiſche Felsthal, 
welches im unbeſtimmten Mondlichte einen wunderbaren An— 
blick gewährte. Auf den gewölbten Höhen an der Süd— 
ſeite lag der Schnee noch ſtreifenweiſe auf dem dunklen 
Grunde, aus deſſen oft ſeltſam verſchnörkelten Figuren wir 
allerlei Urweltungeheuer erdichteten, während die blutrothen 
Felsabhänge an der anderen Seite des Thales unheimlich 
herabſchauten. In der Tiefe brauſ'ten friſch geſchmolzene 
Schneewaſſer und erfüllten die Schlucht, wo ſich dieſelbe 
verengte, mit dumpfem Getöſe. Wir ſtimmten laute Ge— 
ſänge an und riefen zahlloſe Hurrahs, um der plauderhaften 
Schönen, nach welcher das Kanon feinen Namen genommen 
hat, ein Lebenszeichen zu entlocken. Vergebliche Mühe! 
Obgleich wir, mit einander abwechſelnd, uns die ganze 
Nacht hindurch die Kehlen heiſer ſchrien, erzielten wir 
doch nicht den geringſten Erfolg. Bei einem alten Biber— 
damme, an welchem die Fluthen des Bachs aufgeſtaut wa— 
ren, ſtiegen wir männlichen Paſſagiere aus, um den Wagen 
zu erleichtern, kletterten an der ſüdlichen Thalſeite etwa 
hundert Fuß hoch durch Buſchwerk und über Felsgeröll eine 
halbe Meile weit an der überſchwemmten Stelle vorbei und 
ſprangen ſchließlich mit kräftigem Zulauf über den ge— 
ſchwollenen Bach auf den Fahrweg zurück, — im Halb— 
dunkel der Nacht eine keineswegs angenehme Paſſage! 

Jenſeits der Halbwegſtation „Echo“, die wir nach 
Mitternacht paſſirten, verengte ſich das Thal, die Fels— 
wände ragten höher und immer phantaſtiſcher empor, und 
eine dichte Vegetation von Schilf, Gräſern und Strauch- 
werk überwucherten den Bach. An dieſer Stelle hatten die 
Mormonen im Jahre 1857 Befeſtigungswerke gegen die 
Armee der Vereinigten Staaten errichtet, welche die wider— 
ſpenſtigen „Heiligen“ zur Raiſon bringen ſollte. Die Forti— 
ficationen beſtanden aus oben am Berge angelegten Bruft- 


108 


wehren, aus Dämmen quer über das Thal, welche das 
Waſſer des hindurchſtrömenden Baches ſtauen ſollten, und 
aus Haufen von loſen Steinen an den Abhängen, womit 
man die freundliche Abſicht hatte, Onkel Sam's Myrmidonen 
die Hirnſchädel einzuwerfen. Ein paar hundert Scharf— 
ſchützen hätten jedoch dieſe „Thermopylen der Heiligen“ 
leicht von den jenſeitigen Höhen unhaltbar machen oder um— 
gehen können. Während des Mormonenkrieges fand 
ein intereſſantes Intermezzo in Echo Canon ſtatt, als der 
vom Präſidenten der Vereinigten Staaten zum Gouverneur 
von Utah ernannte Herr Cummings bei Nacht durch dieſen 
Paß nach Salt Lake City reiſ'te, um dort mit Brigham 
Young Unterhandlungen anzuknüpfen. Die Mormonen 
ſetzten jenen friedliebenden Beamten durch die bedeutende 
Heeresmacht in Schrecken, welche fie in Echo Gafion ent— 
falteten. Jede halbe Meile kam er bei einer neuen Ab— 
theilung von Mormonen-Grenadieren vorbei, die von ihren 
Officieren mit verſchiedenen Regimentsnummern bezeichnet 
wurden, deren Stärke ſich der „Governor“ insgeheim notirte. 
Feuer brannten auf den Felshöhen, aufſteigende Raketen, 
Signalſchüſſe und Werdarufen wollten kein Ende nehmen, 
und Herr Cummings ward von Poſten und Feldwachen, die 
ihn nicht paſſiren laſſen wollten, halbſtundenlang examinirt. 
In Folge deſſen brachte er eine hohe Meinung von der Macht 
der Mormonen mit ſich nach Salt Lake City, was ſich dieſe 
bei den bald darauf folgenden Friedensunterhandlungen 
nach Kräften zu Nutze machten. Die große Kriegsmacht 
der Mormonen in Echo Caſion beſtand aber aus nicht mehr 
und nicht weniger denn einhundertfünfzig Mann, welche die 
Generäle der „Heiligen“ bei jedem Aufenthalte des Herrn 
Cummings ſchnell auf Wagen das Thal hinunter beför— 
derten, um als neue Heerſchaar und unter einem neuen 
Namen dem „Governor“ wieder zu imponiren. 


109 


Bei Tagesanbruch paſſirten wir die romantiſchſten Fels— 
abhänge in Echo Cafion, die ſich in rothen Maſſen ge- 
waltig emporthürmten und oft faſt über unſern Köpfen 
hingen. Zahlreiche Elſtern und Raben hatten ſich in dieſem 
Theile der Thalſchlucht an den Felswänden eingeniſtet und 
antworteten uns krächzend und ſchreiend, als wir ſie mit 
lautem Hurrah vom Morgenſchlummer aufſtörten. Aber 
Fräulein Echo blieb ſchweigſam. Beim Weberfluſſe 
öffnete ſich das Thal. Uns zur Rechten thürmten ſich dort 
die letzten Felsmauern von Echo Cafon empor, unter denen 
der „Kanzelfels“ (pulpit rock) mit ſeiner rieſigen röthlichen 
Steinbrüſtung beſonders prächtig hervortrat. 


Echo Canon. 


Ein Engpaß liegt im Utahland, 
In wilder Einſamkeit; 
Die rothen Felſen meilenweit 
Steh'n thurmhoch, Wand an Wand. 


Wie war es doch ſo anders hier 
Vor fünfzig Jahren noch, 
Als Echo fröhlich rufend zog 
Durch's rothe Felsrevier! 


Kein Lärmen, Schießen und Halloh 
Wie jetzt, Tag aus, Tag ein; 
Kein Roſſeſtampfen, wildes Schrei'n 
Von Kutſchern, wüſt und roh! 


Zu jener Zeit kam oft in's Thal 
Ein Häuptling, ſtolz und kühn; 
Nicht ſchreckten in der Wildniß ihn 
Gefahren ohne Zahl. 


110 


Vom Felsgebirge kam er her, 
Wo blinkt der ewge Schnee, 
Und zog zum blauen ſalz'gen See, 
Zum landumſchloſſ'nen Meer. 


Sein Weg lag durch den rothen Grund, 
Wo ſie, der Mädchen Pracht, 
Wie Minnehaha ſilbern lacht 
Mit loſem Schelmenmund. 


Drum hatt' er prächtig ſich geſchmückt, 
Als wollt' zur Schlacht er ziehn, 
Mit Farben, gelb und roth und grün, 
In Linien, kunſtgeſchickt. 


Auf ſteiler Felswand ſaß allein 
Das holde Kind. — „O komm'!“ — 
So rief der Krieger laut — „O komm'!“ 
Ruft's bald, wie Glöcklein fein. 


Doch kam er näher, ſchnell entflieht 
Des Mädchens Lichtgeſtalt. 
Sein Ruf am leeren Fels verhallt; 
Die Maid er nimmer ſieht. 


Und was er ſagte Wort für Wort, 
Sie ſpricht's ihm nach, vielmal, 
Und folgt ihm ungeſehn durch's Thal 
Zum letzten Felſen dort. 


Und ging er weiter, ſah zurück, 
Da ſaß im rothen Kleid 
Auf hohem Kanzelfels die Maid 
Mit ſchelmiſch frohem Blick. 


111 


Und rief er dann ein laut: „Lebwohl! 
Du liebe Maid, lebwohl! 
So rief fie leiſ' ihm nach: „Lebwohl! — 
Lebwohl! — Lebwohl! — Lebwohl!“ 


Der weißen Männer Lärmen trieb 
Hinweg das frohe Kind; 
Die Felſen ſtumm geworden ſind 
Und nur der Name blieb. 


Wohl ſtehn ſie wie im Morgenroth 
Noch immer herrlich dort; 
Jedoch die Poeſie iſt fort 
Und jeder Fels iſt todt. 


Und noch der Bach im kühlen Grund 
Schwatzt gern von alter Zeit; 
Mir hat von jener Echomaid 
Erzählt ſein Silbermund. 


Die Stageſtation „Weber“ hatte eine idylliſch-roman— 
tiſche Lage. An der einen Seite war der weſtliche Zugang 
von Echo Canon mit feinen gewaltigen rothen Felsmauern; 
die andere Seite umkränzten Gartenanlagen, grüne Wieſen 
und eingehegte Felder. Dicht hinter den Gebäuden ſtrömte 
der reißende Weber (ſprich: Wieber), nach dem Bear River 
der größte ſich in den Salzſee ergießende Fluß, und lie— 
ferte den Stationsleuten einen unerſchöpflichen Vorrath 
von köſtlichen Forellen. Meinem Freunde Wonderful ge— 
fiel es hier ſo gut, daß er mit dem Wirthe in allem Ernſte 
den Kaufpreis der Stationsanlagen beſprach. Auf dem 
„Kanzelfels“ wollte er ein Bierhaus erbauen und Echo 


112 


Caſion reizend verſchönern ꝛc. — Es bedurfte aller Logik 
des Miſter Eiſack, dem es um den Verkauf ſeiner Gold— 
minen in Montana bange ward, um feinem excentriſchen 
Reiſegenoſſen dieſe unpractiſchen Pläne wieder auszureden.“ 

Bei herrlichem Wetter fuhren wir weiter, zunächſt im 
Thale des Weber. Linker Hand lagen grüne gewölbte 
Berge, deren Gipfel theilweiſe noch mit Schnee bedeckt 
waren, rechts floß der wilde Weber zwiſchen Wieſen und 
wohlbeſtellten Feldern. Wir kamen jetzt durch eine Reihe 
von blühenden Mormonenniederlaſſungen, worunter das 
Städtchen Coalville, das ſeinen Namen nach einigen in ſeiner 
Nähe liegenden Kohlengruben führt.** Wieſenlerchen zwit— 
ſcherten ihren frohen Morgengeſang und die Menſchen 
grüßten uns alle herzlich und freundlich. Zahlreiche Berg— 
gewäſſer ſtrömten quer über die ſonſt wohlgehaltene Land— 


* Die Pacific-Eiſenbahn folgt, nachdem ſie Echo Canon ver— 
laſſen hat, dem Laufe des Weberfluſſes bis zum Baſſin des großen 
Salzſees und tritt durch das wild-romantiſche „Teufelsthor“ aus 
dem Waſatch-Gebirge in die Niederung, wo ſie bald darauf die 
Stadt Ogden erreicht. Salt Lake City, welches mit Ogden durch 
ein Nebengeleiſe verbunden iſt, 40 Meilen hinter ſich laſſend, läuft 
die Eiſenbahn (von hier an die Centralpacific genannt) nordwärts 
und im großen Bogen nach Nordweſt um den großen Salzſee, 
bis ſie ſich an ſeinem nördlichen Ende wieder direct nach Weſten 
wendet. Die alte Stageroute führte von Echo Canon erſt eine 
Strecke durch das Thal des Weber, dann in ſüdlicher Richtung 
durch das Silberbach- und Parley's Canon nach Salt Lake City. 

*. Die Wichtigkeit jener Kohlenablagerungen, welche eine Mäch— 
tigkeit von 26 Fuß haben, iſt, namentlich in Folge der in neuerer Zeit 
entdeckten reichen Silberminen im Territorium Utah, von großer 
Tragweite geworden, da der Koſtenpunkt des Bearbeitens der Erze 
durch die Nähe eines billigen Feuerungsmaterials bedeutend ver— 
ringert wird. In der Nähe von Salt Lake City find Schmelz- und 
Reductionswerke entſtanden, welche die aus jenen Gruben geförderten 
Kohlen vortheilhaft verwenden. 


113 


ſtraße nach dem Weber hinüber. Einen Bach überſchritten 
wir auf einer Strecke von acht engliſchen Meilen dreizehn 
Mal. Aus einem Thor von hellrother Thonerde brach er 
links vom Wege brauſend aus dem Gebirge hervor. 

Wir gelangten jetzt in das „Silberbach Caſion“ 
(silver creek cafion), eine enge gewundene Thalſchlucht, 
in deren Mitte ein brauſender Bach, der mehrere Säge— 
mühlen trieb, zwiſchen Weiden hinſtrömte. Jedes zum An— 
bau geeignete Fleckchen Erde hatten die fleißigen Mormonen 
hier, oft durch Anwendung koſtſpieliger Irrigation, unter 
Cultur gebracht. Die dicht auf einander folgenden Cafions 
wurden von nun an immer enger und felſiger, und der 
Weg verſchlechterte ſich zuſehends. Derſelbe war aus der 
Böſchung des Berges herausgeſchnitten und ſo ſchmal, daß 
das äußere Rad unſeres Rumpelwagens oft beinahe den 
Rand des Abhanges berührte. An einer ſolchen Stelle be— 
gegneten wir einem mit zehn Joch Stieren beſpannten Fracht— 
wagen und waren gezwungen, unſer Fuhrwerk eine viertel 
Meile weit zurückzuziehen, um jenem an einem breiteren 
Platze Gelegenheit zu geben, an uns vorüber zu fahren. 
Da der im Thalgrund fließende Bach mitunter hoch an— 
ſchwillt und den Weg überfluthet, ſo war für ſolche Fälle 
eine zweite Landſtraße, etwa hundert Fuß höher und ſpa— 
rallel mit der unteren, am Berge entlang gebaut, die wegen 
ihrer gefährlichen Lage aber nur bei Hochwaſſer benutzt 
wird. Bergrutſche ſind in dieſem Engpaß häufig und rich— 
ten oft großen Schaden an. Das Geröll aus Sandſtein 
und Kreide, welches die oberen Gebirgsſchichten bildete, 
hatte ſich feſt verkittet und trat öfters in ſeltſamen Figuren 
zu Tage. 

Endlich öffnete ſich die Thalſchlucht und wir traten 
hinaus auf ein baumloſes, rings von Schneebergen um— 
kränztes Plateau, den Parley's Park. Die Gegend ſah 


8 


114 


hier ganz winterlich aus und es gehörte nicht viel Phan— 
taſie dazu, ſich plötzlich in den Januarmond verſetzt zu 
wähnen. Der Weg durch dieſen „Park“, dem zum Parke 
weiter nichts als die Bäume fehlte, durch Schnee, Moraſt 
und Salbeigeſtrüpp, war beinahe bodenlos. Da die Pferde 
den Wagen nicht weiter zu ziehen vermochten, ſo mußten 
wir Paſſagiere, mit Ausnahme der Mormonenfrau und 
ihres Knaben, ausſteigen und wieder einmal eine kleine aber 
geſunde Spaziertour von etwa zwei engliſchen Meilen über 
die im Schmelzen begriffenen Schneefelder machen. Um 
uns vor dem hellen Sonnenſcheine zu ſchützen, der, von dem 
weißen Schnee reflectirend, uns faſt blind machte, ſchwärzten 
wir uns auf den Rath meines Freundes Wonderful gegen— 
ſeitig die Augenlider, und zwar mit Patent-Stiefelwichſe, 
welche Miſter Eiſak, der gern den Eleganten ſpielte, ſtets 
in der Weſtentaſche bei ſich führte. Der ſchwarze Farbe— 
ſtoff, welcher die blendenden Sonnenſtrahlen zum Theil ab— 
ſorbirte, gab unſeren Sehnerven ſofort Erleichterung; aber 
wir ſahen eher einer Bande von Straßenräubern, als einer 
lebensmüden Geſellſchaft von Ueberland-Reiſenden ähnlich. 
Gegen Mittag hatten wir endlich die Schneefelder auf dem 
baumloſen Park überſchritten und erreichten mit frohem 
Herzen das ſtattliche Wohnhaus des Mormonenpaſcha's 
Wilhelm (Bill) Kimball, wo wir mit unſeren Banditen— 
geſichtern zuerſt unter dem Frauenvolk einen nicht geringen 
Schrecken erregten. Mit Hülfe von etwas Seife und war— 
mem Waſſer verſchwand jedoch die Patent-Stiefelwichſe bald 
wieder von unſeren Augenlidern, ſo daß wir bei dem uns 
aufgetiſchten ſuperben Mahle wie ehrliche Menſchenkinder 
unſer Erſcheinen machen konnten. 

Wilhelm Kimball, kurzweg Bill genannt, ein Sohn 
des Mormonenälteſten Hebert C. Kimball, war in dem 
Staate Newyork gebürtig und wohnte hier auf ſeiner Farm 


115 


in einem großen Steingebäude, welches er ſich im vers 
gangenen Jahre mit einem Koſtenaufwande von zwölftauſend 
Dollars gebaut hatte. Er war ein vierſchrötiger aber gut— 
müthig ausſehender Burſche, mit einem wahren Stiernacken: 
ein entſchiedener Verehrer ſowohl von Gott Bacchus als 
von der Venus Amathuſia. Als Whiskytrinker hatte er in 
Salt Lake City einen bedeutenden Namen. Von ſeinen 
fünf Gemahlinnen lebten zwei bei ihm auf der Farm zu 
Hauſe, die dritte und vierte hatte er der Bequemlichkeit 
halber in zwei anderen Ortſchaften des Territoriums Utah, 
die fünfte in Salt Lake City untergebracht, wo er ſie auf 
ſeinen Reiſen gelegentlich beſuchte. Die Tochter einer der 
beiden auf der Farm wohnenden Frauen, ein ſchmuckes vier— 
zehnjähriges Mädchen, wiegte in der Gaſtſtube das Kind 
ihrer in Salt Lake City anſäſſigen Rivalin. Ein kleiner 
„Bill“ erzählte mir im Pferdeſtall, wo ich durch die Pfeffer— 
nüſſe in meinem Proviantkaſten bald mit ihm vertraut ge— 
worden war, daß er zehn Brüder und acht Schweſtern 
habe. Durch die mit uns reiſende Mormonendame er— 
fuhren wir, daß die eine der beiden Hausfrauen Arbeits— 
drohne ſei, während ihre Genoſſin im ehelichen Bande ſich 
die Zeit im Schaukelſtuhle mit Romanleſen vertreibe und 
ſehr glücklich wäre. Uns Paſſagieren gelang es nicht, die 
beiden Madams Kimball von Angeſicht zu Angeſicht zu 
ſchauen. Dem Herrn Wonderful, der mit Gewalt in's 
Parlor dringen wollte, um Madame Nr. 1 (der im Schaufel- 
ſtuhle) ſeine Aufwartung zu machen, ſchlug der alte Bill 
die Stubenthüre grober Weiſe vor der Naſe zu. 

Wilhelm lebte recht comfortabel und hatte alle Ur— 
ſache mit ſeinem Loos als Mormone zufrieden zu ſein. 
Auf der Farm ſah es wie in einem wohlhabenden kleinen 
Dorfe aus, deſſen Herrenſitz Bill's Wohnhaus vorſtellte. 
Es war eine Freude, die prächtigen von Getreide und 


8 * 


116 


Heu ſtrotzenden Scheunen zu betrachten! — Da die Stage, 
welche uns weiter bringen ſollte, noch nicht von Salt Lake 
City angelangt war, ſo benutzten wir die Zwiſchenzeit zu 
einem Mittagsſchläfchen auf duftendem Heuboden, nach den 
vielen ſchlafloſen Nächten für uns ein wahrer Hochgenuß! 
— Um vier Uhr Nachmittags weckte man uns. Der 
Rumpelwagen war da, deſſen hohläugige Inſaſſen haar— 
ſträubende Schilderungen über den entſetzlichen Zuſtand der 
Landſtraße zwiſchen hier und Salt Lake City machten. 
Sieben Mal ſeien ſie während der letzten vier Stunden 
umgeworfen! Von Bill Abſchied nehmend, nahmen wir mit 
ſchwerem Herzen unſere Sitze auf den Poſtſäcken wieder 
ein und kutſchirten der großen Salzſeeſtadt entgegen. 

Der Weg über die Waſatchberge war in der That 
ein entſetzlicher, und dieſer Abſchnitt unſerer Ueberland— 
Reiſe ſchlimmer als alle vorherigen. Der Schnee war im 
ſchnellen Schmelzen begriffen, und brauſende Gewäſſer floſſen 
in allen denkbaren Richtungen querfeldein und über die 
Landſtraße, durch welche ſie an vielen Stellen förmliche 
Abgründe gewühlt hatten. Jede zehn Minuten blieb der 
Wagen ſtecken und warf halb um, und alle paar hundert 
Schritt mußten wir denſelben aus dem tiefen Schnee los— 
ſchaufeln. Halbſtundenlang wateten wir, oft bis an den 
Leib durch weiche Schneebänke, oder liefen verzweifelt über 
halbzerſchmolzene Eiskruſten, die faſt bei jedem Schritt, den 
wir thaten, unter uns einbrachen. Die acht Meilen von 
„Bill's“ bis zum „Summit“ (der Paßhöhe über das 
Waſatch-Gebirge) ſpotteten jeglicher Beſchreibung. Die wilde 
Gebirgslandſchaft, mit den chaotiſch darin zerſtreuten rieſigen 
Felsblöcken, den jähen Abhängen und herrlichen Pechtannen 
(spruce trees), hätte mich in anderen Verhältniſſen des 
Lebens entzückt, aber bei dieſen Spaziergängen durch drei 
bis fünf Fuß tiefen Schnee ſank in meinen Augen alle 


117 


Natur-Romantif bis tief unter den Gefrierpunkt der Be— 
geiſterung. Oft mußten alle Paſſagiere auf den Zuruf des 
Kutſchers auf dieſe oder jene Kante des Wagenbetts ſpringen, 
um das ſchwankende Gefährt über eine gefährliche Schlucht 
hinüber zu balanciren, oder wir griffen mit vereinter Macht 
in die Speichen, um den Pferden beim Ziehen zu helfen. 
Aber, trotz aller Vorſicht, warfen wir dreimal kläglich um, 
ehe wir den Sattel des Paſſes erreicht hatten. Die Mor— 
monenfrau und ihr ſanfter blauäugiger Knabe, der vor 
Angſt und Kälte bitterlich weinte, thaten uns Allen außer— 
ordentlich leid; eine Verbeſſerrung ihrer Lage war jedoch 
unter den Verhältniſſen unmöglich. Miſter Eiſak gewann 
mehr und mehr das Ausſehen eines Seekranken, der juſt 
ſo lieb ſterben, als einen Finger zur Selbſtrettung rühren 
möchte, und der Irländer vergaß ſogar ſeine „Wonderfuls“. 
An die Gewäſſer, welche ſich in kurzen Abſtänden brauſend 
über die Landſtraße ergoſſen, hatten wir uns ſo gewöhnt, 
daß wir ohne weiteres mitunter knietief hindurch wateten. 
Todtes halb verweſtes Zugvieh, das öfters am Wege dalag 
und einen peſtilentialiſchen Geruch verbreitete, machte dieſe 
Stagefahrt doppelt entſetzlich. 

Endlich hatten wir den Gebirgspaß überſtiegen und 
fuhren nun in ſo raſender Eile wieder bergab, daß es uns 
in der Nähe der Abhänge, an deren Rande wir hinjagten, 
grün und gelb vor Augen ward. Bei eintretender Dunkel— 
heit erreichten wir Parley's Kafon, ein ſieben engliſche 
Meilen langes enges Felsthal, das letzte in der Reihe der 
Caſions, welche den öſtlichen Zugang zum Becken des 
großen Salzſees bilden. Die ganze Breite dieſer Thal— 
ſchlucht, deren Seitenwände höher, aber weniger pittoreſk 
als die in Echo Caſion find, war von einem brauſenden 
Gebirgswaſſer, dem geſchwollenen Parley's Creek, über— 
ſchwemmt. In dunkler wolkenſchwangerer Nacht fuhren 


118 


wir langſam und vorſichtig durch das finftere Felsthal, wo- 
bei die Fluthen mehrere Male in das Wagenbett traten, 
bis die Berge endlich hinter uns lagen und wir die Ebene 
erreicht hatten. Hier wurden wir in eine mit ſechs präch— 
tigen Rennern beſpannte Concord-Kutſche verſetzt, denn auf 
allen Stagelinien in Amerika gilt die Regel, immer mit 
den beſten Kutſchen und den ſchönſten Geſpannen in größere 
Städte einzurücken. Mancher, der ſolch eine prächtige Poſt— 
kutſche mit dem blank geſtriegelten Sechsgeſpann im geſtreckten 
Galopp in eine Stadt jagen oder ſie in gleichem Aufzuge 
verlaſſen ſieht, denkt: Welch ein köſtliches Pläſir muß doch 
ſo eine wilde Stagefahrt ſein! — Verſuche es nur, Freund! 
nichts bereichert das Wiſſen mehr, als praktiſche Erfahrung. 
Die Erlebniſſe in den Rumpelwagen, Käfigen, Schmutzwagen 
und halb zerbrochenen Schlitten, die queckſilberigen Poſtſack— 
Sitze, die luculliſchen Mahlzeiten und andere Ueberraſchungen 
auf der Ueberland-Stageroute gönne ich auch Dir, mein 
Beſter, — denn das Elend hat gerne Geſellſchaft! 

Bald war ich in einer bequemen Ecke der Stage ent— 
ſchlummert und erwachte nicht eher, als bis das Raſſeln der 
Räder in den Straßen der erſehnten Mormonenſtadt wieder— 
hallte. Um die Mitternachtsſtunde vom 7. auf den 8. Mai 
hielten wir endlich, nach einer Stagefahrt von ſechszehn 
Tagen und Nächten, ſeit wir bei Salina auf die große 
Steppe hinausfuhren, vor dem „Revere Houſe“ in Salt 
Lake City. Wie ein ſeltſames Traumbild lagen die Aben— 
teuer und Erlebniſſe auf der tauſend Meilen langen Stage— 
fahrt durch die Steppen-, Gebirgs- und Salbeiwildniſſe des 
Continents hinter uns, und wir prieſen unſer Geſchick, das 
uns wohlbehalten in dieſen gaſtlichen Hafen der „Heiligen 
vom jüngſten Tage“ einlaufen ließ. 


C. 


Im Lande der Mormonen. 


1. Great Salt Lake City, das neue Jeruſalem. 


Die Morgenſonne des 8. Mai 1867 ſchien klar und 
golden durch die Fenſter meines Schlafgemachs in der 
Stadt der „Heiligen“ und weckte mich nach kurzem aber 
erfriſchendem Schlummer. Toilette hatte ich bald gemacht, 
und nachdem ich ein vorzügliches Frühſtück genoſſen, nahm 
ich meinen Gemſenſtock (den von mir unzertrennlichen Reiſe— 
begleiter aus der Schweiz) zur Hand und wanderte hinaus 
in die ſonnenhellen Gaſſen des neuen Jeruſalem. 

Wahrlich, einen reizenden Platz bewohnten die Heili— 
gen vom jüngſten Tage (latter day saints) hier am 
Ufer des großen Salzſees; in Wahrheit eine Oaſe in der 
endloſen Salbeiwüſte! Schon mein erſter Spaziergang durch 
die breiten und ſauberen Straßen machte mich zu einem 
Bewunderer dieſer Stadt. Grüne Baumreihen von Akazien 
und canadiſchen Pappeln wuchſen in abwechſelnder Laub— 
ſchattirung an den 20 Fuß breiten Gehwegen, rauſchende 
Waſſer floſſen neben denſelben hin, und die freundlichen 
Privatwohnungen waren von Blumen- und Obſtgärten um— 
geben. Wohin das Auge ſah, verbreiteten unzählige in 


120 

voller Blüthe ſtehende Pfirſichbäume einen röthlichen Glanz, 
der von dem weißen und bunten Blüthenſchmuck der vielen 
Kirſchen⸗, Aepfel-, Birn- und anderen Obſtbäume ange— 
nehm gemildert wurde. Ueber der Blumenſtadt wölbte ſich 
ein azurblauer Himmel, der von den leuchtenden Schnee— 
gipfeln der ſchöngeformten Waſatchkette gleichſam getragen 
ward. Nach unſerer entſetzlichen Steppen- und Wüſten— 
reiſe ſchien mir dieſe idylliſche Stadt ein Zauberparadies zu 
ſein! — Die meiſtens aus Adobes (in der Sonne ge— 
trockneten Ziegeln) erbauten Häuſer in der Stadt waren 
faſt ohne Ausnahme mit hellen Farben angemalt, die Gärten 
mit hohen Steinwällen aus cementirten Feldſteinen umhegt, 
über welche die in voller Blüthe ſtehenden Obſtbäume empor— 
ragten. An der 132 Fuß breiten Oſt-Tempelſtraße, der 
Hauptſtraße des Ortes, hatten die Gebäude ein ſtädtiſch 
elegantes Ausſehen. 

Am nördlichen Ende der Oſt-Tempelſtraße gewahrte 
ich linker Hand eine hohe Feldſteinmauer, worüber ſich ein 
gewaltiges dem Rücken einer rieſigen Schildkröte ähnliches 
Dach emporhob. Es war dies das weltberühmte Mormonen— 
Tabernakel. Durch einen offenen Thorweg trat ich unge— 
hindert auf den Bauplatz, um das fremdartige Gebäude 
näher in Augenſchein zu nehmen. Einer von den Arbeitern 
am Tempel, ein Norweger, den ich im Expeditionshäuschen 
am Thorweg traf, erbot ſich, mein Cicerone zu ſein, welches 
freundliche Anerbieten ich mit Dank annahm. 

Im Vordergrunde des weiten Hofraumes befand ſich 
das Fundament für den zukünftigen großen Mormonen— 
tempel. Die mächtigen behauenen Granitblöcke, welche dort 
in Menge am Boden lagen, gaben deutlichen Beweis, daß 
es den Mormonen Ernſt ſei, hier das prächtige Gottes— 
haus zu erbauen, von welchem ich im Expeditionsſtübchen 
den Plan eingeſehen hatte. Nach dieſem ſollte der Tempel 


121 


(mit ſechs Thürmen, jeder von 225 Fuß Höhe) ganz aus 
Granit aufgeführt werden und eine Länge von 1863 bei 
einer Breite von 99 Fuß erhalten. Der Stil war ein 
Gemiſch von alter und neuer Bauart, worin der aus 
Königin Eliſabeth's Zeit vorherrſchte. Ob die Mor— 
monen im Stande ſein würden, ein ſolches Rieſenwerk 
zu vollenden, ſchien mir jedoch ſehr problematiſch.* Hinter 
dem Embryo-Tempel lag das neue Tabernakel, wel— 
ches bis auf die noch offene Vorderſeite und die innere 
Ausſchmückung fertig war. Daſſelbe iſt, mit Ausnahme 
von 46 aus rothem Sandſtein erbauten quadratiſchen Pfei— 
lern, welche, jeder von ihnen 16 Fuß hoch und 4 Fuß dick, 
das tief herabreichende und verandaartig vorſpringende Dach 
tragen, ganz aus Holz aufgeführt. Das Tabernakel iſt 
250 Fuß lang, 150 Fuß breit und 80 Fuß hoch, mit 
zwei daſſelbe 65 Fuß überragenden Fahnenſtangen. Schön 
war das Gebäude, in welchem 12,000 Menſchen Platz 
finden, entſchieden nicht, und das ſeltſame Dach, deſſen 

Prototyp meines Wiſſens noch kein Bauſtil in der Welt 
aufweiſt, hatte eine nichts weniger als claſſiſche Form. In— 
deß iſt vermöge dieſer Conſtruction die Akuſtik im Gebäude 
eine ausgezeichnete, ſelbſt ganz leiſe auf der Tribüne ge— 
ſprochene Worte ſind in dem weiten Raume überall hörbar. 
Die coloſſale Orgel darin hat 70,000 Dollars gekoſtet. 
Durch Vermittelung meines Cicerone ward mir vergönnt, 
das heilige Schildkrötendach zu beſteigen, von deſſen Höhe 
ich eine herrliche Ausſicht auf die wie in einem Blumen— 
garten unter mir ansgebreitete Stadt genoß. Am Tempel 
ſowie am Tabernakel werden nur Mormonen als Arbeiter 
angeſtellt, welche ihren Lohn größtentheils in Naturalien 


* Gegenwärtig (1874) ragen die Grundmauern des Tempels 
erſt drei Fuß über dem Boden empor. 


122 


ftatt in Geld zugetheilt erhalten. Brigham Young, der ein 
ausgezeichneter Financier iſt und ſtets ein wachſames Auge 
für ſeinen eigenen Nutzen hat, behält das baare Geld, wel— 
ches, namentlich in England, in großen Summen zum 
Tempelbau geſammelt wird, und liefert den Zimmerleuten, 
Maurern, Steinhauern ꝛc. als Equivalent dafür gelbe 
Rüben, Kartoffeln, Mehl, Speck, Ziegen und Hühner, wo— 
von er durch die „Zehnten“ -Abgaben ſtets einen großen 
Vorrath auf Lager hat. 

Neben dem neuen Tabernakel lag das alte, das ſich 
wie eine große Scheune ausnahm und den Anſprüchen 
der an Zahl ſchnell wachſenden Mormonengemeinde ſchon 
lange nicht mehr genügte. Im Sommer wird der Gottes— 
dienſt unter dem ſogenannten „Laubdach“ (Bowery) ab— 
gehalten, einem mit Reihen von Holzbänken verſehenen 
Platze, der mit einem hölzernen Gitterwerk überdacht iſt, 
worauf grüne Büſche und Zweige ausgebreitet werden, 
um Schutz gegen die Sonne zu geben. Die „Bowery“ 
ſowie das alte Tabernakel haben beide Raum für 3000 
Zuhörer. In der Nähe liegt das „Haus der Einweihung“ 
(endowment house), in welchem die Prieſterweihe und die 
Verheirathungen ſtattfinden. 

Nächſt dem Tabernakel iſt des „Präſidenten“ (wie 
Brigham Poung gewöhnlich von den Mormonen genannt 
wird) Privatwohnung, für den Fremden das Sehenswertheſte 
in Salt Lake City. Brigham Young's Reſidenz, der 
„Prophetenblock“ genannt, liegt an der Oſt-Tempelſtraße 
(East Temple Street), dem Tabernakel ſchräge gegenüber, 
und umfaßt einen Bodenraum von etwa zwanzig Ackern, 
der mit einer zwölf Fuß hohen feſtungsartigen Mauer um— 
geben iſt. Der Haupteingang iſt vom Süden durch das 
„Adlerthor“, das ſeinen Namen nach einem großen aus 
Stein gehauenen Adler führt, der darüber mit ausgebreiteten 


— 


123 


Flügeln auf einem Bienenkorb (dem Wappen der Mor⸗ 
monen) ſteht. Der innere Raum in dem Steinwall-Viereck 
iſt mit Obſt⸗, Wein- und Gemüſegärten beſetzt. Ber: 
ſchiedene Gebäude ſtehen am Wall und weiter zurück, z. B. 
das „Zehntamt“ (tithing office) und der zweiſtöckige 
„Deſerét-Store“, in welchem ſich eine Druckerei befindet. 
Eine Reihe von Werkſtätten für Handwerker — Schuh— 
macher, Tiſchler, Grobſchmiede ꝛc. — und andere kleine Ge— 
bäude, worin des „Präſidenten“ Arbeiter wohnen, liegen 
im inneren Hofraum zerſtreut. Auch einige Viehhürden 
befinden ſich dort, wo die als Zehent von den Mormonen 
gelieferten Rinder, Ziegen ꝛc. ein vorläufiges Unterkommen 
finden, ehe Brigham ſie „für die Kirche“ nach den Inſeln 
im großen Salzſee — die N. B. ſein perſönliches Eigen— 
thum ſind! — verſetzt. 

Eins der anſehnlichſten Gebäude im „Prophetenblock“ 
iſt das nahe beim Adlerthor liegende Bienenſtockhaus 
(bee hive house), ſo benannt nach einer Menge von Bie— 
nenſtock-Modellen, die daran angebracht find. Die Honig— 
biene (nach dem Wörterbuche der Mormonen Deſerét ge— 
nannt) iſt das Symbol der „Heiligen vom jüngſten Tage“, 
und dies Gebäude wurde zu ihrer Verherrlichung errichtet. 
Von den Mormonen wird Utah (ſprich: Yuhta) ſtets als 
„Deſerét“ (Das Land der Honigbiene) bezeichnet und der 
„Staat Deſerét“ iſt ihr officiöſes Kanaan. Bienen habe 
ich im Territorium Utah jedoch kaum geſehen. Das Bie— 
nenſtockhaus iſt ein zweiſtöckiges, aus Adobes aufgeführtes 
und von Außen weiß cementirtes elegantes Gebäude, das 
65,000 Dollars gekoſtet haben ſoll. Auf ſeinem Dache 
befindet ſich eine Sternwarte, in Form eines Bienen— 
korbes. Früher wohnte Mary Ann Angell, die erſte 
Frau des Propheten, in jenem Gebäude. Dieſelbe hat 
aber ſpäter der holden Amelia Platz machen müſſen, 


124 


welche jetzt als Königin im Bienenkorbe neben mehreren 
untergeordneten Frauen Brigham's reſidirt. Ferner finden 
im „Prophetenblock“ das Schulhaus, worin die Spröß— 
linge des Propheten, etliche fünfzig *, erzogen werden, die 
Bibliothek und ein weiß angemaltes Gebäude, wie des 
Präſidenten Wohnung in Waſhington „das weiße Haus“ 
genannt, beſondere Erwähnung. In letzterem wohnt gegen— 
wärtig Madame Young Numero Eins, die erſte recht— 
mäßige Frau des Propheten. 

Das Wohnhaus des Propheten Brigham Young zieht 
unter allen Gebäuden im „Prophetenblock“ die Aufmerk— 
ſamkeit des Fremden beſonders auf ſich. Daſſelbe wird nach 
einem gewiß nicht von Thorwaldſen modellirten vor der 
Hausthüre liegenden ſteinernen Löwen das „Löwenhaus“ 
genannt, iſt aber beſſer unter dem Namen der Harem 
bekannt. Das „Löwenhaus“ iſt ein zweiſtöckiges, aus Holz 
aufgeführtes langes Gebäude, mit einem Souterrain dazu. 
An der Vorderſeite zieht ſich eine Reihe von Erkerfenſtern 
hin, von denen die Fama behauptet, daß jedes die Wohnung 
einer Frau des Propheten bezeichne. Die Zahl der Frauen 
des Propheten vermag Niemand genau anzugeben, außer 
vielleicht er ſelber. Trotz meiner eifrigſten Erkundigungen 
nach den Familienverhältniſſen Brigham's, konnte ich in Salt 
Lake City nicht Genaues über jenen intereſſanten ſtatiſtiſchen 
Punkt erfahren. Die Angaben variirten zwiſchen 18 und 
67 Frauen. Seit der Congreß der Vereinigten Staaten 
im Jahre 1862 ein Verbot gegen Vielweiberei in den Ter— 
ritorien erließ, halten die Mormonen die Zahl ihrer Frauen 
geheim. Obgleich die „große Jury“ in Salt Lake City 
unter Eid von den in Dienſten der Vereinigten Staaten 
ſtehenden Richtern aufgefordert wurde, Beweiſe von Viel— 


* 1874 hatte fi) die Zahl der Kinder auf angeblich 65 vermehrt. 


125 


weiberei in Utah feſtzuſtellen, iſt dies bis jetzt nicht ge— 
ſchehen. Niemand beſtreitet, daß dieſelbe hier in ausge— 
dehntem Maße ſtattfindet, aber die Macht und der Einfluß 
des Präſidenten Young find in Utah derartig, daß die Be— 
amten der Vereinigten Staaten dagegen faſt gar nichts 
auszurichten vermögen. 

Das Innere des Harems blieb für mich leider terra 
incognita, und ich mußte mich damit begnügen, die Wohnung 
des Propheten von Außen zu betrachten und über das ele— 
gante Innere derſelben Muthmaßungen anzuſtellen. Mit— 
unter bewegte ſich leiſe eine von den weißen Gardinen an 
der langen Giebelfenſterreihe, wo vielleicht eine von den 
vielen Madams Young den frechen „Gentile“ (wie Alle 
anderen Glaubens, einerlei ob Juden, Chriſten oder Heiden, 
von den Mormonen genannt werden) durch den Faltenwurf 
eines Vorhangs muſterte, als er mit verdächtigen Schritten 
um das Haus des Propheten ſchlich. Den Fremden wer— 
den allerlei „Bären“ über den Harem aufgebunden. Man 
munkelt z. B. von geheimen Paſſagen, doppelten Wänden, 
Schatzkammern und — dies halte ich entſchieden für eine 
Verläumdung! — von abgelegenen Zimmern im Gebäude, 
wo widerſpenſtige Gemahlinnen mitunter von der Hand des 
Propheten gezüchtigt würden. In enger Verbindung mit dem 
Löwenhauſe ſteht Brigham Poung's „Office“, wo er Fremde 
empfängt und die laufenden Tagesgeſchäfte beſorgt. Eine 
Audienz iſt bei ihm leicht zu erlangen, da er ſich den Fremden 
gegenüber durchaus nicht verſchloſſen zeigt. Leider lernte 
ich aber den modernen Mohomet nicht perſönlich kennen, da 
derſelbe zur Zeit meines Beſuchs auf einer Rundreiſe im 
Territorium begriffen war. 

Das häusliche Leben der Familie Young iſt, wie 
mir aus zuverläſſiger Quelle mitgetheilt wurde, durchaus 
nicht der Art, wie man es in einem Harem vermuthen 


126 


möchte. Wenn Freunde des Präſidenten zu Beſuch kommen, 
ſo ſind im Parlor ſelten andere Frauen als eine von den 
drei Favoritinnen Emeline, Lucy und Clara ſichtbar. Der 
geſellſchaftliche Ton iſt ein durchaus geſitteter. Iſt kein 
Beſuch da, ſo beſchäftigen ſich die Frauen mit allerlei häus— 
lichen Arbeiten. Die Haushaltung iſt der in einer Pen— 
ſionsanſtalt für junge Mädchen ähnlich, mit dem Unter— 
ſchiede, daß hier verheirathete Frauen die Stelle der jungen 
Damen einnehmen. Jede Madame Poung beſitzt ihr ab— 
geſondertes hübſches Zimmer oder eine Privatwohnung, 
wo ſie ganz ihre eigene Herrin iſt. Zum Gebet oder bei 
Tiſch verſammelt ſich die ganze Familie, groß und klein. 
Der Schlüſſelbund und die Aufſicht über Küche und Keller 
wechſeln unter den Frauen von Zeit zu Zeit. Im Hauſe 
giebt es Nähmaſchinen, Spinnräder, Farbekäſtchen ꝛc. zur 
beliebigen Benutzung für ſämmtliche Frauen. Privatlehrer 
für den Unterricht in Muſik, Tanz und franzöſiſcher Sprache 
ſtehen im Dienſt, und oft geht es recht luſtig im Harem 
zu, da Brigham nichts weniger als ein Philiſter iſt. Ein 
Liebhabertheater füllt manche müſſige Stunde aus, und 
diejenigen unter den Frauen, welche ſich in den mimiſchen 
Künſten beſonders hervorthun, ſpielen mitunter Rollen im 
Salt Lake City-Stadttheater. Sogar Dichterinnen giebt 
es unter den Frauen im Harem, von denen ſich Eliza 
Snow als Verfaſſerin begeiſterter Hymnen beſonders aus— 
gezeichnet hat. — 

Die kurze Zeit, welche ich in Salt Lake City ver— 
weilte, benutzte ich auf's Beſte, um mich mit der Stadt 
und ihren Umgebungen bekannt zu machen. Great Salt 
Lake City (gewöhnlich Salt Lake City, und von den Mor— 
monen Zion oder Neu-Jeruſalem genannt) liegt zwölf eng— 
liſche Meilen weſtlich vom Wafatdh Gebirge und acht Meilen 
ſüdöſtlich vom großen Salzſee, am rechten Ufer des Jordan— 


127 


fluſſes, welcher die Gewäſſer des Utah-See's, eines Süß— 
waſſerſee's in den großen Salzſee ableitet. Im Sommer 
verſchwindet der Schnee, mit Ausnahme der höchſten 
Gipfel, ganz von den Gebirgen; im Frühjahr dagegen 
find die blinkenden Zinnen der Waſatch- und Oquirrh-Ge⸗ 
birge, welche die Stadt jenſeits einer grünen Ebene um— 
gürten, von herrlicher Schönheit. Das Aeußere der Stadt 
bleibt ſich in allen Theilen derſelben ziemlich gleich. Die 
Straßen ſind durchgängig breit, mit fließenden Waſſern 
neben den durch Reihen grüner Bäume beſchatteten Geh— 
wegen und die meiſten Wohnungen ſind von Obſtgärten 
umgeben. Die Einwohnerzahl von Salt Lake City wurde 
zur Zeit meines Beſuchs auf 15000 Seelen geſchätzt.“ 
Die Zahl der in ihr lebenden Gentiles betrug, außer zwei 
oder drei Compagnien Ver. St.-Militär, das in dem vier eng— 
liſche Meilen öſtlich von der Stadt liegenden Camp Douglas 
garniſonirte, höchſtens vierhundert Köpfe. Mormonen und 
Gentiles lebten dazumal auf ſehr geſpanntem Fuße mit ein— 
ander. Brigham hatte den Gläubigen „im Namen des 
Herrn“ verboten, ferner etwas von den „verd. Gentiles“ 
zu kaufen, und da dieſe meiſtens dem Handel oblagen, ſo 
kam ein ſolches Verbot faſt einer Ausweiſung gleich. In 
Folge deſſen lagen Handel und Wandel in der Stadt der 
„Heiligen“ ſehr danieder, und Gold, Silber und Papier— 
geld waren ſehr knapp geworden. Unter der arbeitenden 
Claſſe in Salt Lake City herrſchte viel Armuth, wovon ein 
Durchreiſender kaum eine Ahnung haben konnte. Man er— 


* Im Jahre 1870 betrug die Einwohnerzahl von Salt Lake 
City nach dem Cenſus der Vereinigten Staaten 18,337 — die des 
Territoriums Utah 86,786 Seelen, welche Bevölkerungszahl jedoch 
in letzter Zeit bedeutend geſtiegen iſt. Die Bevölkerung des Terri— 
toriums Utah beträgt gegenwärtig (1874) gewiß über 100,000 
Köpfe. — 


128 


zählte mir, daß bei vielen Familien wochenlang kein Fleiſch 
auf den Tiſch käme.“ 5 

Salt Lake City iſt nicht nur das Handelsemporium 
von Utah, deſſen beſiedelter Theil ſich, bei einer ungefähren 
Breite von fünfzig engliſchen Meilen von Oſt nach Weſt, 


* Die Pacific-Eiſenbahn ſowie die Utah Centralbahn, an deren 
Bau ſich Brigham Poung als Contractor ſtark betheiligte, und na— 
mentlich die Entdeckung und Ausbeute zahlreicher ergiebiger Silber— 
minen haben in den letzten Jahren eine radicale Umwälzung aller 
Eigenthumsverhältniſſe hervorgerufen. Viele ſonſt arme Tagelöhner 
haben ſich beim Bau der Eiſenbahn ein kleines Vermögen erworben, 
und die Entdeckung der Silberminen veranlaßte eine Menge „Gen— 
tiles“ einzuwandern, durch welche das Mormonenthum in ſeinen 
Grundfeſten erſchüttert worden iſt. Aber durch die ungewiſſen Ver— 
hältniſſe iſt ein Rückſchlag zum Schlechten in dem raſch empor— 
blühenden Territorium nicht ausgeblieben. Die von Brigham Noung 
im Mai 1867 (kurz nach meinem Beſuche in Utah) in Salt Lake 
City gegründete „mormoniſche Handelsgenoſſenſchaft“ (Zion's Co— 
operative mercantile institution), mit Zweiggeſchäften (Co-opera- 
tive stores) in allen Ortſchaften des Territoriums, wo alle Mor— 
monen ihre Einkäufe machen mußten, und die direct gegen die 
Gentiles gerichtet waren, haben bereits eine ſehr precäre Exiſtenz. 
Das Centralgeſchäft in Salt Lake City war im Frühjahr 1874 ge— 
zwungen, auf eine Verlängerung der Zahlungsfriſt ſeiner Wechſel 
anzutragen, in Folge deſſen die Genoſſenſchaft völlig demoraliſirt 
worden iſt. Um das Maß des Unglücks voll zu machen, find eng— 
liſche Capitaliſten, welche durch Minenſchwindel in Utah große Sum— 
men eingebüßt haben, nicht mehr dazu zu bewegen, in den ſonſt 
überaus reichen Utah-Silberminen zu inveſtiren, was der Entwicke— 
lung des Landes großen Abbruch thut, und die Zeiten ſind wieder 
einmal ſpottſchlecht in Zion. Aber die Hülfsquellen Utah's haben 
ſich, namentlich durch den Bergbau, in letzter Zeit ſo vortheilhaft 
entwickelt, daß ein Umſchlag zum Beſſern nur eine Frage der Zeit 
iſt. Wäre die „Mormonenfrage“ heute zufriedenſtellend gelöſt, ſo 
müßte Utah, welches als Agricultur- und als Minenland dem Ein— 
wanderer große Vortheile bietet, unbedingt ſchnell eins der blühend— 
ſten Länder in der Union werden. D. V. 


129 


in einer Länge von ſiebenhundert engliſchen Meilen von 
Idaho bis nach Arizona erſtreckt, ſondern auch von den 
angrenzenden Diſtricten der Minenländer Idaho, Montana, 
Wyoming, Arizona und Nevada. Durch die von Brigham 
Young auf großartige Weiſe eingerichtete künſtliche Be— 
wäſſerung iſt der von den Mormonen bewohnte Landſtrich, 
obgleich urſprünglich nur eine traurige Salbeiwüſte, die 
Kornkammer aller jener Gegenden geworden. Trügt nicht 
alle Berechnung, ſo wird Salt Lake City mit der Zeit die 
bedeutendſte Inlandſtadt zwiſchen dem Miſſouri und der 
Sierra Nevada. Als Culturland iſt das Beſitzthum der 
Mormonen eine herrliche Oaſe inmitten jener großen nord— 
amerikaniſchen Salbeiwildniß. Die vielen Gebirgszüge, von 
denen der Schnee nur langſam fortſchmilzt, haben den fleißigen 
Mormonen treffliche Gelegenheit zum Irrigiren gegeben, 
denn an fließenden Waſſern fehlt es hier im ganzen Jahre 
nicht. Ohne eine umfaſſende Bewäſſerung würde das Land 
aber ganz werthlos ſein. Wo dieſe nicht ſtattfindet, ſaugen 
die trockenen Winde während der Sommermonate, in denen 
faſt nie ein Tropfen Regen fällt, alle Feuchtigkeit aus dem 
lehmartigen Boden und zerſtören den Pflanzenwuchs. Um 
die Bergſtröme zum Irrigiren nutzbar zu machen, pflegt 
man dieſelben in ihrem oberen Laufe ſo zu ſagen anzu— 
zapfen und ihr Waſſer in zahlreichen Kanälen durch die 
Felder zu leiten. Da ſolche Unternehmungen jedoch für 
den Einzelnen zu koſtſpielig ſind, ſo werden ſie in der Regel 
von Compagnien oder von ſtädtiſchen Corporationen aus— 
geführt, und das Waſſer wird gleichmäßig vertheilt. Salt Lake 
City iſt auf dieſe Weiſe mit Waſſer verſorgt worden, und 
jeder Hausbeſitzer kann ſeinen Garten nach Bedarf bewäſſern. 
In der Regel genügt es, den Boden einmal in der Woche 
gründlich zu befeuchten. Indem der Betreffende ſein Areal 
in ſieben Theile eintheilt und täglich ein Stück davon be— 


9 


130 


wäſſert, kann er ſich die Mühe des Irrigirens bedeutend 
erleichtern. — Deutſche giebt es verhältnißmäßig nur we- 
nige in Zion, und eine deutſche Zeitung kam mir dort nicht 
zu Geſicht. Ein Buchhändler, den ich wegen dieſer in 
Amerika bei einer ſo großen Stadt wie Salt Lake City 
beiſpielloſen Erſcheinung befragte, bemerkte, daß die hier 
anſäſſigen Deutſchen fromme Leute ſeien, die ſich wenig mit 
Zeitungsleſen befaßten. 

Um den erſten Tag meines Aufenthaltes im neuen 
Jeruſalem zu einem würdigen Abſchluß zu bringen, beſchloß 
ich, am Abend in's Theater zu gehen, wo das Senſations— 
drama „Die Braut von Lammermoor“, mit Ballet und 
Geſang, und ein Luſtſpiel zum Schluſſe der Vorſtellung ge— 
geben werden ſollte. Schon oft hatte ich von dem Mor— 
monentheater Wunderbares reden hören, mit dem das neue 
Berliner Opernhaus durchaus keinen Vergleich aushalten 
könnte. Meine Erwartung ſtellte ſich, wie der Amerikaner 
poetiſch ſagen würde, „auf die Fußſpitzen“, als ich mich 
in der Vorhalle des Theaters zwiſchen den Schaaren von 
breitſchultrigen Mormonenlords und ihren zahlreichen Ge— 
mahlinnen nach der Kaſſe hindurch ellenbogete. Mir war 
wiederholt geſagt worden, daß die Mormonen das Privile— 
gium hätten, vom „Propheten“, dem alleinigen Eigenthümer 
des Muſentempels, für Mehl, Runkelrüben und gelbe 
Wurzeln als Zahlung Billette löſen zu dürfen, wohingegen 
die Gentiles mit „Greenbacks“ (Papiergeld) herausrücken 
müßten. An der Kaſſe werden keine gelbe Wurzeln ange— 
nommen, wie ich aus Erfahrung poſitiv ſagen kann, da ich 
beſonders darauf Acht gab. 

Ich hatte mir für anderthalb Greenbackdollars ein 
Billet erworben und verfügte mich auf den erſten Rang. 
Obgleich das Theater keinen Vergleich mit dem Berliner 
Opernhauſe aushielt, ſo war es doch, ein bischen Schmutz 


151 


abgerechnet, ein ganz reſpectabler Muſentempel. Zur Be⸗ 
leuchtung diente ſtatt des Kronleuchters eine Reihe von Lam— 
pen, die an den Baluſtraden ringsherum angebracht waren. 
Die Ausſtattung des Zuſchauerraumes mit den ungepolſterten 
Bänken war ſehr einfach, als ob der Prophet dem repu— 
blikaniſchen Geſchmack ſeiner Nachfolger auch in Thalia's 
Tempel hätte Rechnung tragen wollen. Das Haus war 
von Beſuchern angefüllt, deren geſittetes Betragen manchem 
Theater-Publikum in den großen Städten des Oſtens zum 
Muſter hätte dienen können. Das Parquet war für die 
Mormonenzuſchauer reſervirt und die Gentiles fanden nur 
auf den Rängen Zutritt. Die Privatlogen neben der Bühne 
gehörten den angeſehenſten Mormonenprieſtern und dem 
Präſidenten, nebſt ihren zahlreichen Familien. In einer 
Loge gewahrte ich mehrere von Brigham's Frauen, deren 
Geſichtszüge und Geſtalt jedoch keineswegs bezaubernd waren 
und mich davon überzeugten, daß der Prophet, wie ich öf— 
ters gehört hatte, bei der Auswahl von Gemahlinnen für 
ſeinen Harem wenig Geſchmack gezeigt hat. Seine Neigung 
ſchien mir mehr auf handfeſte Körperformen als auf Geiſt 
und Anmuth gerichtet zu ſein. Uebrigens hatten alle Frauen, 
die ich im Theater ſah, ſtupide und ordinäre Geſichter; eine 
nur halbwegs hübſche vermochte ich nicht unter ihnen zu ent— 
decken. Eine von den Logen ſtand leer, da Brigham Poung, 
wie bereits erwähnt wurde, abweſend und verreiſt war. 
Drei Bänke waren im Parquet für die kleinen Voungs 
reſervirt. Daneben ſaß im Mittelgang Mama Poung 
Numero Eins, die erſte Frau des Präſidenten, in einem 
Schaukelſtuhl: eine ſtattliche Matrone, mit gutmüthigem 
Geſicht. Männer und Frauen hatten im Parquet geſellig 
neben einander Platz genommen; jedoch waren die Frauen 
und Kinder, wie nicht anders zu erwarten ſtand, weit in 
der Mehrzahl. Die Schauſpieler, der Mehrzahl nach Mor— 


9 * 


132 


monen, machten der mimiſchen Kunſt Ehre, und einige der— 
ſelben entwickelten mehr als gewöhnliches Darſtellungstalent 
auf den Brettern. Mein Nachbar erzählte mir, daß die 
erſte Liebhaberin zur „Familie des Präſidenten“ gehöre. 
Die Bühnendecorationen, welche von norwegiſchen und 
ſchwediſchen Künſtlern gemalt werden, waren vorzüglich, 
und die Koſtüme ließen nichts zu wünſchen übrig. Auf— 
fallend war mir, daß ein Theil der Muſici im Orcheſter 
beim Spielen den Hut aufbehielt, eine demokratiſche Sitte, 
die ich nicht billigen konnte. Sonſt gehörte nicht viel Phan— 
taſie dazu, ſich von der großen Salzſeeſtadt in ein Theater 
an der Bowery in New-York oder in das alte Metropolitan— 
theater in San Francisco verſetzt zu wähnen. Ich ver— 
brachte einen recht angenehmen Abend, und die neue Um— 
gebung unter der „Elite der Heiligen“ gab mir ergiebigen 
Stoff zu intereſſanten Studien mit meinem Operngucker. 

Den zweiten Tag meines Aufenthaltes im neuen Je— 
ruſalem benutzte ich theils zu eifrigen Erkundigungen über 
den Mormonismus und das Inſtitut der Polygamie, theils 
machte ich Spaziergänge durch die Stadt und ihre idylliſchen 
Umgebungen. Gegen Abend beſuchte ich die eine halbe 
Stunde nördlich von der Stadt liegenden warmen Schwefel— 
quellen, bei denen eine vortreffliche Badeanſtalt eingerichtet 
iſt. Dieſe Mineralquellen haben eine Temperatur von 5102 
Grad Fahrenheit. Das Waſſer wird, gehörig abgekühlt, 
in ein überdachtes Schwimmbaſſin geleitet, um welches ein— 
fache Badezimmer, mit Wannen darin, erbaut ſind; für 
die Bewohner von Salt Lake City und die beſtaubten Ueber: 
land⸗Reiſenden eine köſtliche Erquickung. Omnibuſſe fahren 
den Tag über regelmäßig von der Stadt nach der Bade— 
anſtalt. 

Nachdem ich ein erfriſchendes Schwimmbad genommen, 
machte ich mich daran, den Gipfel des in der Nähe liegen— 


133 


den, ſich 400 Fuß über der Stadt erhebenden „Fahnenpic's“ 
(ensign peak) noch vor Sonnenuntergang zu erſteigen, 
um von dort die Ausſicht auf Stadt und Umgebung zu 
genießen. Die Rundſchau von der Höhe dieſes Berges 
war herrlich. Wenn die Mormonen, welche von hier zum 
erſten Mal den großen Salzſee und ſein zu damaliger Zeit 
wüſtes Ufergelände ſahen, den Blick ſo zu ſagen in die 
Vergangenheit zurückwerfen und das Jetzt mit dem Damals 
vergleichen, wird man es begreiflich finden, daß ſie ſich für 
das auserwählte Volk Gottes halten. Hat ſich doch ihre 
neue Heimath binnen weniger Jahre aus einer traurigen 
Wüſte in einen blühenden Garten verwandelt! 

Mir zu Füßen lag Salt Lake City ausgebreitet, um— 
kränzt von grünen Wieſen und Feldern. Die im hellrothen 
Blüthenſchmuck prangenden unzähligen Pfirſichbäume, zwiſchen 
denen ſich die weißen Häuſer zu verſtecken ſchienen, gaben 
das Bild eines blühenden Roſenhains, mit Luſthäuſern 
darin, während die breiten Straßen, welche ſich zwiſchen 
den Bäumen in langen Linien rechtwinklig durchkreuzten, 
wie ſaubere Kieswege ausſahen. Wunderlich nahm ſich das 
die Stadt überragende Dach des Tabernakels aus. Mit 
dem Rücken einer urweltlichen Schildkröte, wie ſchon geſagt, 
möchte ich daſſelbe vergleichen, oder mit dem unterſt zu 
oberſt gekehrten Rumpfe eines Linienſchiffs, oder, paſſender 
noch, mit einer ungeheuren umgeſtülpten Fleiſchermulde, wie 
ſie vielleicht ein nordiſcher Schlachtergott gebraucht hat, um 
darin ein Dutzend gebratene Auerochſen als Imbiß für 
Thor und Freya nach Walhalla zu bringen. Rechts von 
der Stadt ſchlängelte ſich der Jordanfluß, der ſeine Ufer 
ſtellenweiſe weit überſchwemmt hatte, durch ſmaragdgrüne 
Wieſen, im Nordweſten dehnte ſich die blitzende Fläche des 
großen Salzſees bis zum Horizonte aus. In ſeiner Fluth 
ſpiegelten ſich der 7200 Fuß hohe Pic auf der Antilopen- 


134 


infel und andere Schneeberge weit im Norden. Die Ge— 
gend in Salt Lake City war eine weite Fläche. Grüne 
Felder, die von einem Netzwerk ſchwimmender Kanäle durch— 
ſchnitten waren, erſtreckten ſich links vom Gebirge bis an 
den Jordan. Ein paar Meilen entfernt lagen dort die 
weißen Zelte von „Camp Douglas“ auf grünem Anger 
und hielten Wacht über die heilige Stadt. Aber als das 
Schönſte im Panorama prangten die um dieſe Jahreszeit alle 
mit Schnee bedeckten Gebirge, welche die fruchtbare Ebene 
in weitem Bogen umſpannten. Linker Hand waren es die 
Waſatch⸗Berge, deren höchſte Gipfel, die „Zwillingspies“ 
(twin peaks), 11,660 Fuß über dem Meere auffteigen, 
rechts die niedrigeren aber gleichfalls ſchneebedeckten Oquirrh— 
Berge, deren nördliche Ausläufer ſich an den ſchwimmenden 
Spiegel des großen Salzſees lehnten. Die Waſatch-Kette, 
welche ſich 7000 bis 8000 Fuß über den Salzſee erhebt, 
gab mit ihren gezackten Schneegipfeln, die ſich in ſchönen 
Formen mächtig in den blauen Aether emporthürmten, ein 
wahrhaft ſchweizeriſches Bild. Als der goldene Sonnenball 
ſich in die wie freudig erglühenden Wogen des großen Salz— 
ſees ſenkte und die Gebirge alle auf einmal wie lichterloh 
brannten, däuchte es mir, die Natur wolle das Bild dieſer 
herrlichen Oaſe in der Wüſte mir dem Fremdlinge, mit 
brennenden Farben unauslöſchlich in die Seele malen. 


2. Brigham Yonng und die Mormonen. 


Der Mormonismus iſt einer von jenen Anachronismen 
der Civiliſation der Neuzeit, welche eine auf offenbaren Be— 
trug baſirte kirchliche Macht in die Mitte eines aufgeklärten 
Volkes gepflanzt hat, dem die vollſte Glaubensfreiheit für 
eins ſeiner heiligſten, unveräußerlichen Rechte gilt. Grund— 
ſatzloſe, mit bedeutenden Talenten und großer Willensſtärke 
ausgerüſtete Männer machten eine von ihnen ſchlau er— 
dachte, in ihren erſten Principien verwerfliche Religion 
zum Hebel einer geiſtlichen und weltlichen Macht über eine 
fanatiſche Menge, kleideten ſich in das Gewand von Pro— 
pheten und wunderthätigen Heiligen und gründeten einen 
Staat im Staate, deſſen abnorme Inſtitutionen gegen Recht 
und Sitte in einem chriſtlichen Lande verſtoßen, und über 
deſſen ungehindertes Fortbeſtehen inmitten dieſer thatkräftigen, 
freieſten Republik man erſtaunen muß. 

Gegen das Ende der zweiten Decade dieſes Jahr— 
hunderts trat in einem obſcuren Dorfe in Ohio der Lehrer 
einer neuen Religionsſeete mit Namen Joſeph Smith 
auf, gewöhnlich der Prophet Joſeph genannt. Nach— 
dem derſelbe während mehrerer Jahre die biederen Hinter— 
wäldler mit allerlei ſonderbaren Dogmen und Erzählungen 
von Engeln, die ihm erſchienen ſeien, in Erſtaunen geſetzt 
hatte, trat er im Jahre 1823 mit der abſurden Behauptung 
hervor, daß er die auf Goldplatten eingeſchriebenen Schriften 
der verloren gegangenen Stämme Ifraels, deren Nach— 


136 


kommen die nordamerikaniſchen Indianer ſeien, gefunden 
habe. Der Engel Gabriel hätte ihm die Stelle gezeigt, 
wo die Tafeln in einer ſteinernen uralten Kiſte vergraben 
gelegen, und ihm gleichzeitig ein paar Rieſenbrillen zuge— 
ſtellt, mit deren Hülfe er die Hieroglyphen darauf zu ent— 
ziffern vermöchte. Von dieſen Platten überſetzte er das 
„Book of Mormon“, die goldene Bibel der Mormonen, 
welches zuerſt im Jahre 1830 im Druck erſchien und die 
Geſchichte und Geſetze der verloren gegangenen Stämme 
Iſraels in langweiliger, von orthographiſchen und gramma— 
tikaliſchen Fehlern wimmelnder Sprache enthält, und deſſen 
Kauderwälſch und fortwährende Widerſprüche die Behauptung 
einer göttlichen Inſpiration geradezu lächerlich machen. Auf 
dieſes Schriftſtück (von dem jetzt erwieſen iſt, daß ein alter 
ungedruckter Roman, den Joſeph zufällig in die Hände be— 
kam, den Hauptinhalt dazu geliefert hat) baſirte Joſeph Smith 
die Lehre ſeines neuen Glaubens, oder vielmehr, wie er 
ſagte, des alten urſprünglichen, der im Laufe der Zeit den 
Menſchen verloren gegangen ſei. Specielle Offenbarungen 
dienten ihm zur Vervollſtändigung der alten Ueberlieferungen, 
und ſo entſtand nach und nach das Mormonendogma, wel— 
ches an Sinnloſigkeit ſelbſt die Lehren eines Mahomet über— 
trifft. Anfangs wurden die Religionsübungen der „Heiligen 
vom jüngſten Tage (latter day saints)“, welchen Namen 
ſich die Mormonen beigelegt hatten, wenig beachtet. Als 
aber der Prophet Joſeph mit ſeinen zwölf Apoſteln immer 
kühner wurde und allerlei fremde, dem orthodoxen Chriſten— 
glauben ſchnurſtracks widerſprechende Lehren öffentlich pre— 
digte, wurden dieſe, obgleich von Vielweiberei damals bei 
den Mormonen noch nicht die Rede war, den Anſiedlern 
im höchſten Grade anſtößig. In dem Städtchen Kirtland 
in Ohio, wo das Hauptquartier der Mormonen war, rottete 
ſich das erbitterte Volk zuſammen, theerte und federte die 


137 


„Heiligen“ und jagte ſie zum Lande hinaus. Dies war 
im Jahre 1836. 

Die ausgetriebenen Mormonen ſuchten in Jackſon 
County, im Staate Miſſouri, wo ſie bereits früher eine 
kleine Kolonie gegründet hatten, ein Aſyl, um dort, vor 
Verfolgungen ſicher, ein neues Zion zu gründen. Der 
Boden jenes County's war ein außerordentlich fruchtbarer, 
eine unerſchöpfliche Waſſerkraft begünſtigte die Anlage von 
Mühlen und Fabriken. Die Stadt Independence blühte 
durch die ſich in Menge in ihr anſiedelnden Mormonen ſchnell 
empor und die Wildniß verwandelte ſich in einen blühenden 
Agriculturdiſtrict. Einige Jahre lebten die Mormonen dort 
in Ruhe und ihr Wohlſtand vermehrte ſich raſch; aber der 
ihren Führern innewohnende prahleriſche Geiſt ließ ſie mit 
ihren Nachbarn wieder in Conflict gerathen, indem ſie be— 
haupteten, daß das ganze Land von Jehovah für ſie be— 
ſtimmt ſei und die Ungläubigen mit Feuer und Schwert 
vertilgt werden müßten. Der fortwährenden Reibungen 
wurden die Hinterwäldler überdrüſſig, und ſie ſuchten ſich 
ihrer unliebſamen Nachbarn auf eine ſummariſche Weiſe zu 
entledigen. Die Apoſtel wurden getheert und gefedert, die 
Druckerei der Mormonen wurde niedergebrannt und gegen 
dieſe ein Guerillakrieg eröffnet, der mit ihrer Niederlage 
und Vertreibung endigte. Die Mormonen ſammelten ſich 
wieder in den angrenzenden Counties, wo bald die alte 
Wirthſchaft von neuem losging. Zuletzt rief der Gouver— 
neur von Miſſouri die Miliz unter Waffen (November 
1838), confiscirte alles Eigenthum der Mormonen und 
befahl, ſie mit Gewalt aus dem Staate zu treiben, was 
denn auch unter unerhörten Grauſamkeiten geſchah. 

Die verjagten Mormonen fanden einen Zufluchtsort 
in Illinois, wo fie am Miſſiſſippi die Stadt Nauvoo 
(ſprich: Nowuh) gründeten. Der Platz vergrößerte ſich 


138 


ſchnell, die Prärie verwandelte ſich in blühende Aecker, und 
Handel und Wandel gediehen auf das Wunderbarſte. Es 
ſchien, als ob Gottes Segen die Mormonen in allen ihren 
Unternehmungen begünſtigte. Hier trat Brigham Young, 
der an Stelle eines abtrünnig gewordenen Apoſtels der 
alten zwölf erwählt war, zuerſt vor die Oeffentlichkeit 
und machte ſich bald durch ſeine eiſerne Willenskraft und 
unermüdliche Thätigkeit bemerkbar. Er reiſ'te nach Eng⸗ 
land und predigte dort den Mormonenglauben. In Liver⸗ 
pool gründete er die noch heute beſtehende Zeitung „millen- 
nial star“, welche die Grundſätze und Lehren des Mor⸗ 
monismus vertrat, und, in weiten Kreiſen bekannt werdend, 
nicht wenig dazu beitrug, dem neuen Glauben eine Menge 
von Proſelyten zu erwerben, die von Brigham als will⸗ 
kommene Verſtärkungsmannſchaft nach Nauvoo dirigirt wur⸗ 
den. Der Prophet Joſeph hatte mittlerweile in Nauvoo 
den Bau eines Tempels begonnen, von deſſen werdender 
Pracht die fabelhafteſten Beſchreibungen in Amerika in Um⸗ 
lauf waren. Die waffenfähige Mannſchaft der Mormonen 
ward unter dem Namen „Nauvoo Legion“ militäriſch or⸗ 
ganiſirt, um auf einen vorausſichtlichen Conflict mit den 
„Heiden“ vorbereitet zu ſein. Joſeph Smith, dem der 
Kamm mit ſeinen Erfolgen gewaltig ſchwoll, hatte ſogar 
die Frechheit, ſich im Jahre 1844 als Candidat für die 
Präſidentenwürde in Waſhington anzubieten. In Nauvoo 
führte er im Geheimen die Vielehe unter den Mormonen 
ein, welche Neuerung jedoch den Gentiles nicht lange ver⸗ 
borgen blieb. Wie zu erwarten ſtand, blieben ernſtliche 
Keibungen mit der andersgläubigen Landbevölkerung nicht 
aus, der die Mormonen und ihre abſonderlichen Religions⸗ 
übungen und Lehren ſchon längſt ein Dorn im Auge waren. 
Die Stadt Nauvoo wurde von Pöbelhaufen bedroht, denen 
Smith ſeine 4000 Mann ſtarke „Legion“ entgegenſtellte. 


NETTE EEE EEE 


139 


Da bot der Gouverneur des Staates Illinois die Miliz 
auf, der Prophet Joſeph ergab ſich freiwillig und wurde 
nach dem Städtchen Carthage gebracht und dort in's Ge⸗ 
fängniß geworfen. Eine Bande des über alle Maßen auf⸗ 
geregten Volkes nahm das Geſetz in die eigene Hand, er⸗ 
brach die Thüren des Kerkers und ermordete den Pro⸗ 
pheten (am 27. Juni 1844), der dadurch zum Märtyrer 
ſeines Volkes wurde. 

Die Mormonen trennten ſich jetzt in verſchiedene Fac⸗ 
tionen. Sidney Rigdon, der erſte Rathgeber des Propheten 
Joſeph, nahm die Zügel der Regierung eigenmächtig in die 
Hand und erließ neue Geſetze und Verordnungen, welche 
den Zwieſpalt nur vermehrten. Da erſchien ganz uner⸗ 
wartet der Apoſtel Brigham Young, der eben von 
England zurückgekehrt war, unter den ſich zankenden Mor⸗ 
monen, erklärte Rigdon für einen elenden Betrüger und 
ſeine Geſetze für Einflüſterungen des Teufels, ſtieß ihn mit 
allen ſeinen Anhängern aus der Kirche, verfluchte ihn und 
übergab ihn den Händen Satans auf tauſend Jahre. Sich 
ſelbſt ließ er von den Mormonen zum Präſidenten wählen. 

Neuengland hat die Ehre, das Vaterland dieſes zweiten 
Mahomet zu ſein, der von ſeinen Nachfolgern „der Löwe 
des Herrn“ genannt wird. Am 1. Juni 1801 erblickte 
Brigham Young das Licht dieſer Welt in der Stadt 
Whitingham im Staate Vermont. In ſeiner Jugend war 
er ein eifriger Anhänger der Methodiſtenkirche. Er ver⸗ 
ſuchte ſich als Farmer, Anſtreicher und Glaſer; aber ſein 
Ehrgeiz ſtrebte nach einem höheren Wirkungskreiſe. Im 
Jahre 1832 ſchloß ſich Brigham Young den Mormonen 
an, und jetzt hatte er ein paſſendes Feld für ſeine Thätig⸗ 
keit gefunden. Raſch ſchwang er ſich in der neuen Secte 
von Rangſtufe zu Rangſtufe empor, bis er bei dem allge⸗ 
meinen Wirrwarr nach des Propheten Joſeph Tode in 


140 


Nauvoo die Kirche der „Heiligen vom jüngſten Tage“ vor 
gänzlicher Auflöſung rettete und ihr zweiter Gründer ward. 
Während er ſeine eigene Macht befeſtigte und vergrößerte, 
ſorgte er nach Kräften für ſeine ihm am nächſten ſtehenden 
Blutsverwandten, die er um ſich verſammelte und denen 
er die einträglichſten Ehrenpoſten gab. Seine Brüder waren 
ihm am eifrigſten ergeben, ſein Vater wurde der „erſte 
Patriarch der Kirche“. 

Sobald Brigham Young die Zügel der Regierung in 
Nauvoo ergriffen hatte, unterwarf er alle Widerſpenſtigen 
ſeinem eiſernen Willen, ſchüchterte die Schwankenden ein, er— 
muthigte die Zaghaften und verſprach ſeinen Getreuen das 
Himmelreich. Mit der nichtmormoniſchen Bevölkerung ſuchte 
er ſich auf möglichſt freundſchaftlichen Fuß zu ſtellen und 
bot Alles auf, um derſelben keinen neuen Anlaß zu thätiger 
Feindſeligkeit zu geben. Bald blühte die Colonie Nauvoo 
auf's Neue empor. Aber der Führer der Mormonen ſah 
ein, daß hier, berührt von dem vergiftenden Einfluſſe der 
„Ungläubigen“ und inmitten der rieſigen Culturentwickelung 
an einer großen Verkehrsader, wie der Miſſiſſippi, ein 
Bleiben ſeiner Anhänger nicht möglich ſei. Schon im fol— 
genden Jahre (1845) begannen die Verfolgungen gegen die 
Mormonen auf's Neue. Brigham beſchloß nun, in einer 
entlegenen Gegend einen Mormonenſtaat zu gründen, wo 
ein ſolcher, ehe die Wogen der neueren Civiliſation ihn er— 
reichten, ſich zu ſelbſtſtändiger Größe entfalten könnte. Sein 
Blick fiel auf die Gegend jenſeits der Felſengebirge, welche 
Fremont eben erforſcht und als einer hohen Cultur fähig 
erkannt hatte, auf ein Land, das damals nominell zur Re— 
publik Mexiko gehörte und, nur von Indianern bewohnt, 
ſo zu ſagen ganz herrenlos war. Sobald dieſer Entſchluß 
unter den Nichtmormonen bekannt geworden war, geſtatteten 
dieſe, froh, ihre unliebſamen Nachbarn aus dem Lande los 


141 


zu werden, denſelben, alles Grundeigenthum in der Colonie 
Nauvoo zu veräußern. Sofort machten ſich nun auf Brigham's 
Anordnung ein paar tauſend Mormonen als Vorhut auf 
den Weg, gingen (im Februar 1846) auf dem Eiſe über 
den Miſſiſſippi und begaben ſich nach der Mündung des 
Platte in den Miſſouri, in welcher Gegend ſie auf die 
Hauptſchaar ihrer Brüder warten und Vorbereitungen zur 
Weiterreiſe treffen ſollten. Die Illinoiſer trauten jedoch 
der Aufrichtigkeit der Mormonen nicht und fürchteten die 
Zurückkunft der Weggezogenen. Als im Mai deſſelben 
Jahres der Tempel in Nauvoo unter großen Feierlichkeiten 
eingeweiht wurde, entbrannte ein neuer Verfolgungskrieg 
gegen die Mormonen, der mit ihrer gänzlichen Vertreibung 
aus Nauvoo (17. September 1846) endigte. Der Tempel 
in Nauvoo wurde im Jahre 1848 von Brandſtiftern in 
Aſche gelegt. 

Unter Brigham MPoung's perſönlicher Führung wan— 
derten die Hauptſchaaren der Mormonen, gegen 20,000 
Köpfe ſtark, zunächſt nach der Mündung des Platte, in die 
Nähe von Council Bluffs, wo ſie von den ihnen voran— 
gegangenen Glaubensgenoſſen erwartet wurden. Als die 
lange Wagencaravane mit der heimathloſen Menge von 
Männern, Frauen und Kindern vorüberzog, tröſtete Brigham 
die Weinenden und entflammte durch farbenglühende Prophe— 
zeihungen die Zaghaften zu neuer Hoffnung. Unter der 
bei Council Bluffs bis zum Frühjahr verweilenden ver— 
wahrloſ'ten Menſchenmenge waren die Leiden während des 
langen ſtrengen Winters herzzerreißend, und Viele ereilte 
dort ein frühzeitiger Tod. 

Der Zug vom Miſſourifluſſe nach dem großen Salz— 
ſee fand unter unſäglichen Strapazen und Entbehrungen 
ſtatt. Hungertyphus, Cholera und tödtliche Fieber wütheten 
entſetzlich unter der wandernden Menge. Aber Brigham 


3 4 


Moung trieb fein Volk mit unermüdlicher Energie durch die 
pfadloſe Wildniß immer weiter nach Weſten. Er ſelbſt 
eilte mit den beſten Pferden, Rindern und Fuhrwerken 
und einem Gefolge von 142 Mann voraus, Rationen, 
Saatkorn, Haus- und Ackerbaugeräth mit ſich nehmend. 
Am 24. Juli 1847 erreichte er das Ufergelände am großen 
Salzſee, wo er ſofort einige Aecker mit Korn beſtellte, 
Blockhäuſer zum Schutze gegen feindliche Indianer erbaute 
und Vorkehrungen zum Empfange der großen Mormonen— 
karavane traf. Im Herbſte deſſelben Jahres langte etwa 
die Hälfte der Zurückgebliebenen vom Miſſouri an, wodurch 
die Zahl der Colonie auf etwa 4000 Köpfe anwuchs, denen 
im nächſten Jahre der Reſt folgte. Alle Uebrigen waren 
den Strapazen und Krankheiten auf dem Exodus von Nauvoo 
bis zum großen Salzſee erlegen. Zuerſt waren die Neu— 
ankömmlinge in Verzweiflung, als ſie, anſtatt ein Land zu 
finden, wo Milch und Honig fleußt, eine troſtloſe Wüſtenei 
erblickten. Aber Brigham Poung, auf deſſen Schultern 
der Mantel des Propheten Joſeph gefallen war, benutzte 
geſchickt ſeine neue Macht. Er verkündete den Mormonen, 
ihm ſei ein Engel des Herrn erſchienen, der ihm befohlen 
habe, hier, an der Stätte des zukünftigen Königreiches 
Gottes auf Erden, die Zelte aufzuſchlagen. Trotzdem er 
wegen Mangels an Lebensmitteln gezwungen war, die 
Mormonen während drei Jahren, bis die Ernten zum 
Unterhalte genügten, auf halbe Rationen zu ſetzen, fügte 
ſich doch die Mehrzahl von Jenen willig ſeinen weiſen An— 
ordnungen. Den Verzweifelnden flößte er neuen Muth ein, 
drohte, ſtrafte, prophezeite, und ging, wenn ſonſt nichts 
mehr helfen wollte, mit Rath und That voran, — und 
Salt Lake City und die blühenden Niederlaſſungen der 
Mormonen am großen Salzſee ſind das redende Zeugniß 
der Erfolge von ſeiner raſtloſen Energie. 


143 


Während des Exodus der „Heiligen“ von Nauvoo 
nach Utah brach der Krieg der Vereinigten Staaten gegen 
Mexico aus und durchkreuzte die Pläne des ehrgeizigen 
Mormonenpropheten. Aber Brigham Young verftand es, 
die neuen politiſchen Conſtellationen zu ſeinem Nutzen aus— 
zubeuten. Er rüſtete ein Mormonenbataillon gegen die 
Mexicaner aus und erhielt dafür bedeutende Summen von 
der Regierung in Waſhington, wodurch es ihm möglich 
wurde, ſich Lebensmittel ꝛc. für den Bedarf ſeiner nach Utah 
wandernden Schaaren zu verſchaffen. Ehe der Friede 
zwiſchen Mexico und den Vereinigten Staaten abgeſchloſſen 
ward, gründete Brigham Young den unabhängigen Staat 
Deſerét, zu deſſen Gouverneur er ſich ſelbſt, und ſeinen 
Freund Heber C. Kimball zum Vicegouverneur creirte. 
Nachdem die Vereinigten Staaten die Oberhoheit über Utah 
erlangt hatten, erwirkte ſich Brigham Young (im 1850 — 51) 
in Waſhington City den Poſten eines Gouverneurs des 
Territoriums Utah und den eines Superintendenten der Ju— 
dianerangelegenheiten, führte dabei aber die Regierung von 
Deſerét ungenirt ſo nebenbei fort. Um die von Waſhington 
nach Utah geſandten Civilbeamten kümmerte ſich Brigham 
blutwenig und ſetzte ihrer Amtsthätigkeit alle möglichen 
Hinderniſſe entgegen. Offenbar hatte er ſich den Poſten 
eines Gouverneurs der Vereinigten Staaten nur deswegen 
verſchafft, um der Centralregierung in Waſhington die Mög— 
lichkeit zu nehmen, ihre Macht dort zu entfalten, ehe er die 
ſeinige nach beſten Kräften befeſtigen konnte. 

Im Jahre 1853 wurden die Eigenmächtigkeiten des 
Gouverneurs Brigham Young in Utah fo arg, daß der 
Congreß ihn allen Ernſtes abzuſetzen vorhatte. Als Jenem 
dieſes zu Ohren kam, erklärte er trotzig in einer Rede im 
Tabernakel, daß er ſo lange Gouverneur von Utah bleiben 
wollte, bis der liebe Gott ſage: „Brigham, Du brauchſt nicht 


144 


länger Gouverneur zu ſein!“ — Die Regierung in Waſhington 
konnte Niemanden finden, der der ſchwierigen Stellung eines 
Gouverneurs von Utah gewachſen war und dieſen Poſten 
annehmen wollte. Ihr blieb nichts übrig, als Brigham 
Moung auf's Neue zum Gouverneur von Utah zu ernennen, 
welchen Poſten er bis zum Jahre 1857 unbehindert be— 
kleidete. Da ermannte ſich zuletzt die Regierung in Waſhington, 
welche mit den von ihr nach Utah geſandten Bundesbeamten 
von Brigham immer verächtlicher behandelt wurde, ernannte 
A. Cummings zum Gouverneur von Utah und ſandte eine 
Armee von 3000 Mann unter dem Befehl des Oberſten 
A. S. Johnſton“* dorthin, um den neuen Gouverneur, 
nöthigenfalls mit Waffengewalt, einzuſetzen und ſeinen 
Mandaten Achtung zu verſchaffen. 

Jetzt kam die intereſſante Epiſode des Mormonen— 
krieges. Pikante Actenſtücke wurden von beiden ſtreitenden 
Parteien erlaſſen. Brigham proklamirte ſofort Kriegsgeſetz, 
verſpottete die Armee der Vereinigten Staaten und forderte 
ſie großprahleriſch zum Kampfe heraus. In einer von ſeinen 
Proklamationen heißt es wörtlich: Unſere Feinde ſagen, ihre 
Armee käme im Namen des Geſetzes. Ich, Brigham Young, 
verkünde hiermit der Welt, daß ſolch eine Behauptung ſo falſch 
iſt wie die Hölle, und daß die ganze Bande ſchlimmer ſei, 
als ein verrotteter Kürbiß. Kommt heran, ihr Tauſende von 
Räubern und Halsabſchneidern, ich verſpreche Euch im Namen 
des Gottes Israel, daß Ihr wie Schnee in der Juliſonne vor 
meinem Zorne verſchwinden ſollt. Die Präſidenten Polk und 
Zacharias Taylor braten bereits in der Hölle, und dem jetzigen 
Präſidenten der Vereinigten Staaten ſoll es nicht beſſer er⸗ 
gehen, jo wahr ich Brigham Young heiße! — Die Mormonen 

* Derſelbe fiel als commandirender General der confederirten 


Armee in der blutigen el bei Shiloh (Pittburg Landing) 
am 6. April 1862. 


145 


befeftigten, wie bereits erwähnt wurde, Echo Canon und 
ſtießen gewaltig in die Kriegstrompete, jedoch nur in der 
Abſicht, um bei ihrer nicht zu vermeidenden Unterwerfung 
möglichſt günſtige Bedingungen von den Vereinigten Staaten 
zu erlangen. Die Heldenthaten der „Heiligen“ beſchränkten 
ſich auf das Stehlen von Pferden und ein gelegentliches 
Plündern von unbeſchützten Proviantzügen des feindlichen 
Truppencommando's. Als Schluß der Kriegsfarce kam ein 
Compromiß zu Stande, wonach die Militärmacht der Ver— 
einigten Staaten nach Salt Lake City hinein und gleich 
wieder heraus marſchiren, Cummings aber als Gouverneur 
von Utah dableiben ſollte. 

Die Truppen der Vereinigten Staaten bezogen ein 
Lager in Camp Floyd, vierzig engliſche Meilen ſüdlich 
von Salt Lake City. Als auf Anordnung des Kriegs— 
departements Utah wieder geräumt ward, wurden die in 
Camp Floyd angehäuften Vorräthe und Transportfuhren 
aller Art öffentlich verſteigert und von den Mormonen zu 
Spottpreiſen erworben. Hierdurch legten viele von dieſen 
den Grund zu ihrem nachherigen Wohlſtande. Wagen von 
der beſten Bauart, mit vollem Geſchirr und mit je ſechs 
prächtigen Maulthieren beſpannt, erhandelte Brigham, der 
ſelbſtverſtändlich der Hauptkäufer war, zu fünfzig Dollars 
die Fuhr — complet. Speck und Schinken kaufte er zu 
Tauſenden von Centnern für einen Cent das Pfund, alle 
anderen Vorräthe ebenſo. Als die Bundesarmee von Utah 
abzog, wurden ein paar Compagnien in dem ſchon genannten 
Camp Douglas zurückgelaſſen, eine Corporalswache über 
das neue Jeruſalem, welche Brigham gänzlich ignorirte. 
Sobald ſich die Occupationsarmee wieder aus Utah ent- 
fernt hatte, begannen Brigham's Uebergriffe von Neuem, 
und der von den Vereinigten Staaten eingeſetzte Gouver— 
neur war und blieb eine vollſtändige Null. Dieſen betitelte 


10 


146 


Brigham Young als „Gouverneur von den Salbeibüſchen“ 
(governor of the sage brush), während er ſich ſelbſt 
„Gouverneur von Utah“ nannte. 

Wer den Mandaten des Propheten widerſprach, den 
verfolgte dieſer mit unerbittlicher Strenge. Einzelne Indi— 
viduen, die ſich ihm beſonders verhaßt gemacht hatten, ver— 
ſchwanden auf ſeltſame Weiſe meiſtens während einer „Reiſe 
auf's Land“, welche Unfälle Brigham allemal den In— 
dianern zuſchob. Die Daniten oder Racheengel, welche 
nach dem Volksglauben die Henkersrolle bei ſolchen „Un— 
fällen“ ſpielten, ſollen auch bei dem Blutbade von 
Mountain Meadow (10. September 1857) die Hand im 
Spiele gehabt haben, wobei einhundertfünfzig Emi— 
granten, unter denen ſich eine Anzahl von abtrünnigen 
Mormonen befand, von verkleideten Indianern ermordet 
wurden. In dieſe Zeit fällt auch der ſogenannte Morri— 
ſitenkrieg. Ein neuer Prophet, mit Namen Joſeph 
Morris, trat unter den Mormonen in Utah auf und hatte 
bald gegen 500 Proſelyten gemacht. Brigham Young, dem 
die neue Gemeinde beſonders verhaßt war, benutzte ihre 
Weigerung, in der Miliz zu dienen, als Vorwand zur Ver— 
folgung. Eine Anzahl Morriſiten, worunter ihr Führer, 
wurde getödtet oder ins Gefängniß geworfen, der Reſt ver— 
jagt. Ein ſchlimmerer Widerſacher erſtand Brigham in 
Joſeph Smith, dem Sohne des ermordeten Propheten 
Joſeph Smith, der in Nauvoo den urſprünglichen Glauben 
wieder aufrichtete, Jenen für einen falſchen Propheten 
erklärte und alle Neuerungen, worunter die Polygamie, 
verwarf. Die Joſephiten ſind bereits ſehr zahlreich öſt— 
lich vom Miſſiſſippi, und auch in Utah hat Joſeph der 
jüngere, trotzdem Brigham Moung ihn für einen Schwind— 
ler und ſeine Lehren für Einflüſterungen des Teufels er— 
klärt, viele Anhänger gefunden. 


147 


Brigham Young benutzte feine Stellung als weltliches 
und kirchliches Oberhaupt der Mormonen, um ſeinen Ein— 
fluß auf dieſelben überall geltend zu machen. Als unum— 
ſchränkter Führer einer Gemeinde von vielen Zehntauſenden 
von arbeitſamen und genügſamen Menſchen, die ſeinen Man— 
daten unbedingt gehorchten, hat er die Wildniß in Wahr— 
heit in einen Garten umzuwandeln gewußt. Nur durch das 
cooperative Syſtem und eine umfaſſende Irrigation des 
ſonſt ganz unproductiven Landes iſt dieſes möglich geweſen. 
Die bedeutenden Mittel, welche dazu erforderlich waren, ver— 
ſchaffte ſich Brigham hauptſächlich durch den Zehnten (tithing), 
die Haupteinnahme der Kirche. Jeder Mormone iſt da— 
nach verpflichtet, den zehnten Theil ſeines Einkommens an 
die Kirche abzuliefern, oder den entſprechenden Werth davon 
durch gemeinnützige Arbeit abzuverdienen. Neuankömmlinge 
müſſen außerdem ein Zehntel ihres Vermögens hergeben — 
Vieh, Fuhrwerke, Ackergeräth, Möbeln, Betten, Kochgeſchirr, 
Kleider ꝛc. Zugleich werden fie bei ihrem Seelenheil er— 
mahnt, mit dem zehnten Theil ihres Baarvermögens her— 
auszurücken. Wer den Zehnten nicht prompt bezahlt, der 
wird aus der Kirche ausgeſtoßen und verliert den Segen 
des Propheten. Zum größten Theil wird der Zehnte in 
landwirthſchaftlichen Producten, in Mehl, Getreide, Obſt, 
Butter, Käſe, Hornvieh, Pferden, Schafen, Hühnern, ꝛc. 
entrichtet, und manche arme Mormonenfamilie knappt ſich 
das tägliche Brod vom Munde ab, um nicht des himmliſchen 
Segens verluſtig zu werden. Ganz mittelloſe Familien dage— 
gen, welche nach Utah einwandern, brauchen im erſten Jahre 
den Zehnten nicht zu entrichten. Im erſten Winter werden 
ſie aus der Kirchencaſſe unterhalten, man iſt ihnen beim 
Bau der Farmgebäude und beim Einrichten der Wirthſchaft 
behülflich, ſie bekommen Lebensmittel, Pferde, Ochſen, Wagen, 
Saatkorn ꝛc. umſonſt, und im Frühjahr bebauen ſie ihr 


10 * 


148 


Land, und können, wenn ſie fleißig find, bald zu Wohlſtand 
gelangen. Solche Familien ſind natürlich die getreueſten 
Anhänger der Kirche der Heiligen vom jüngſten Tage. 
Brigham Poung, der ein ausgezeichneter Financier iſt, 
verſteht es, alle Lieferungen des Zehnten vortheilhaft zu ver— 
wenden. Die zahlreichen Arbeiter, welche von ihm theils 
für Privatzwecke, theils am Tempel, Tabernakel und anderen 
öffentlichen Bauten angeſtellt ſind, erhalten ihren Lohn 
meiſtens in Producten, und zwar zu hohen Preiſen, aus— 
gezahlt. Die übrig bleibenden Vorräthe werden entweder 
in Waarenlagern für Baar verkauft oder nach den an— 
grenzenden Minenländern geſandt und dort an die Gold— 
wäſcher für Goldſtaub verhandelt. Den Speck und die 
Schinken, welche Brigham in Camp Floyd für einen Cent 
das Pfund kaufte, berechnete er ſeinen Arbeitern zu einem 
viertel Dollar das Pfund. Für den Bau des Salt Lake 
City⸗Stadttheaters hat er auf dieſe Weiſe 200,000 Dollars 
ausgegeben. Seine Reſidenz, ſein Harem und die Gebäude 
im „Prophetenblock“ ſeine zahlreichen Farmen und Gebäulich— 
keiten aller Art, Baumwollenfabriken, Säge- und Mehlmühlen, 
ꝛc., die im Territorium zerſtreut liegen, koſten ihm einen wahren 
Spottpreis. Von England aus bekam er 100,000 Dollars 
in Gold zum Bau des Tempels zugeſchickt, welche Summe er 
einfach behielt und dafür den Arbeitern Speck und Mehl 
vergütete. Welche enormen Summen der ſpeculative Prophet 
auf dieſe Weiſe bereits eingeſäckelt hat, davon kann man 
ſich einen Begriff machen, wenn ich ſage, daß der Zehnte 
von der europäiſchen Miſſion allein ihm mindeſtens eine 
halbe Million Dollars eintrug. Da von jeher alle Con— 
trolle über den Zehnten gefehlt hat, ſo konnte Brigham da— 
mit ſchalten und thun, wie er Luſt hatte. Im Zehntamt 
ſind eine Menge von „Clerks“ angeſtellt, die wenig oder 
gar nichts zu thun haben, mit Jahresgehalten von tauſend 


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Dollars und mehr, und die fo zu ſagen des Präſidenten 
Leibgarde bilden. Ihre Mußezeit widmen dieſe intereſſanten 
Jünglinge dem Dienſt der Muſen, indem ſie im Salt Lake 
City⸗Stadttheater ſpielen, was Brigham, der auf dieſe 
Weiſe die meiſten Schauſpieler umſonſt hat, wieder manchen 
„ehrlichen Pfennig“ einträgt. 

Die Finanzſpeculationen des Propheten beſchränken ſich 
jedoch keineswegs auf die Verwaltung des Zehnten. Mit 
irdiſchen Gütern beſonders reich geſegnete Brüder ſchickt 
derſelbe, oft auf mehrere Jahre, nach auswärtigen Miſſionen, 
verwaltet in ihrer Abweſenheit deren Vermögen, oder kauft 
ihnen ihr Hab und Gut zu niedrigem Preiſe ab. Wen der 
Prophet zu einem ſolchen Ehrenpoſten auserwählt hat, der 
muß ſich ſofort auf die Wanderung begeben, oder er wird 
aus der Gemeinſchaft der „Heiligen“ ausgeſtoßen. Zu— 
gleich giebt dies eine treffliche Gelegenheit, um ſolche Mit— 
glieder der Gemeinde, welche einen beſonders raſtloſen Geiſt 
zeigen, in die Fremde zu ſchicken, wo ſie für ihre Eitelkeit 
und ihren Fanatismus ein weites Feld finden und dabei 
Brigham daheim nicht unangenehm werden können. 

Bei der Beſitzergreifung von Utah vertheilte Brigham 
Young die einträglichſten Domänen, Waſſerprivilegien, Fähren, 
Holzungen, Wieſengründe ꝛc. unter die Führer der „Heili— 
gen“, er ſelbſt aber nahm den Löwenantheil. Außerdem 
ließ er ſich von der Legislatur des „Staates Deſerét“ an— 
ſehnliche Landſchenkungen machen, jo daß ſo ziemlich all 
das beſte Land in Utah ihm und ſeiner Familie gehört. 
Aus der Bundescaſſe in Waſhington City bezog er viel 
Baargeld zur Errichtung von Staatsgebäuden, welche er 
nach oben genanntem Plane für Productenlieferungen er- 
bauen ließ. In Salt Lake City hat er ſich mit den größten 
Handelsfirmen aſſociirt, er iſt Director einer Bank, hat das 
Monopol einer Branntweinbrennerei und iſt Eigenthümer 


150 


des Stadttheaters. In den Landdiſtricten beſitzt er viele 
Sägemühlen, Farmen, Meiereien ꝛc. Eine Telegraphen— 


leitung, die alle bedeutenderen Niederlaſſungen in Utah ver— 


bindet, gehört ihm allein, und neuerdings machte er einen 
Contract mit der Unionpacific-Eiſenbahngeſellſchaft, wodurch 
er ſich verpflichtet hat, 200 engliſche Meilen jener Bahn zu 
bauen. Mit einem Wort, wo etwas zu verdienen iſt, da 
iſt Brigham Poung dabei und ſpielt in jedem Falle die erſte 
Rolle. Sein Vermögen, wovon er in Baar große Summen 
in öſtlichen Banken und in der Bank von England angelegt 
haben ſoll, ſchätzt man auf mindeſtens zehn Millionen 
Dollars Gold. 

Wundern muß man ſich, wie es möglich geweſen iſt, 
daß Brigham Moung einen ſolchen Einfluß über die Mor— 
monen erlangen konnte, daß ſie ſeinen Mandaten blind— 
lings Folge leiſten. Aber er hat ſeine Heerde ausſchließlich 
unter den niederſten Volksklaſſen in Europa ausgeſucht, mit 
denen er, da die ganze Mormonenreligion auf Aberglauben 
baſirt iſt, ſo ziemlich thun kann, was er will. Nur die 
Führer der Mormonen, welche natürlich ganz im Intereſſe 
des Propheten handeln, können einigermaßen auf Bildung 
Anſpruch machen, und unter ihnen findet man in der That 
geriebene Leute, meiſtens Yankees vom reinſten Waſſer, 
die auch in den großen Städten des Oſtens nicht zu den 
verlorenen Schafen zählen möchten. Man braucht nur die 
Geſichter der Mormonen anzuſehen, denen man in den 
Straßen von Salt Lake City begegnet, um ihre Herkunft 
errathen zu können. Die Hälfte von ihnen ſtammen von 
den britiſchen Inſeln, wo ſie augenſcheinlich auf der nie— 
drigſten geſellſchaftlichen Stufe geſtanden haben, und Schwe— 
den, Dänen und Norweger ſind beſonders ſtark unter ihnen 
vertreten. Deutſche giebt es gottlob nur wenige unter den 
„Heiligen“. Polen, Franzoſen, Finnen, Isländer, Polyneſier, 


151 


Oſtindier ꝛc. find jede Nation mit einigen Exemplaren ver- 
treten. Auch die Juden haben einen Delegaten in der poly- 
gamiſchen Geſellſchaft. Brigham behauptet, es gebe fünfzig 
Nationalitäten unter den Mormonen in Utah. 

Auf claſſiſche Bildung macht Brigham Young keinen 
Anſpruch; aber ſeine Redeweiſe hat etwas Urkräftiges, das 
Einen die grammatikaliſchen Ungeheuerlichkeiten, denen er 
ſich öfters ſchuldig macht, vergeſſen läßt. Sein Auditorium 
weiß er durch Ausfälle gegen die Gentiles und durch in— 
tereſſante Anekdoten zu feſſeln. Die Wunder, welche Gott 
an ihm offenbart, bezweifelt von den Gläubigen Niemand. 
Im Tabernakel erzählte er einmal, daß er achthundert 
Meilen weit mit nur dreizehn und einem halben Dollar 
„Greenbacks“ im Koffer gereiſ't ſei. Aber das Geld hätte 
für alle Ausgaben genügt, denn jeden Morgen hätte die— 
ſelbe Summe (genau dreizehn und einen halben Dollar 
„Greenbacks“) wieder im Koffer gelegen — „from the 
Lord!“ — Daß der liebe Gott ſich neuerdings mit Papier- 
ſcheinen ſtatt mit grob Courant befaßt, iſt jedenfalls in— 
tereſſant! — Ein anderes Mal erzählte Brigham, er habe 
einer armen Frau fünf Dollars aus ſeiner linken Weſten— 
taſche als Almoſen gegeben. Am nächſten Tage hätten zehn 
Dollars in derſelben linken Weſtentaſche geſteckt, ſo wahr 
er Brigham heiße! gleichfalls — „from the Lord!“ — 
Während der Predigt inſtruirt er nicht ſelten die Gemeinde 
in der Landwirthſchaft — wie man pflügen und ſäen ſolle, 
auf welche Weiſe der Boden am vortheilhafteſten bewäſſert 
werde, wann Bäume umgepflanzt, gepfropft und beſchnitten 
werden ſollten, wie man am beſtem Hämmel ſcheere, Käſe 
und Butter mache, Fleiſch einſalze, Schinken und Würſte 
räuchere, Kapaunen verſchneide, Schweine mäſte, die Racen 
der Pferde und des Hornviehs veredele ꝛc. Politiſche Tages— 
fragen werden breit erörtert. Soll eine öffentliche Wahl 


152 


ftattfinden, fo ſpricht Brigham, nachdem er zuerſt gefagt, 
daß Jeder frei ſtimmen könne, wie er wolle, im Tabernakel 
ſeine Meinung aus, für wen er ſtimmen werde, — welchen 
„Wink mit der Scheunenthüre“ die gehorſame Gemeinde 
natürlich verſteht und wie ein Mann gerade ſo ſtimmt, 
wie der Präſident. 

Gegen Fremde ift Brigham Young zuvorkommend und 
gaſtfrei, wie es alle Mormonen ſind, und Jeder, der ihn 
beſucht, wird von ihm eingenommen. Von den Mormonen 
wird er förmlich vergöttert. Mit einem Wort, der Prophet 
iſt zum Herrſcher wie geboren. Die geordneten Zuſtände in 
Utah geben hierfür einen ſchlagenden Beweis. Es iſt eine 
unbeſtreitbare Thatſache, daß die Mormonen arbeitſamer und 
ordentlicher ſind und den Geſetzen (d. h. ihren eigenen) unbe— 
dingter gehorchen, als irgend eine andere Claſſe von Einwoh— 
nern auf dieſem Continente. Diebſtahl, Trunkenheit, unmorali— 
ſcher Lebenswandel, Schlägereien und Straßenunfug gehören 
in Salt Lake City und in den kleineren Ortſchaften zu den 
großen Seltenheiten. Brigham Young beſtraft Ruheſtörer jed— 
weder Art mit eiſerner Strenge. Als Landwirth ſucht er in 
der Welt ſeines Gleichen, und ſeinen weiſen Anordnungen allein 
verdankt Utah ſeinen gegenwärtigen Wohlſtand. Ganz Utah iſt 
jo zu jagen eine große Plantage und Brigham Young iſt der 
Pflanzer, dem Jedermann unbedingt Folge leiſtet. Ob das 
Reich der Mormonen in Utah mit Brigham's Tode zer— 
fallen und welchen Einfluß die Pacifiebahn auf den Be— 
ſtand deſſelben haben wird, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen. 
Es hat den Anſchein, daß Brigham ſeine Schöpfung mit 
ſtarker Hand, ſo lange er lebt, zuſammenhalten, aber nach 
ihm die Mormonenkirche und ihre weltliche Macht in Utah 
in den Wogen der Civiliſation, die über fie hereinbrechen 
müſſen, Schiffbruch leiden wird. In der Culturgeſchichte 
der Vereinigten Staaten von Nordamerika wird Brigham 


153 


Moung’s Name ehrenhaft fortleben; denn durch ſeine raft- 
loſe Energie und die Pflanzung der Mormonen im großen 
Salzſee-Becken wurden die Wildniſſe im Innern dieſes Con⸗ 
tinentes der Civiliſation erſchloſſen und damit der Grund 
zu künftigen blühenden Staaten gelegt. Ein Mann wie 
Brigham Young, der, ganz auf feine eigene Kraft ange— 
wieſen, inmitten einer ungeheuren Wüſtenei ein blühendes 
Gemeindeweſen ſchaffen konnte, gehört gewiß zu den be— 
deutendſten Erſcheinungen dieſes Jahrhunderts! — 

Noch einige Bemerkungen über die complicirte Re— 
ligion der Mormonen und ihre beſondere Inſtitution in 
Utah, die Polygamie. 

Nach dem Mormonenglauben exiſtiren viele Götter von 
verſchiedener Vervollkommnung, und zwar beiderlei Geſchlechts, 
die auf den zahlloſen Sternen im Weltall zerſtreut wohnen. 
Für uns Menſchen hat aber nur ein Gott Bedeutung, 
Gott der Vater, welcher die Menſchen und die Erde ge— 
ſchaffen hat. Von ihm werden unſere Seelen im Himmel 
gezeugt und dann in menſchliche Körper auf die Erde ver— 
pflanzt. Gott der Vater hat die Geſtalt eines Mannes, 
mit menſchlichen Leidenſchaften, und iſt aus geiſtiger Materie 
gebildet, die ſich von der körperlichen nur durch ihre Fein— 
heit unterſcheidet. Gott iſt allmächtig, aber nicht perſönlich 
allgegenwärtig, in welcher letzten Eigenſchaft er vom heili— 
gen Geiſte erſetzt wird. Jeſus Chriſtus war der natürliche 
Sohn von Gott dem Vater und beſaß den Geiſt Gottes 
in einem menſchlichen Körper. Von Gott dem Vater unter— 
ſcheidet er ſich nur dadurch, daß er der jüngere von beiden 
iſt. Gott der Vater führt als der ältere das Präſidium 
im Weltall. Der Heilige Geiſt iſt ein das ganze Weltall 
durchdringendes electriſches Fluidum, durch ihn finden alle 
Wunder und Offenbarungen ſtatt. Durch Händeauflegen eines 
dazu autoriſirten Prieſters kann der Heilige Geiſt jedem 


154 


Menſchen mitgetheilt werden, der alsdann Wunder zu thun 
vermag, z. B. prophezeihen, in fremden Sprachen reden, 
Kranke heilen c. Der Urgott, der Stammvater aller an— 
deren Götter, reſidirt auf dem Sterne Kolob, im Centrum 
des Weltalls. Dieſer Stern dreht ſich in tauſend Erd— 
jahren ein Mal um ſeine Achſe, und eine Umdrehung des 
Kolob iſt ſo viel wie ein Tag für den Allmächtigen. 

Es giebt drei Himmel, einen teleſtiſchen Himmel, einen 
irdiſchen Himmel und einen himmliſchen Himmel. Die zwei 
letztgenannten werden von den Seelen der Abgeſchiedenen 
nach Rangclaſſen bewohnt, während der teleſtiſche Himmel 
den Göttern, Engeln ꝛc. zugewieſen iſt. Der teleftifche 
Himmel wird durch die Sterne dargeſtellt, der irdiſche 
Himmel durch den Mond, der himmliſche Himmel durch die 
Sonne. Der himmliſche Himmel iſt gegenwärtig für die 
verſtorbenen Mormonen reſervirt, wird aber nach der Wie— 
derkunft Chriſti auf die durch ihn verfeinerte und verklärte 
Erde verlegt werden. Chriſtus wird Jeruſalem wieder auf— 
richten, und Zion wird in Jackſon County in Miſſouri ge— 
baut werden. Die Hölle iſt nur für ſolche beſtimmt, welche 
gegen den Heiligen Geiſt geſündigt haben, d. h. die von 
der wahren Kirche, der ſie beigetreten waren, wieder abge— 
fallen ſind, ſowie für einige Erzſünder, worunter ſich mehrere 
Präſidenten der Vereinigten Staaten, welche die Mormonen 
verfolgt haben, befinden. Gott der Vater hat den alten 
wahren Glauben, der verloren gegangen war, dem Pro— 
pheten Joſeph Smith wieder offenbart. Alle, die Joſeph 
als Propheten anerkennen und von Jemanden getauft wor— 
den ſind, den er oder ſeine Nachfolger dazu autoriſirt haben, 
ſind die Heiligen vom jüngſten Tage und werden mit Chriſtus 
tauſend Jahre lang auf Erden regieren. 

Die inneren Angelegenheiten der Kirche werden durch 
den Präſidenten, dem zwei Rathgeber zur Seite ſtehen, 


155 


durch die Collegien der zwölf Apoſtel, der Siebziger, der 
Hohenprieſter, der Patriarchen und der Aelteſten, einen 
Hohen Rath und die Aaroniſche Prieſterſchaft verwaltet * 
Der Gottesdienſt der Mormonen beſteht aus Gebet, worin 
ſich Bitte um Segen für ihren Präſidenten und Ver— 
wünſchungen gegen ihre Feinde vereinigen, aus dem Singen 
von weinerlichen Hymnen, die ein Abklatſch aus methodiſti— 
ſchen Geſangbüchern ſind, ſowie aus Vorträgen über po— 
litiſche und nationalöconomiſche Fragen. 

Mit der Lehre von der Polygamie, welche der Pro— 
phet Joſeph bereits in Nauvoo insgeheim einführte, trat 
Brigham Young am 29. Auguſt 1852 in Salt Lake City 
zum erſten Male öffentlich hervor. Niemand, der bereits 
im Beſitz einer Frau iſt, darf nach jener Lehre eine zweite 
nehmen, ohne erſt den Präſidenten der Kirche deshalb um 
Erlaubniß gefragt zu haben, der ſeinerſeits mit Gott dem 
Vater über das Annehmbare des Vorſchlags Rückſprache 
halten wird. Auch muß der Applicant die Zuſtimmung der 
Eltern ſeiner Braut, der ſeiner erſten Frau und der Aus— 
erwählten ſelbſt haben. Verweigert die erſte Frau ihre Zu— 
ſtimmung, ſo kann der polygamiſche Candidat an den Prä— 
ſidenten appelliren, und iſt jene nicht im Stande, triftige 
Gründe anzugeben, weshalb ihrem Gemahl der Troſt einer 


* Wer ſich für das Mormonenthum und die Geſchichte der 
Heiligen vom jüngſten Tage beſonders intereſſirt, dem kann ich 
Robert von Schlagintweit's neueſtes Buch (Die Mormonen 
oder die Heiligen vom jüngſten Tage, von ihrer Entſtehung bis auf 
die Gegenwart. Cöln und Leipzig, 1874, bei Eduard Heinrich 
Mayer) beſonders empfehlen. Der gelehrte Verfaſſer hat in jenem 
Werke eine ausführliche Schilderung der Mormonen, ihrer Geſchichte 
ihres Glaubens ꝛc., nach den neueſten Quellen gegeben, eine Arbeit, 
die ſich durch populäre Schreibart und objective Darſtellung gleich— 
mäßig auszeichnet. . Th. Kf. 


156 


zweiten Frau verſagt werden folle, jo wird ihm dennoch 
geſtattet, dieſe heimzuführen. Frauen werden entweder für 
das Zeitliche oder für die Ewigkeit oder für beide Fälle, 
oft verſchiedenen Männern zugleich „angeſiegelt“. Bei einer 
ſolchen Ehe gehört die Frau dem einen Gemahl für dieſe 
Zeit, während ſie nebſt ihren Kindern einem Anderen für 
die Ewigkeit anheimfällt. Brigham hat vier ſolcher Frauen, 
welche nach ihrem Tode mit der Nachkommenſchaft dem 
Propheten Smith überliefert werden ſollen, während Jener 
ſich mit zeitlicher Eheſtandsfreude begnügt. Ob Smith im 
Himmel ſeine Zuſtimmung zu dem Frauen- und Kinder— 
handel geben wird, möchte wohl zweifelhaft ſein! — Brigham 
ſind eine Menge Frauen, die aber nicht im Harem aufge— 
nommen ſind, für die Ewigkeit angeſiegelt, — meiſtens alte 
Jungfern, die ſich im Himmel für die gezwungene Ent— 
ſagung auf Erden zu entſchädigen gedenken. 

Unter den Mormonen iſt ſogar das Heirathen von 
Halbgeſchwiſtern erlaubt, und ein beſonders Frommer darf 
Mutter und Tochter zugleich an den Altar führen. Mancher 
Heiliger heirathet für Zeit und Ewigkeit gleich „die ganze 
Familie“, damit Mutter und Töchter bis an's Ende der 
Tage zuſammen leben können. Die verſchiedenen Verwandt— 
ſchaftsgrade, welche durch ſolche Ehen entſtehen, ſind oft recht 
originell. Ein Mormone kann z. B. leicht ſein eigener 
Großvater oder ſein eigner Sohn werden, und die ange— 
nommenen Bezeichnungen von Mutter, Schweſter und Tochter 
ſind unter den Mormonenfrauen durchaus nicht ſtichhaltend. 
Es iſt oft ſchwerer, bei den Heiligen einen Verwandtſchafts— 
grad zu beſtimmen, als einen verwickelten Rebus zu löſen. 
Brigham hat durch ſeine vielen Frauen und Stellvertretungs— 
frauen und ſeine mit Frauen geſegneten Brüder und Vettern 
ſo viele Familienbande in Salt Lake City geknüpft, daß er 
mit der halben Stadt verwandt iſt. Uebrigens haben keines— 


157 


wegs alle Mormonen in Utah mehrere Frauen; nicht ein- 
mal der vierte Theil von ihnen treibt, namentlich wegen 
des Koſtenpunktes, practiſch Polygamie, und zwar ſind es 
nur die Führer der Kirche, welche einen förmlichen Harem 
beſitzen. In wohlgeordneten Mormonenfamilien, wo mehrere 
Frauen einem Manne angeſiegelt ſind, führt allemal die 
erſte Frau das Präſidium im Hauſe, d. h. wenn die ganze 
Familie beiſammen wohnt. Aber dies iſt durchaus nicht 
immer der Fall. Ein Mormone heirathet z. B. vier 
Frauen. Mit einer lebt er zu Hauſe; die anderen drei 
führen eine Haushaltung für ſich in einer beſonderen Woh— 
nung in der Stadt oder auf dem Lande, verdienen Geld 
mit Waſchen, Nähen, Handarbeit u. d. m. Gelegentlich be— 
ſucht der polygamiſche Gemahl ſeine weiblichen Koloniſten, 
caſſirt die Erſparniſſe derſelben ein und läßt ſich von ihnen 
bewirthen; ein Schlaraffenleben, welches den Neid manches 
unbeweibten Gentiles erregt! 

Brigham vertheidigt die Polygamie von verſchiedenen 
Standpuncten — bibliſchen, ſtaatlichen und geſellſchaftlichen. 
Ueber die gleichmäßige Vertheilung der Geſchlechter, als ei— 
nen Hauptgrund gegen die Vielehe, kommt er leicht hinweg. 
Tauſende von Männern leben, wie er ſagt, freiwillig im 
Cölibat, während es unter einer Million Frauen kaum 
eine einzige giebt, die nicht gern einen Mann nehmen würde, 
könnte ſie nur einen bekommen. 

Seit im Congreß der Vereinigten Staaten viele Stim— 
men gegen die Vielweiberei laut geworden ſind und bereits 
mehrere Male Geſetzvorſchläge gemacht wurden, dieſelbe mit 
Gewalt in Utah zu unterdrücken, ſind die Mormonen ſehr 
ſchweigſam über ihre „ſpecielle Inſtitution“ geworden. Zu 
wünſchen wäre, daß Brigham in nicht allzuferner Zukunft 
als Prophet den Heiligen vom jüngſten Tage verkündete: 
der liebe Gott habe ſich die Polygamie überlegt und als 


158 


nicht zeitgemäß wieder abgeſchafft! — Daß dies gegen alle 
Begriffe von Sittlichkeit und Heiligkeit der Ehe in einem 
chriſtlichen Lande verſtoßende Inſtitut auf die Dauer, wenn 
Utah durch die Pacificbahn in enge Berührung mit den 
übrigen Landestheilen der Union gekommen iſt, nicht fort— 
beſtehen kann, muß auch ihm klar ſein. Wollen ſich die 
Mormonen im Glauben von ihren Führern noch ferner 
humbuggen laſſen, ſo geht das im Grunde genommen Nie— 
manden etwas an; aber mit den Civilgeſetzen der Vereinigten 
Staaten dürfen ſie nicht in Conflict gerathen, und es darf 
nicht dieſelbe Handlung in einem Theile der Union 
erlaubt ſein, die in allen anderen Theilen der— 
ſelben für ein Verbrechen gilt.“ 


* Mit der Vielweiberei in Utah ſteht es gegenwärtig (1874) 
in Utah nicht beſſer als im Jahre 1867 und die Heiligen ſind ſo 
obſtinat gegen die Regierung der Vereinigten Staaten wie je. Ob— 
gleich Brigham Poung bereits im April 1873 fein Amt als Ver— 
walter der Kirche niedergelegt und ſich auch von der co-operativen 
Handelsgenoſſenſchaft und von anderen Aemtern zurückgezogen hat, 
iſt ſein Einfluß auf die innere Leitung aller das Mormonenthum 
betreffenden Angelegenheiten doch derſelbe geblieben. Dadurch, daß 
den Frauen (ſeit dem 12. Februar 1870) Stimmrecht in Utah er— 
theilt wurde, haben ſich die Mormonen ihre Majorität den Gentiles 
gegenüber zu erhalten gewußt. Allerdings fehlt es nicht an Zwiſtig— 
keiten unter den Heiligen, aber die Kirchenpartei hat die Liberalen in den 
letzten Wahlen dennoch zu ſchlagen gewußt. Der gegenwärtige Gou— 
verneur von Utah G. L. Woods (ein alter Bekannter von mir 
aus Oregon) hat ſeine liebe Noth mit den Heiligen, die ihm „die 
Hölle heiß machen.“ Mit dem in Camp Douglas garniſonirenden 
Militärcommando der Vereinigten Staaten ſind Reibereien an der 
Tagesordnung, die Polizei in der großen Salzſeeſtadt arretirt die 
dorthin kommenden Soldaten unter den nichtigſten Vorwänden. Der 
in Camp Douglas commandirende Officier hat ſich bereits an den 
Präſidenten Graut um Hülfe gewendet, da er, nach ſeinen eigenen 


D. 


Von der Mormonenſtadt am Salzſee nach 
dem Goldlande Idaho. 


1. Nordwärts zum Schlangenfluß. 


Der 10. Mai 1867 fand mich auf's Neue auf der 
Reiſe, diesmal direct nach Norden, dem Goldlande Idaho 
zukutſchirend, dem Ziele meiner 1500 Meilen langen Stage— 


Worten, „machtlos ſei, die Geſetze zur Geltung zu bringen“. Der 
in Utah tagende Gerichtshof der Vereinigten Staaten iſt in eben ſo 
ſchlimmer Lage wie die Militärmacht, und der Richter, welcher es 
unmöglich fand, einen gegen Brigham gefällten Urtheilsſpruch aus— 
zuführen, ſagte (im Februar 1874): „ich muß das demüthigende 
Geſtändniß machen, daß ich hier vollſtändig machtlos bin. Jeder— 
mann in Utah weiß, daß Brigham Young über dem Geſetze 
ſteht ꝛe.“ — Daß ſolche Zuſtände in Utah auf die Dauer unmöglich 
ſind, muß jedem Unbefangenen einleuchten. Wie ſich das Mormo— 
nen⸗Problem löſen wird, ob durch Waffengewalt von Außen, ob 
durch inneren Zerſetzungsproceß in der Kirche der Heiligen, läßt 
ſich allerdings ſchwer vorausſagen. Lange wird Brigham Young, 
der bereits 73 Jahre zählt, wohl nicht mehr leben, und es ſcheint 
faſt, daß ſich die Regierung der Vereinigten Staaten ſcheut, bei ſeinen 
Lebzeiten die Initiative zu ergreifen. Daß aber nach des Propheten 
Tode Utah ſchlimme Tage bevorſtehen, dieſes vorauszuſagen, dazu 
bedarf es wahrlich keines Propheten! Der Verfaſſer. 


160 


fahrt. Noch 500 engliſche Meilen und ich follte mein „El— 
dorado“ erreichen. Da ich bereits jo an 600 Stunden zu- 
rückgelegt, ſeit ich die Stadt Solomon in Kanſas verlaſſen, 
ſo kam mir dieſes letzte Hauptdrittheil meiner Ueberland— 
reiſe übrigens gar nicht mehr ſo lang vor. Die Stage— 
kutſche ſchien mir nur ein Palankin auf Rädern zu ſein, 
allerdings mitunter etwas unbequem, namentlich wenn ſie, 
wie zwiſchen Denver und Salt Lake City, bald ein Schmutz 
wagen, bald ein Käfig oder ein Rumpelwagen mit Poſtſack— 
kiſſen war, und die Paſſagiere meilenweit durch tiefen Schmutz 
und halbgeſchmolzenen Schnee nebenher ſpazieren mußten. 
Aber daran gewöhnt man ſich bald und ich kann nicht läugnen, 
daß ich das vielſeitige Fuhrwerk, Stage genannt, wirklich 
lieb gewonnen. Das Wetter am heutigen Morgen war 
wunderſchön; eine luſtige Geſellſchaft von Goldgräbern aus 
Montana hatte ich zu Reiſegefährten, und als ich bei dem 
Kutſcher auf dem hohen Bock einer eleganten Concord-Stage 
Platz nahm und unſer muthiges Sechsgeſpann von herr— 
lichen Braunen, blank geſtriegelt als ob ſie ſoeben aus einem 
königlichen Marſtall kämen, durch die idylliſchen Straßen 
von Salt Lake City ſprengte, da ward mir wieder einmal 
ſo recht kannibaliſch reiſewohl. 

Die breite Oſt⸗Tempelſtraße ging es raſſelnd entlang, 
die um die achte Morgenſtunde bereits von Fußgängern 
und Fuhrwerken lebendig war; linker Hand blickte das rieſige 
Schildkrötendach des Tabernakels zum letzten Male auf mich 
herab und rechts hinüber warf ich einen Scheidegruß nach 
Brigham's idylliſchem Harem. Die blühenden Pfirſichbäume 
nickten im hellrothen Frühlingsſchmuck über die hohen Stein— 
wälle vom Prophenblock, und die Waſſer ſprudelten neckiſch 
und klar unter dem Schatten grüner Acacien und canadiſcher 
Pappeln an den breiten Gehwegen dahin, der Himmel 
ſchaute jo blau, die Gebirge leuchteten fo ſilbern und die 


161 


Menſchen grüßten fo freundlich, als ob Alles, Natur und 
Menſchen, ihr Sonntagskleid angezogen, um mir ein fröh- 
liches „Good bye!“ von der Stadt der Heiligen nach— 
zurufen. 

Bald hatten wir die „warmen Bäder“ erreicht; am 
Fuße des Fahnenpics rollten wir hin, von deſſen Gipfel 
ich am letzten Abend eine ſo herrliche Rundſchau genoſſen, 
und nicht lange währte es, ſo lag die heilige Stadt in dem 
ſchimmernden Blüthengarten weit hinter uns. Drei und 
eine halbe engliſche Meilen von Salt Lake City paſſirten 
wir eine zweite heiße Schwefelquelle, in der man Eier in 
fünf Minuten hart kochen kann. Die Quelle ſprudelte aus 
einem Felſen hervor und bildete ein kleines Baſſin, in dem 
das kryſtallhelle Waſſer auf ſmaragdgrünem Moosgrunde 
ſich ſeltſam ausnahm. Wir kamen jetzt durch anſehnliche 
Mormonenniederlaſſungen. Rechts hoben ſich die Berge 
nahe am Wege empor, links lagen grüne Felder und Wieſen, 
von Hunderten von Bewäſſerungsgräben durchſchnitten, und 
erſtreckten ſich bis zum ſchimmernden Spiegel des großen 
Salzſees. Schmucke Wohnungen und Farmgebäude lagen 
in Parks von Obſtbäumen verſteckt, die alle in voller Blüthe 
ſtanden. Auf den fernen Inſeln im Salzſee ragten ſteile 
Bergkuppen empor, hier und da noch mit Schnee bedeckt. 

Der Kutſcher, mit dem ich bald intim wurde, war 
ein Texaner, ein wettergebräunter, verwogen ausſehender 
Geſell, der aus demſelben Orte herkam, wo ich mehrere 
Jahre lang vor dem amerikaniſchen Bürgerkriege gewohnt. 
Ich hatte die Ehre, daß er ſich meiner Wenigkeit wohl— 
wollend erinnerte. Er behauptete ſogar, einmal in meinem 
Store ein Paar Stiefeln gekauft zu haben, die aber ſpott⸗ 
ſchlecht und ſehr theuer geweſen ſeien, was ich jedoch ent— 
ſchieden in Abrede ſtellte, da mein Schuhzeug in Texas 
ſtets großes Renommee gehabt. Während des Krieges hatte 


11 


162 


er in den conföderirten Heerſchaaren unter General Price 
in Miſſouri und Arkanſas gedient. Seinen Reden nach 
hielt ich ihn ſtark in Verdacht, daß er ſich dort als „Jay⸗ 
hawker“ (Buſchklepper) unter dem berüchtigten Guerilla 
Quantrell für die „verlorene Sache“ nützlich gemacht. Nach 
dem Zuſammenbruche der „Confederacy“ war er nach Utah 
ausgewandert. Er vertraute mir an, daß er ſich in eine 
von des „Präſidenten“ Frauen mit Namen Mary ſterblich 
verliebt hätte und nächſtens eine Offenbarung vom lieben 
Gott erwarte, die ihm geſtatten werde, Mary gewaltſam 
zu entführen und mit ſich nach Texas zu nehmen. Freund 
Brigham ſollte den unmoraliſchen Geſellen aufs Korn neh— 
men, der ihm den Hausfrieden ſtören wollte, und ſeine re— 
volutionären Ideen vom rebelliſchen Süden ſogar bis nach 
den friedlichen Pfirſichhainen von Deſerét zu tragen ſich 
erkühnte. 

Wir fuhren am großen Salzſee hin und kamen durch 
anſehnliche Städtchen, Centreville, Farmington und andere, 
in denen die Mormonen uns freundlich grüßten. Wo man 
hinſah, zeigten ſich die Früchte ihres Fleißes — freundliche 
Wohnungen, anſehnliche Farmgebäude und Stallungen, 
mächtige Heu- und Kornſchober, ſchmuckes Vieh, herrliche 
Obſtgärten und wohlbebaute Felder, die von zahlreichen 
Irrigationscanälen durchſchnitten waren. Je mehr ich von 
der Induſtrie der Mormonen ſah, um ſo mehr mußte ich 
erſtaunen über die Macht und den Willen eines Mannes, 
dem ein ganzes Volk freiwillig unbedingt gehorchte und, 
ſeinen weiſen Anordnungen folgend, eine Salbeiwildniß in 
wenigen Jahren in ſolch ein Paradies verwandelt hatte. 
Die Landſchaft behielt ihr maleriſches Gewand. Der bläu— 
lich⸗grüne Salzſee mit den blendend weißen Ufern, woran 
ſich hellgrüne Wieſen lehnten, in der Ferne hohe Gebirgs— 
züge, welche ſich durch Hintereinanderſchieben der Winkel 


u ee 


163 


allmählich veränderten, hier in grünen gewölbten Kuppen 
hoch aufſteigend, dort, die Gipfel oft ſchneebedeckt, jäh ab⸗ 
fallend, gaben herrliche Bilder. Die im bunten Frühlings- 
ſchmucke prangenden Obſtgärten, die freundlichen Einzel— 
wohnungen und Dörfer und ein ſüdlicher Duft, der über 
der Landſchaft lag, entzückten das Auge. Unangenehm 
waren nur die vielen rieſigen ſogenannten „Bergmuskitos“ 
und die Millionen von Gnats leine Art kleiner biſſiger 
Mücken), welche unſere Pferde ſchrecklich plagten. Die 
Bergmusquitos ſchienen mir Vettern der Musquitos im 
Miſſiſſippidelta zu ſein, welche bekanntlich durch einen fran— 
zöſiſchen Patentlederſtiefel mit Leichtigkeit hindurchbeißen, 
und die Gnats ließen es ſich angelegen ſein, Recognoscirun— 
gen in meine Naſenlöcher zu machen. 

Mit den Bewohnern der Stationen und der auf un— 
ſerer Route liegenden Dörfer knüpften wir bei jeder paſſen— 
den oder unpaſſenden Gelegenheit intereſſante Geſpräche über 
den Mormonenglauben an, und meine luſtigen Reiſegefährten 
ließen es an pikanten Fragen und Bemerkungen nicht fehlen, 
welche jedoch von den Landleuten meiſtens gutmüthig be— 
lächelt wurden. Grüße an die verſchiedenen Mormonen— 
frauen, an Madame Nummer 5 oder an Madame Nummer 
17 wurden den ſtattlichſten Mormonen angelegentlichſt auf— 
getragen. Nur ſelten ſah uns ein Mormone bei unſeren 
inquiſitoriſchen Fragen finſter an, und jedem ſolchen wurde 
beim Weiterfahren der bei uns ſtereotyp gewordene Gruß 
zugerufen: „Du da, mein Freund, ſollte ich Dich nicht 
wiederſehen, wie geht es Dir denn, alter Junge?“ — Den 
Buben ſchenkten wir Pfeffernüſſe, wovon wir einen uner— 
ſchöpflichen Vorrath in Salt Lake City eingelegt und oft 
hatten wir einen zahlreichen Trupp von der lieben Jugend 
halbſtundenlang hinter der Kutſche dreinlaufen, die wir mit 
Pfefferkuchen fütterten. 


1 


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Neben der Landſtraße liefen zwei Telegraphendräthe 
an Pfoſten hin, der eine davon nach der Stadt Helena 
in Montana, der andere der Utah-Telegraph, das Privat- 
eigenthum von Brigham Young. An einer Stelle lief 
Brigham's Drath quer über die Landſtraße und ſo niedrig, 
daß er das Kutſchendach faſt berührte. Rechtzeitig rief 
mir der Fuhrmann zu: „Bück' Dich! — ſchnell!“ — und 
riß mich vom Sitz herunter. Aber der Drath, den ich 
bei der ſchnellen Fahrt nicht geſehen, hatte mir doch den 
Hut mit fortgenommen. Hätte mein Texaner Freund mich 
nicht ſo ſummariſch beim Kragen gepackt, ſo wäre mir das 
Weiterreiſen durch Brigham's Drath wahrſcheinlicher Weiſe 
erſpart worden. 

Etwas nach Mittag kamen wir, 40 engliſche Meilen 
von Salt Lake City, an den reißenden und geſchwollenen 
Weber, einen alten Bekannten von mir von Echo Canon 
her, den wir auf einer langen Holzbrücke überſchritten. Jen⸗ 
ſeits deſſelben, in einer reichen Umgegend lag am Fuße der 
Waſatch⸗Gebirge die gegen 3000 Einwohner zählende ſchmucke 
Stadt Ogden, wo wir eine halbe Stunde Mittagsraſt 
hielten. Die Mahlzeiten, ſowohl hier wie überall in Utah, 
waren ausgezeichnet. Daß wir verwahrloſten Ueberland— 
reiſenden, die wir an ſolchen luculliſchen Aufwand wenig 
gewöhnt waren, beim Anblick der ſauber gedeckten Tafel, 
mit den köſtlichen Gerichten beladen, faſt vor Begeiſterung 
außer uns geriethen, war erklärlich. 

Bald waren wir mit neuem Vorſpann wieder auf der 
Reiſe. Ueber den reißenden Ogdenfluß ging es und öſters 
paſſirten wir muntere Bergſtröme, die von den Waſatch— 
Gebirgen dem großen Salzſee zueilten, deren klare Fluth 
überall von den fleißigen Mormonen zur Irrigation benutzt 
wurde. Am Rande einer heißen Quelle, an der wir nahe 
vorbeikamen, hatte ſich eine blendend weiße Salzkruſte ge— 


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lagert. Dann fuhren wir zwiſchen grünem Weidelande Hin, 
wo zahlreiche ſchmucke Rinderheerden graſ'ten. Die Landſtraße 
war und blieb vortrefflich. Nur die brückenloſen Irrigations— 
canäle, welche dieſelbe kreuzte, waren beim ſchnellen Hin— 
durchfahren unangenehm, und mitunter machte die Stage— 
kutſche an ſolchen Stellen einen Satz, der mich veranlaßte, 
mich energiſch am Bock feſtzuklammern. In der Kutſche 
amüſirten ſich die Montana⸗Goldgräber mit Kartenſpiel, und 
ein luſtiger Rundgeſang erſchallte ab und zu. Der Kutſcher 
behauptete, wir ſeien die fidelſte Reiſegeſellſchaft, welche er 
je die Ehre gehabt von der Stadt der Heiligen nach den 
Goldminen zu befördern. 

Der Abend war herrlich. Rechts thürmten ſich die 
Gebirge wieder näher und näher empor, und der Salzſee, 
von dem wir uns eine Zeitlang entfernt hatten, lag jetzt nahe 
uns zur Linken. Saubere Steinwälle, mit denen die Felder 
eingehegt waren, grüne Wieſen, hellrothe Pfirſichhaine und 
freundliche Wohnungen und Dörfer, der blaue Salzſee mit 
den weißen Ufern und den violetten hier und da mit Schnee 
gekrönten Bergkuppen auf ſeinen Inſeln gaben reizende Land— 
ſchaftsbilder. Als die Nacht hereinbrach, paſſirten wir das 
Städtchen Brigham City, nach dem County, worin es 
liegt, gewöhnlich „Box Elder“ genannt, einen blühenden 
Platz von etwa 2000 Einwohnern. Die Luft ward jetzt 
plötzlich unangenehm kalt und ein fröſtelnder Nachtwind ver— 
leidete mir den Sitz auf dem Kutſcherbock. Selbſt Freundin 
Luna, die das Gebirge mit ihrem ſchönſten Silberſchleier 
bedeckte und mit wallenden Nebelgeſtalten am Salzſee ſpielte, 
konnte mir nichts mehr recht machen und ich war froh, 
als wir eine Stunde vor Mitternacht die Station „Bear 
River“, 85 engliſche Meilen von Salt Lake City, er— 
reichten, wo wir bis zum Morgen in einem guten Quartier 
verweilten. 


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In der Station Bear River, welche ihren Namen 
nach dem in der Nähe vorbeiſtrömenden Bärenfluſſe er- 
halten, herrſchte ein arges Speculationsfieber, in Folge eines 
Gerüchtes, daß von hier aus eine Eiſenbahn nach der Stadt 
Helena in Montana und eine andere nach dem Columbia 
nächſtens gebaut würde, obgleich genannte Eiſenbahncom— 
pagnien noch nicht einmal auf dem Papier exiſtirten. Die 
Bewohner dünkten ſich alle angehende Millionäre in der zu— 
künftigen „Bärenſtadt“ und hofften bevor lange, fabelhafte 
Summen für Grundſtücke beim bevorſtehenden Bau ihrer 
Weltſtadt in spe einzufaffiren.* Die zukünftige Bärenſtadt 
iſt der natürlichſte Ausweg des reichen Cache-Thales, das 
in nordöſtlicher Richtung von dieſem Punkte liegt. Logan, 
die Hauptſtadt des genannten Thales, zählt 7000 Einwohner, 
und ein Dutzend mehr Städte von je 1000 bis 2000 Ein- 
wohnern befinden ſich in dem an 40 engliſche Meilen langen 
Thale, worin überall Mormonen ſich angeſiedelt haben. Logan 
liegt nur 25 englifhe Meilen von der Bärenflußſtation. 
Das Cache-Thal erhielt feinen Namen von dem Umſtande, 
daß Fremont bei feiner erſten Expedition über den Con- 
tinent hier einen Vorrath von Lebensmitteln vergrub. Bei 
der Bärenflußſtation ſagte ich am nächſten Morgen den Mor- 
monen und ihren ſchmucken Niederlaſſungen Lebewohl. Eine 
Salbei⸗Wildniß von über 300 engliſchen Meilen Breite lag 
vor mir, die ſich nach Norden vom großen Salzſee bis zum 
Boiſefluſſe erſtreckt. Auch von meinen luſtigen Reiſegefährten, 
den Montana⸗Goldgräbern, mußte ich hier Abſchied nehmen. 
Dieſe kutſchirten in nordnordöſtlicher Richtung weiter nach 
den an 500 engliſche Meilen entfernten Goldminen im 


* Zwei Meilen weſtlich von der alten Stageſtation „Bear River“ 
liegt an der Eentralpacific-Eifenbahn die Stadt Corinna. welche 
jetzt als zukünftiger Ausgangspunet einer nach der Stadt Portland 
am Columbiafluſſe zu erbauenden Eiſenbahn gilt. 


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Territorium Montana, während ich in einem andern Wagen 
in nordnordweſtlicher Richtung dem Goldlande Idaho ent» 
gegeneilte. Der Telegraph, welcher mich von Denver bis 
hierher treu begleitet, verließ mich gleichfalls und gab dem 
Goldlande Montana und den bedeutenden Minenſtädten 
Helena und Virginia den Vorzug vor Idaho, welches 
„Eldorado“ er bis jetzt noch unverantwortlicher Weiſe ver— 
nachläſſigt hatte. Ich befand mich als alleiniger Paſſagier 
auf der Idaho-Stage und hatte außer dem Kutſcher nur 
einen Zahlmeiſter von Wells, Fargo und Comp., einen 
umgänglichen und gebildeten Mann, und deſſen Sohn zu 
Reiſegefährten. Alle vier — der Kutſcher mitgerechnet — 
waren wir wohlbewaffnet, da ſich die Indianer in Idaho 
neuerdings wieder recht angelegentlich damit beſchäftigt, 
Reiſende zu ſcalpiren. | 

Sobald wir den Bärenfluß hinter uns hatten, ſteuerten 
wir hinaus in eine ungaſtliche nur mit Sage-Geſtrüpp und 
hier und da mit verkrüppelten Bergeedern (hier Juniper ge— 
nannt) bewachſene kahle und einförmige Berglandſchaft. Ab 
und zu gewahrte ich noch die hohen Schneekuppen auf den 
Inſeln im großen Salzſee, aber bald waren um und um 
nur öde Berge zu ſehen. Im Sommer ſollen die Mus— 
quitos hier ſo zahlreich ſein, daß die Schimmel der Stage— 
Geſpanne oft buchſtäblich ſchwarz von ihnen ſind. Das 
Trinkwaſſer in den Stage-Stationen hatte einen ſeltſam 
pikanten Beigeſchmack; mitunter führten wir kleine Waſſer— 
fäſſer in der Kutſche mit uns, um die Stationen, wo das 
Trinkwaſſer abſolut ungenießbar war — brak, bitter und 
lauwarm —, mit dem unentbehrlichen Elemente aus reinen 
Ouellen zu verſorgen. | 

Außer den Stationsgebäuden ſah ich den ganzen Tag 
über gar keine Wohnungen. Ab und zu begegneten uns In— 
dianer, die in Gala waren, mit roth bemalten Geſichtern, 


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Hahnenfedern im Haar in zerlumpten Kleidern. Unfere 
Nähe ſchien den Herren der Wildniß nichts weniger als an— 
genehm zu ſein. Sie vermieden uns abſichtlich und ritten, 
ſobald ſie die Stage-Kutſche gewahr wurden, auf ihren Po— 
nies jedesmal in einem großen Bogen um uns herum. Ein— 
zelne Sage- und Präriehühner, die ſchüchtern durch das Salbei— 
Geſtrüpp raſchelten, und gelegentlich eine Möve vom Salzſee, 
die weit von ihrem gewohnten Cours abgekommen ſein mußte, 
waren von lebenden Thieren Alles, was ich zu Geſicht be— 
kam. Nachmittags kamen wir an einer Station vorbei, die 
Tags zuvor nebſt den darin geweſenen Pferden durch die 
Unvorſichtigkeit eines der Stationswächter in Feuer aufge— 
gangen war. Die halbverbrannten Gerippe von vier Pfer— 
den und die ſchwarz verkohlten, theilweiſe noch rauchenden 
Balken machten in der öden, menſchenleeren Gegend einen 
traurigen Eindruck. Von einer Höhe in der Nähe dieſer 
Station hatte ich den letzten Rückblick auf den blanken Spie- 
gel des großen Salzſees. Gegen Abend überſchritten wir, 
50 engliſche Meilen vom Bärenfluſſe, die Grenze des Terri— 
toriums Idaho. Rechter Hand ſchimmerten am Horizonte die 
Schneeberge jenſeits des Schlangenfluſſes und auf entfernten 
Höhenzügen gewahrte ich hier und da dunkelgrüne Wal— 
dungen, welche der Landſchaft das Monotone der Bergwüſte 
nahmen, das ſie den ganzen Tag über gezeigt. 

Ohne Aufenthalt fuhren wir die Nacht über weiter, die 
bitter kalt war. Mit nur drei Mann vermochten wir trotz 
unſerer Wollendecken uns in der Kutſche nicht warm zu hal— 
ten. Um drei Uhr in der Nacht erreichten wir die Station 
„City of rocks“ (die Felſenſtadt), wo wir bis nach dem 
Frühſtück verweilen ſollten. Dieſe Station zeigte ſich, ihrem 
Namen wenig entſprechend, als die erbärmlichſte Hütte, welche 
mir je zum Nachtquartier gedient hat. Der Wind pfiff durch 
die vielen fingerbreiten Spalten zwiſchen den Baumſtämmen 


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hindurch, welche, loſe aufeinander gelegt, die Wände des 
Hotels bildeten, daß es Einem beim bloßen Zuhören ſchon 
fror; ein paar Dutzend Backſteine in einer Ecke der Gaſt⸗ 
ſtube, mit einem Bretterverſchlag davor genagelt, um das 
Zuſammenſtürzen der Mauerſteine zu verhindern, und ein Loch 
durch das Schindeldach als Ausgang für den Rauch bildeten 
den Kamin, in dem ein Feuer aus trockenem Sage-Geſtrüpp 
hoch emporloderte. Die Bretter am Kamin waren ſchwarz 
angebrannt und theilweiſe verkohlt und der Kamin hatte das 
Anſehen, als ob er das „Hotel zur Felſenſtadt“ jeden Augen- 
blick in Brand ſetzen könnte. Trotz der wilden Umgebung, 
zu der in der Hütte das Möblement trefflich paßte, machte 
ich es möglich, in meine Wolldecke gehüllt, anderthalb Stun- 
den Schlaf auf dem nackten Lehmſtrich zu erhaſchen. Meh— 
rere Male, wenn ich erwachte, und die Flammen, höher im 
Kamin auflodernd, phantaſtiſche Figuren geſpenſterartig an 
die halbdunklen Wände der Hütte malten, mußte ich mich 
beſinnen, wo ich eigentlich war, und es gehörte nicht viel 
Phantaſie dazu, ſich in die Höhle eines Banditen verſetzt 
zu wähnen, namentlich wenn das Auge zufällig auf die 
Büchſen, Piſtolen und Kugeltaſchen fiel, welche am Thür— 
pfoſten hingen. Das Frühſtrück paßte ſich dem Ganzen 
in der Station „von der Stadt der Felſen“ trefflich an 
und war, um ſich auf gut Deutſch auszudrücken, „unter 
aller Kanone.“ Die Bewohner dieſer Stageſtation rechneten 
beſtimmt darauf, daß von hier aus eine Eiſenbahn als 
Anſchluß an die Central-Pacifiebahn gebaut werden würde, 
die eine Länge von 700 engliſchen Meilen und ihren 
Ausgangspunkt in der Stadt Portland in Oregon haben 
ſollte. Die Felſenſtadt war alſo ein Rivale von der 
Bärenſtadt; letztere, welche bereits vier Häuſer zählte, 
hat aber vor der Felſenſtadt, in der erſt ein vu. exiſtirte, 
entſchieden den Vorſprung. 


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Ehe wir weiter fuhren, nahm ich die nicht weit von der 
Station liegende Felſenſtadt in Augenſchein, nach welcher 
jene ihren Namen erhalten. Ein Chaos von rieſigen 
Felſentrümmern in Geſtalt von allerdings ſehr verfallenen 
Schlöſſern, Thürmen und ſchiefen Pyramiden lag dort in 
wilder Urgeſtalt — nackt, ſchroff und vielgipflig — durch— 
und übereinander. Ich möchte dieſe in der That feltſamen 
Felsgebilde jedoch eher mit urweltlichen, theilweiſe abgebroche— 
nen rieſigen Walroßzähnen und Walfiſchkinnbacken als mit 
den Ruinen einer untergegangenen Stadt vergleichen. Jene 
Felſen waren Zeuge manches ſchrecklichen Blutbades, das die 
Indianer dort an wehrloſen Emigranten ausübten. Die alte 
Emigrantenſtraße, vom Miſſouri über Fort Hall nach Ore— 
gon, zieht ſich durch die „Stadt der Felſen“ hin, und die 
Wilden pflegten ſich dort in Hinterhalt zu legen und bei 
paſſender Gelegenheit über vorbeiziehende Emigrantenkara— 
wanen herzufallen. Einmal maſſacrirten die Indianer hier 
einen ganzen Emigrantenzug von 400 Männern, Frauen 
und Kindern, und die Felſenſtadt hallte wieder von dem Angſt⸗ 
geſchrei der verrathenen Emigranten und dem wilden Ge— 
jauchze ihrer teufliſchen Feinde. Der bloße Gedanke an den 
Jammer, deſſen dieſe Felſen Zeuge geweſen, macht Einen 
ſchon ſchaudern. 

Die Landſtraße wurde, nachdem wir die Felſenſtadt 
verlaſſen hatten, ſehr ſchlecht. Tiefe Sumpflöcher und 
große Steine mitten im Wege machten die Lokomotion der 
Stage⸗Kutſche ſchrecklich unangenehm. Es war die Kette 
der „Gansbach-Berge“ (goose ereek mountains) ehedem 
das nördliche Ufer des großen Salzſees, welche wir hier 
überſchritten. Während der Nacht hatte ſich eine dünne 
Eisdecke auf ſtillſtehende Gewäſſer gelagert, weißer Reif 
lag auf dem Sage-Geſtrüpp und die Gegend ſah recht 
winterlich aus. 


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Intereſſant war es, wie der Zahlmeifter von Wells, 
Fargo und Comp., der, wie früher erwähnt, mit uns reiſte, 
den Stationswächtern und Fuhrleuten, die im Dienſte der 
Compagnie ſtanden, ihren Lohn auszahlte. In dieſer Be— 
ziehung konnte ich nicht umhin zu wünſchen, daß das Eß— 
departement der Mammuth-Expreß- und Stage⸗Compagnie 
ſich das Finanzdepartement derſelben zum Muſter nehmen 
möchte. Der Zahlmeiſter hatte recht anſehnliche Packete 
von „Greenbacks“ und alle Abrechnungsbücher der Com— 
pagnie bei ſich, die ſo ſauber geführt wurden, als ob ſie 
das Comptoir eines Bankgeſchäfts nie verlaſſen hätten. Der 
Lohn wurde an allen Stationen prompt ausbezahlt. Mit: 
unter begegneten wir Angeſtellten der Compagnie auf der 
Landſtraße, und ſowohl mit dieſen als mit den Kutſchern 
der uns begegnenden Stages und anderer Fuhrwerke der 
Compagnie ward unter Gottes freiem Himmel liquidirt. Die 
meiſten Kutſcher bedienten ſich zur Unterſchrift der Empfangs— 
ſcheine des bereits bei unſeren Urgroßvätern üblichen Kreuzes. 
Das Schulwbeſen ſcheint in dieſen Gegenden jedenfalls nicht 
nach preußiſchem Muſter geführt zu werden. 

Jenſeits der Gansbach-Berge kamen wir wieder auf 
eine öde Salbei-Ebene, die ſich ringsum bis zum Horizonte 
ausdehnte. Nur im fernen Norden war das Monotone der 
Gegend durch die jenſeits des Schlangenfluſſes (snake river) 
liegenden Gebirgszüge unterbrochen. Poröſe Trachytmaſſen 
und gebranntes Geſtein lagen häufig zwiſchen dem Sage— 
Geſtrüpp und gaben den deutlichen Beweis, daß in der Urzeit 
vulcaniſche Kräfte in dieſer Gegend thätig geweſen. Ein 
paar Meilen nördlich von der Landſtraße, die hier faſt direct 
nach Weſten lief, ſtrömte der Schlangenfluß, 90 deutſche 
Meilen lang, ein Nebenfluß des Columbia, nach ſeinem 
Entdecker auch „der Lewis-Arm des Columbia“ (Lewis' 
fork of the Columbia) genannt, in tiefen Felsklüften durch 


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dieſe unermeßlichen Einöden und zeigte feinen Lauf durch 
eine niedrige Reihe ſchwarzer Felſen an. Dort, wenige 
Meilen rechts von uns, lagen an ihm die weltberühmten 
Shoſhone-Fälle, (ſprich: Scho-ſchohne) eins der impo- 
ſanteſten Natur-Wunder des weſtlichen nordamerikaniſchen 
Continents, die Rivalen des Niagara. 

Wir kamen an den „Felſenbach“ (rock ereek), der ſich 
in den Schlangenfluß ergießt, deſſen zerriſſene Ufer nichts 
als gebranntes Geſtein zeigten. Er war hoch geſchwollen 
und hatte die primitiv gebaute Brücke, welche ihn überſpannte, 
halb zerſtört. Hier mußten wir auf die von Norden kom— 
mende Poſtkutſche warten, da die Brücke für Fuhrwerk nicht 
zu paſſiren war. Sobald die Boiſe-City-Stage am jenfet- 
tigen Ufer angelangt war, wechſelten wir Sitze mit den in 
ihr gekommenen Paſſagieren, und weiter ging es durch die 
Sage-Wildniß. Sechs engliſche Meilen von der Brücke 
erreichten wir die Station Deſert (die Wüſte) — ein ſehr 
paſſender Name, — wo ich übernachten wollte, um am 
folgenden Tage von hier aus die Shoſhonefälle zu beſuchen. 
Nach der löblichen Regel der Stage-Compagnie verlor ich 
hierdurch nicht das Recht auf einen Sitz in der nächſten 
vorbeipaſſirenden Poſtkutſche, vorausgeſetzt, daß ein ſolcher 
leer war. Waren alle Plätze beſetzt, ſo mußte ich ein paar 
Tage länger, als ich gerechnet, in der „Wüſte“ wohnen. 
Hans, ein Deutſcher und der alleinige Stationswächter in 
der „Wüſte“, den ich um Quartier bat, war hoch erfreut, 
einen Landsmann als Gaſt unter ſein beſcheidenes Dach 
aufzunehmen. Bald rollte die Stage-Kutſche weiter, aus 
welcher der Zahlmeiſter mir noch zurief, mich vor den In— 
dianern an den großen Fällen in Acht zu nehmen, und 
ich war allein in der „Wüſte“ mit Hans, ſeiner Dogge und 
ſeinen ſechs Mauleſeln. 


2. Ein Beſuch am Shoſhone. 


Meine erſte Frage an Hans, nachdem ich mir's in 
der Wüſte bequem gemacht, war nach den weitberühmten 
Shoſhonefällen, — „wie man am beſten dorthin gelange, 
und wie ſie ihm gefallen hätten?“ — Hans war dort nicht 
geweſen, obgleich er bereits über ein Jahr in der „Wüſte“ 
wohnte, kaum 5 engliſche Meilen von den Fällen, von 
denen er die Waſſerdampfwolken jeden Morgen hoch auf— 
ſteigen ſah. Weder der Zahlmeiſter noch irgend einer der 
Agenten der Stage-Compagnie, weder Stationswächter noch 
Kutſcher an der Route, bei denen ich mich wiederholt nach 
den „großen Fällen“ erkundigte, hatten dieſelben beſucht. 
Es ſcheint dem Shoſhone ähnlich wie vielen Naturwundern 
und großartigen Bauwerken in der alten Welt zu gehen. 
Leute leben in einem Orte, wohin irgend eine Merkwürdig— 
keit jährlich Tauſende von Fremden zieht, und werden alt 
und grau und ſterben, ohne das Wunderwerk, das ihnen ſo 
zu ſagen vor der Thüre ſteht, je näher in Augenſchein ge— 
nommen zu haben. 

Seit zehn Monaten, erzählte mir Hans, der mich be— 
reits dutzte, hätte ſeines Wiſſens nach nur ein Fremder 
die Fälle beſucht. Die Indianer wären ſehr „eklig“ 
und fein Scalp ſei ihm mehr werth, als der große Wafler- 
fall. Vor nicht langer Zeit hätten ſieben Indianer eine 
Partie Pferde von der nächſten Station geſtohlen, wären aber 
von der Wachtmannſchaft verfolgt und ſämmtlich niederge— 


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ſchoſſen worden, und ihre Brüder hätten geſchworen, an 
den erſten Weißen, die ihnen bequem in die Quere kämen, 
blutige Rache zu nehmen.“ Ich kann nicht ſagen, daß mir dieſe 
Neuigkeiten beſonders behagten; doch ermuthigte mich Hans 
mit der Verſicherung, daß die Indianer in dieſer Gegend 
eine elende und feige Race wären. Nicht einmal Ponies 
hätten fie und gingen ſtets zu Fuß, was bei allen India— 
nern für eine große Schande gelte. Auch ſchöſſen ſie ſehr 
ſchlecht und wären ſtatt mit Feuerwaffen meiſtens nur mit 
Pfeil und Bogen bewaffnet. Doch möchte er mir nicht 
wünſchen, einer Bande von ihnen im Sage-Geſtrüpp oder 
bei den Fällen allein zu begegnen. 

Von wilden Thieren ſei in dieſer Gegend nichts zu 
befürchten. Klapperſchlangen ſollte es allerdings an den 
Fällen bei Tauſenden geben, aber ſie warnten Einen ſtets 
durch Klappern mit den Schwanzſchuppen, ehe ſie zubiſſen, 
und die Wölfe und Coyotes thäten Niemandem etwas zu 
Leid. Einmal hätte er ſich im Sage-Geſtrüpp verirrt und 
die Nacht im Freien ſchlafen müſſen. Plötzlich habe ihn 
ein ſeltſames Geräuſch aufgeweckt. Es ſeien fünf der 
Beeſter geweſen, welche ihn beſchnuppert, die aber ſämmt⸗ 
lich Reißaus genommen, als er aufgeſprungen ſei. Direct 
nach den „Fällen“, die nicht viel über vier engliſche Meilen 
von der Station entfernt wären, könnte ich nicht gehen, da 
der Rock Creek, welcher dicht hinter der Station in tiefem 
und felſigem Bette hinbrauſte, wegen hohen Waſſers nicht 
zu paſſiren ſei. Ich müßte ſechs Meilen bis nach der 
Brücke über den Rock Creek zurückmarſchiren, von wo aus 
ich leicht durch das Sage-Geſtrüpp die etwa ſechs engliſche 
Meilen von dort entfernten Fälle erreichen könnte. 

* Am Weihnachtsabend 1867 wurde die Deſertſtation von 


den Indianern überfallen und zerſtört, die Mauleſel geraubt und 
ein Stage⸗Kutſcher dabei verwundet. 


175 


Unter dergleichen interefjanten und belehrenden Ge- 
ſprächen verging der Tag ſchnell. Hans kochte im Kamin 
den Kaffee zum Abendbrot, an einem lodernden Feuer von 
trockenem Salbei-Geſtrüpp und holte Brot, Erbſen und 
Speck aus ſeiner Vorrathskammer, einer alten Käſeſchachtel, 
hervor, und ich ſtellte ein Stück Schinken, eine Flaſche mit 
eingemachten Gurken und eine Portion Pfeffernüſſe — den 
Reſt meines von Salt Lake City mitgenommenen Proviants 
— auf den Tiſch. Ein brennendes Talglicht wurde in den 
Hals einer leeren Flaſche geſteckt, als Kaffeetaſſen dienten 
ein Paar Blechſchalen und unſere Taſchenmeſſer entſprachen 
dem doppelten Zwecke als Gabeln und Meſſer, — und 
Hans und meine Wenigkeit genoſſen unſer Souper in 
der „Wüſte“, während die Dogge draußen Wacht hielt, 
um uns nöthigenfalls vor heranſchleichenden Indianern zu 
warnen. 

Da ich vorausſichtlich am folgenden Tage eine lange 
und ermüdende Tour vor mir hatte, ſo begab ich mich bald 
zur Ruhe. Mit einigen Arm voll Heu, das ich vom Stall 
in die Wohnſtube trug, bereitete ich mir ein köſtliches Lager. 
Die Stiefeln dienten als Kopfkiſſen. In meine Wolldecke 
gehüllt und den geladenen Revolver zur Seite entſchlief ich 
bald in ſo ſüßen Schlummer, als ob ich wieder einmal 
unter dem Schutze der hochlöblichen Polizei in einem deut— 
ſchen Federbette läge, anſtatt in den weiten Einöden am 
Schlangenfluſſe, mit Hans allein in einſamer Hütte. 

Bereits um vier Uhr Morgens weckte mich Hans. Bald 
war der Kaffee gekocht und unſer frugales Frühſtück verzehrt. 
Hans verfügte ſich in den Stall, um die Mauleſel zu füt⸗ 
tern, und ich machte mich marſchfertig. Eine mit Proviant 
wohl gefüllte Reiſetaſche über der Schulter und den gela- 
denen Revolver im Gürtel, meinen Gemſenſtock in der 
Rechten und blaue Wolken aus meinem Meerſchaum empor⸗ 


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wirbelnd, befand ich mich bald auf der Landſtraße und 
wanderte rüſtig der Brücke über den Rock Creek zu. 

Der Morgen war wunderſchön. Ueber den niedrigen, 
ſchwarzen Felſen links am Schlangenfluſſe hing eine breite 
und hohe weiße Wolke, die aufſteigenden Waſſerdämpfe von 
den großen Shoſhonefällen. Genau merkte ich mir die Um— 
riſſe eines dahinter liegenden Bergzuges, welcher mir in der 
einförmigen und pfadloſen Salbei-Wildniß als Wegweiſer 
dienen ſollte, wenn die Waſſerdämpfe vom Shoſhone, wie 
Hans mir erzählt, verſchwinden würden, ſobald die Sonne 
höher ſtiege. In anderthalb Stunden hatte ich die Brücke 
über den Rock Creek erreicht und marſchirte von dort quer 
durch das Salbei-Geſtrüpp dem Shoſhone entgegen. Ein 
Glück war es, daß ich den Bergrücken als Wegweiſer mir 
gemerkt, denn die Dampfwolken vom Fall waren bereits 
verſchwunden, und ich hätte in der pfadloſen Salbei-Wüſte 
eben ſo gut eine Meile oberhalb oder unterhalb des Sho— 
ſhone als am Fall ſelbſt den Schlangenfluß erreichen können. 
Der Weg durch das mir oft bis an die Bruſt reichende 
dürre Salbei⸗Geſtrüpp und über den heißen gebackenen Lehm— 
boden, wo ich nicht ſelten unverſehens in Fuchslöcher trat, 
war außerordentlich ermüdend, und die Füße ſchmerzten 
mich ſehr, ehe ich noch die erſten eine halbe Stunde vom 
Schlangenfluſſe entfernt liegenden Felſen erreichte. Ueber 
poröſes gebranntes Geſtein kletternd, das wie Schlacken aus— 
ſah und in chaotiſcher Verwirrung dalag, dann wieder müh— 
ſam durch dichtes Geſtrüpp ſchreitend, gelangte ich endlich 
an die von fern niedrig ausſehende meilenlange Linie von 
ſchwarzen Felſen, welche den Lauf des Schlangenfluſſes be— 
zeichnete. Vom Shoſhone hörte und ſah ich noch immer 
nichts, obſchon ich das Ohr oft auf den Boden legte, um 
das Rauſchen des Waſſerfalls zu vernehmen und mich danach 
zu orientiren. Plötzlich als ich die ſchwarzen Felſen faſt 


177 


erklettert, vernahm ich das dumpfe Rollen der ſtürzenden 
Waſſermaſſen, wie wenn ein Sturmwind in der Ferne durch 
einen Wald brauſt. 

Bald hatte ich die Uferhöhe erreicht, wo mich ein herr— 
liches Schauſpiel überraſchte. Tief, tief unter mir ſtrömte 
der Schlangenfluß, zu beiden Seiten von himmelanſtrebenden 
ſchwarzen und nackten Felswänden eingeſchloſſen, — und 
dort, eine halbe Stunde ſtromaufwärts, lag der dampfende 
Waſſerberg des Shoſhone, von kleineren Fällen wie eine 
ſilberne Kuppel von Säulenblumen überragt, während ein 
farbenbunter Bogen auf dem ſchneeweißen Grunde zitterte. 
Dumpf hallte das wilde Felſenthal wieder von dem Getöſe 
des gewaltigen Katarakts. Wie feſtgebannt ſtand ich da und 
genoß eine Zeitlang das großartige Schauſpiel. Aber ein 
brennender Durſt, der mich quälte, veranlaßte mich bald, 
den nächſten Weg nach dem Fluſſe zu ſuchen. Mehrere 
Verſuche machte ich, an den Fuß des Waſſerfalls zu ge— 
langen, aber die Felswände waren entweder ſo zerriſſen 
oder fielen Hunderte von Fuß dermaßen ſteil ab, daß ich 
meine Bemühungen bald einſtellte und einſah, ich müßte 
mir Zeit laſſen, wollte ich den am wenigſten halsbrechenden 
Pfad an den unteren Fluß finden. Einmal rutſchte ich eine 
trichterförmige nach unten ſich verengende Oeffnung in dem 
vulcaniſchen Geſtein an hundert Fuß hinab, wo die Fels— 
wand plötzlich in ſchwindelnder Tiefe jäh abfiel. Die 
größte Mühe hatte ich, die obere Oeffnung des fatalen 
Trichters wieder zu erreichen, durch den ich bald ſchneller, 
als ich gerechnet, an den Fuß des Shoſhone gelangt wäre. 
Bei dieſen intereſſanten Turnübungen genoß ich an vor— 
ſpringenden Winkeln oft die wundervollſten Blicke auf den 
ſilbernen Waſſerberg des Shoſhone, wie er, mit herrlichen 
Regenbogenfarben geſchmückt, brüllend in den Abgrund 
wogte. 


12 


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Oberhalb des großen Falls ſchien mir der Strom 
leichter zugänglich als der untere Fluß. Dieſen Punkt er- 
reichte ich auch ohne ſonderliche Mühe, indem ich an den 
Felſen herumkletterte, mich durch ein Gebüſch von canadi— 
ſchen Pappeln und Weiden zwängte und über mehrere mäch— 
tige Baumſtämme voltigirte, die am Ufer entwurzelt dalagen. 
Hier hielt ich eine Weile Sieſta, trank Waſſer in vollen 
Zügen in Ermangelung eines beſſeren Trinkgefäßes aus meinem 
Hut, und kühlte mir die brennenden Füße in den hellen ſchnell 
vorbeieilenden Fluthen, während der Shoſhone fünfzig Schritt 
unterhalb donnernd über die Felswand rollte. 

Nachdem ich noch ein gutes „Lunch“ aus meiner Reiſe— 
taſche auf einem umgeſtürzten Baumſtamme aufgetiſcht und 
mich mit Speiſe und Trank wohl geſtärkt, machte ich mich 
mit neuer Kraft wieder auf den Weg, um den Waſſerfall 
von dem ſchönſten Punkte mit Muße zu betrachten. Dieſen 
entdeckte ich bald in einer hart an ſeinem linken Ufer lie— 
genden Bergkuppe, welche mit grünen Cedern gekrönt war. 
Nach erneueten Turnübungen erreichte ich endlich den er— 
ſehnten Punkt, wo ich mich vorläufig häuslich niederließ. 
Auf einer Baumwurzel hart am Rande eines Felſens, der 
den Waſſerfall überragte, nahm ich Platz und genoß das 
wundervolle Schauſpiel auf einen der größten Katarakte 
des Erdballs. Einen köſtlichern Punkt für einen Luſt— 
pavillon oder eine Schweizervilla könnte ſich kein König 
wünſchen! 

Der Schlangenſtrom erweitert ſich dicht oberhalb der 
Fälle zu einem Becken. Aus dieſem fallen erſt fünf kleinere 
von ſchwarzen Felſeninſeln getrennte etwa 30 Fuß hohe 
Cascaden; 50 Schritt weiter nimmt der Fluß ſo zu ſagen 
einen neuen Zulauf in drei gleichfalls von ſchwarzen Felſen 
getrennten an 60 Fuß hohen Fällen, und dann vereinigt 
ſich die ganze Waſſermaſſe, drängt ſich in einer Breite von 


179 


400 Fuß zuſammen und ſtürzt ſich mit einem gewaltigen 
Sprunge von über 200 Fuß in den Abgrund. Die oberen, 
treppenartig über einander liegenden kleineren Fälle ſind 
gleichſam eine Verzierung vom großen Katarakte. Der 
Hauptfall hat die Geſtalt eines mit den Hörnern etwas 
nach vorn gebogenen Halbmonds. Auf dem Waſſerſtaub, 
der zwiſchen den vorſpringenden Hörnern des großen Falls 
wogte, lag ein cirkelrunder Regenbogen, eine ſeltene Natur— 
erſcheinung, faſt unter mir. Ringsum ragten pechſchwarze 
nackte Lavawände empor, die ſich an 1000 Fuß hoch über 
das Niveau des untern Fluſſes jäh emporſtreckten, und die, 
bald wie Vorgebirge in den Strom hinaustretend, bald 
terraſſenartig über einander gethürmt, den Fluß, den ich 
weit hinabſehen konnte, mit einer rieſigen Doppelmauer 
einſchloſſen. Ich möchte das urwilde Felſenthal mit des 
Teufels Garküche vergleichen und das Baſſin oberhalb 
des Shoſhone mit einem rieſigen eiſernen Suppentopf, 
deſſen Ränder theilweiſe ausgebrochen und der dampfend 
und brodelnd überquillt. 

Der Hauptfall des Shoſhone erreicht ſeine höchſte Höhe 
im Junimond, bei beſonders hohem Waſſerſtand bis zu 210 
engliche Fuß, 46 Fuß höher als der Niagara; feine nie— 
drigſte iſt 198 Fuß. In Amerika wird dieſelbe nur von 
den Waſſerfällen im Yoſemite-Thale in Californien über— 
troffen, die aber mehr dem Staubbach und dem Gießbach 
in der Schweiz als einem Niagara ähnlich ſehen. Von 
compacten Waſſerfällen ſind, ſo weit mir bekannt, nur der 
Niagara und die Victoria-Fälle in Central-Africa mit dem 
Shoſhone zu vergleichen, die er jedoch wahrſcheinlich beide 
an Waſſermenge übertrifft. Aber jene zwei geben mehr ein 
landſchaftlich heiteres Bild. Auch iſt das Verhältniß der 
Breite zur Höhe des Falls beim Shoſhone in größerer 
Harmonie, während jene die 30- und 20fache Breite ihrer 


12 


180 


Höhe haben. Der Shojhone mit feinen finfteren, grandios 
furchtbaren Umgebungen ift der König auf dieſem Erdball.“ 
Unvergleichlich ſchön find feine donnernden ſchneeweißen 
Sturmwogen mit den zitternden Regenbogenfarben darauf 
inmitten dieſer todten unermeßlichen Einöde, verſteckt im 
tiefen Felſenthal und umgeben von ungeheuren ſchwarzen 
Lavaabhängen, als ob der ewige Baumeiſter den Erdball 
hier aus einander geſpalten, um das Schönſte mit dem 
Schrecklichſten zu vereinen. 

Ein paar Raben ausgenommen, welche über dem 
Waſſerfall ſchwebten, ſah ich kein lebendes Weſen in der 
ſchauerlichen Felſenwildniß. Ein Ablerhorſt auf einer der 
Felsinſeln inmitten des Katarakts ſchien mir unbewohnt zu 
ſein, da mir keiner von den majeſtätiſchen Seglern der Lüfte, 
deren Abſteigequartier dort ſein mußte, zu Geſicht kam. 
Mehrere Male ſchoß ich mit meinem gezogenen Marine— 
revolver nach einer jenſeits des großen Falls mir gerade ge— 
genüber liegenden Felswand, konnte aber keine Kugel einſchla— 
gen ſehen. Da eine ſolche Waffe eine Kugel wenigſtens 150 
Schritt weit trägt, ſo konnte ich danach das Minimum der 
Breite des Waſſerfalls ermeſſen. Der praſſelnde Wieder— 
hall der Schüſſe an den näheren und ferneren Felswänden 
war furchtbar ſchön. Meine Schießübungen ſtellte ich aber 


4* Sollte es ſich beſtätigen, was neuerdings einige Reiſende von 
dem großen Waſſerfall am oberen Pellowſtone in Montana berich— 
ten, ſo müßten ſowohl der Shoſhone als ſeine beiden Rivalen in 
Canada und Central-Afrika künftig alle drei als Waſſerfälle zweiter 
Größe betrachtet werden. Der Nellowftone ſoll daſelbſt 1600 
Fuß, Andere behaupten ſogar mehrere tauſend Fuß in der halben 
Breite des Miſſouri bei Omaha über ein Felſenriff ſtürzen. Man 
behauptet, ein Stein, den man von einem überhangenden Felſen in 
gleicher Höhe mit dem Katarakte fallen ließ, habe 11% Secunden 
nach der Uhr gebraucht, um den untern Fluß zu erreichen, was 
dieſem Rieſenkatarakte alſo eine Höhe von 1887 Fuß geben würde. 


181 


bald wieder ein, um mir nicht Indianer, welche mitunter 
an den Fällen fiſchen ſollen, auf den Hals zu locken. Von 
den Tauſenden von Klapperſchlangen, welche, wie Hans mir 
erzählt, zwiſchen den Felſen am Shoſhone wohnen ſollen, 
ſah ich nichts; doch zeigen ſich dieſe gefährlichen Reptilien 
ſelten vor Ende Mai. 

| Die Sonne ſtand jetzt bereits hoch im Zenith und ich 
| machte mich nochmals auf den Weg, womöglich den Fuß des 
Shoſhone zu erreichen. Vom jenſeitigen Ufer aus ſoll dieſes 
nicht möglich ſein. Aber ich hatte gehört, daß bereits vor 
mir Leute an dieſer Seite hinabgeklettert ſein und wollte 
mich nicht auslachen laſſen, daß ich als alter Touriſt und 
Bergſteiger dieſes nicht ſo gut als Andere hätte bewerk— 
ſtelligen können. Rock und Weſte abwerfend und nur 
meinen Revolver und Gemſenſtock mit mir nehmend, er— 
forſchte ich wohl eine Stunde lang auf gefährlichen Pfaden 
die mehrere Hundert Fuß ſteil oder in unbekletterbaren 
Winkeln abfallenden Felswände, bis ich zuletzt eine minder 
abſchüſſige Stelle fand, die mit ungeheuren Lavaplatten und 
rieſigen Felsblöcken belegt war, zwiſchen denen ich auf ähn— 
liche nur auf ungleich gefährlichere Weiſe, wie ich es einft . 
an der Grimſel gethan, hinunterrutſchte und zuletzt glücklich 
an den Fluß gelangte. Das Gefährlichſte bei dem Unter— 
nehmen war, daß ich mich mutterſeelenallein in der Wild— 
niß befand, wo mir, im Falle, daß ich mir nur den Fuß 
verrenkte, kein Menſch hätte helfen können. Daß Hans mich 
aufgeſucht haben würde, war wohl nur ein frommer Wunſch; 
ſeine Mauleſel hätte er meinethalben ſchwerlich verlaſſen. 
Ohne beſondere Mühe gelangte ich jetzt bis dicht an den 
Fall; bis unter denſelben, wie ich vielleicht hätte thun kön— 
nen, dehnte ich meine intereſſante Excurſion jedoch nicht aus, 
um mich, allein wie ich war, nicht unnöthigen Gefahren 
auszuſetzen. Der ungeheure Waſſerberg des Shoſhone 


8 182 


machte, von hier aus betrachtet, einen überwältigenden Ein- 
druck. Der Rheinfall von Schaffhauſen, vom Fuße des 
Schloſſes Laufen aus geſehen, iſt dagegen wahres Puppen— 
ſpiel. Die ſtürzenden Waſſer verurſachen hier einen heftigen 
Wirbelwind, der mit einer ſolchen Wuth um die Fels— 
mauern pfiff und dabei den Waſſerſtaub dermaßen umher 
ſchleuderte, daß mir faſt der Athem davon ausging. Drei 
engliſche Meilen unterhalb des Shoſhone ſoll man ohne 
ſonderliche Mühe das Ufer des Schlangenfluſſes erreichen 
und von dort aus nach dem Waſſerfall gehen können. 
War das Hinunterklettern ſchon mühſam und gefährlich 
geweſen, ſo verwünſchte ich meinen Fürwitz, den Fuß des 
Shoſhone beſucht zu haben, tauſend Mal, ehe ich die Höhe 
wieder erreichte. Ich glaubte eine beſſere Stelle zum Berg— 
anſteigen gefunden zu haben und war mehrere Male nahe 
daran, den Hals zu brechen. Auf Händen und Knien klet— 
terte ich die Felſen hinan, an Abgründen hin, die nichts 
weniger als gemüthlich ausſahen und wo die Lavaplatten 
von dem umherfliegenden Waſſerſtaub ſo glatt waren, daß 
ich mehrere Male faſt verzweifelte, weiter zu kommen. End— 
lich war ich über die halsbrechendſten Stellen hinweg und 
ſtieg einen theilweiſe mit Gras bewachſenen Abhang ſchnell 
hinan. Hier bemerkte ich deutlich die Spuren von Moccaſins 
und lange Rutſche am Berge hinauf, als ob die Indianer 
hier vor Kurzem Fiſche oder ſchwere Gegenſtände hinauf— 
gezogen hätten. Daß mir dieſe Entdeckungen nicht beſon— 
ders behagten, kann man ſich vorſtellen. Ich beeilte mich, 
nachdem ich meine zurückgelaſſenen Kleider geholt, aus dem 
Felsgewimmel herauszukommen und den oberen Thalabhang 
wieder zu gewinnen, wo ich wenigſtens eine freie Umſchau 
und zwiſchen dem Sage-Geſtrüpp auf der Hochebene auch 
Platz zum Davonlaufen hatte. Unter einem überhangenden 
Felsſtück oben auf der Höhe ruhte ich noch ein Stündchen 


185 
ee 


aus, ehe ich den Rückmarſch nach der „Wüſte“ antrat, 
rauchte meinen Meerſchaum und genoß die herrliche Aus— 
ſicht auf das wilde Felſenthal und den Shoſhonefall. Das 
Getöſe von letzterm war hier entferntem ununterbrochenen 
Donnerrollen ähnlich. 

Das tiefe zerklüftete Thal des Schlangenfluſſes iſt ganz 
von vulcaniſchen Felsmaſſen eingeſchloſſen. Ungeheure Lava— 
blöcke, pechſchwarze Felsabhänge und auf jedem Schritt und 
Tritt poröſes Trachytgeſtein ſind die Spuren der vulcani— 
ſchen Erhebung, welche dieſes Land vielleicht vor Jahr— 
tauſenden zerriß und dem Schlangenſtrome ſein Bett gab. 
Das Getöſe des Waſſerfalls wird von den hoch ihn auf 
beiden Seiten überragenden Felswänden aufgefangen, ſo daß 
er ſelbſt in kurzer Entfernung gar nicht hörbar iſt. Nur 
die Waſſerdampfwolken am frühen Morgen konnten den 
erſten Wanderern in dieſer Wildniß eine Ahnung von ſei— 
nem Daſein geben. Aber Manche mochten die Wolken als 
von indianiſchen Lagerfeuern herrührend anſehen und die 
Gefahr drohende Stelle nur um ſo mehr meiden. Dieſes 
iſt auch der Grund, weshalb dieſer herrliche Waſſerfall erſt 
in ſo ſpäten Jahren bekannt wurde. Ganz zufällig wurde 
er von umherſtreifenden Abenteurern entdeckt. Zwölf eng— 
liſche Meilen weiter oberhalb des Shoſhone und dreißig eng— 
liſche Meilen unterhalb deſſelben und an noch mehr Stellen 
im Schlangenfluſſe befinden ſich Waſſerfälle von 20 bis zu 
50 Fuß Höhe, die nicht ſelten mit dem Shoſhone verwech— 
ſelt werden. Die Fälle weiter unterhalb, in denen die In— 
dianer in früheren Jahren Lachſe zu fangen pflegten, heißen 
richtig „die großen Fiſchereifälle“ (great fishing falls). Die 
Shoſhone-Fälle, welche ihren Namen nach dem Stamme 
der Shoſhone-Indianer führen, die jedoch nicht mehr in 
dieſer Gegend wohnen, ſondern nach Utah und dem Hum— 
boldtfluſſe ausgewandert ſind, werden auch mitunter „die 


184 


großen amerikaniſchen Fälle“ (the great american falls) 
genannt. In früheren Jahren verfammelten ſich die In— 
dianer ſchaarenweiſe im Sommer an allen genannten Fällen, 
um Fiſche zu fangen; jetzt begegnet man ihnen dort nur 
ſelten. 

Mein Rückmarſch von der Höhe am Schlangenfluſſe 
nach der Rock-Creek-Brücke war äußerſt beſchwerlich. Ich 
verirrte mich in dem hohen Salbei-Geſtrüpp vollſtändig und 
gelangte erſt gegen Abend an den Rock Creek, aber wenig— 
ſtens drei engliſche Meilen unterhalb der Brücke, wo die 
ſogenannte alte „Emigrantenſtraße“ (old emigrant road) 
an ſeinem Ufer hinlief. Mehrere vergebliche Verſuche machte 
ich, über den mit Binſen und Schilf dicht überwachſenen 
und im tiefen Felſenbette hinbrauſenden Rock Creek zu ge— 
langen, um einen nähern Weg nach der „Wüſte“ zu finden, 
bei welchen Verſuchen ich nicht einmal das Waſſer erreichte, 
um mich durch einen Trunk zu erlaben. Zuletzt folgte ich 
der Emigrantenſtraße, welche mich unangenehm an die in dieſer 
Gegend in früheren Jahren oft von den Indianern verübten 
Metzeleien erinnerte. Stets ein waches Auge auf etwa 
umherſchleichende Rothhäute, wanderte ich ſo ſchnell als 
möglich auf der jetzt nur noch ſelten benutzten alten Straße 
hin und war froh, bei Sonnenuntergang die Brücke über 
den Rock Creek zu erreichen. Jetzt konnte ich wenigſtens 
den Weg nach der „Wüſte“ nicht mehr verfehlen. Meinen 
Hut ſetzte ich hier als Waſſerbecher wieder in Contribution, 
und beſſer hat mir noch ein Trunk Waſſer nie gemundet. 
Seit ich vor mehr als ſechs Stunden den Schlangenfluß 
verlaſſen, hatte ich auf der ausgedörrten Salbei-Ebene keinen 
Tropfen Waſſers zu mir nehmen können, und der Rock 
Creek in ſeinem unzugänglichen Felſenbette hatte mir wahre 
Tantalusqualen bereitet. Nachdem ich an der Brücke eine 
halbe Stunde Raſt gehalten, den Reſt meiner Pfeffernüſſe 


185 


verzehrt und noch ein gemüthliches Pfeifchen geraucht, 
wanderte ich bei eintretender Finſterniß langſam nach der 
Station zurück. 

Der Mond war aufgegangen und beleuchtete die end— 
loſe Salbei-Wildniß mit ungewiſſem Licht, und der Weg 
nach der Stage-Station ſchien gar kein Ende nehmen zu 
wollen. Einem Coyote, der keine zwanzig Schritt vor mir 
quer über den Weg lief und mich unverſchämt über die 
Schulter anſah, brannte ich, ehe er ſichs verſah, Eins auf 
den Pelz. Das ſchändliche Geheul, welches der Burſche 
anſtimmte und das ſeine Brüder rechts und links im Ge— 
ſtrüpp unisono beantworteten, trug auch eben nicht zur 
Gemüthlichkeit der Situation bei. - 

Um halb zehn Uhr in der Nacht ſah ich endlich das 
niedrige Dach der Station vor mir. Die Dogge lief mir 
wild bellend entgegen, erkannte mich aber bald, und Hans 
weckte ich mit einem Piſtolenſchuß, begleitet von meinem 
beſten indianiſchen Kriegsgeſchrei. Mit einer alten Flinte 
in der Hand öffnete Hans vorſichtig die Thür und war 
froh, ſtatt eine Geſellſchaft von Rothhäuten zu ſehen, mei— 
ner beſcheidenen Perſon anſichtig zu werden. Er hatte mich 
nach Sonnenuntergang nicht mehr erwartet und dachte, ich 
hätte am Shoſhone oder irgendwo im Salbei ein Bivouac 
bezogen. Daß ich nach einem Marſche von über dreißig 
engliſchen Meilen, zum größten Theil durch eine pfadloſe 
Salbeiwildniß, und nach den Kletterübungen zwiſchen den 
Felſen am Schlangenfluſſe auf meinem Heulager in der 
Wüſte göttlich ſchlief, brauche ich wohl kaum zu erwähnen. 


3. Nach den Goldminen. 


Als ich am Morgen des 14. Mai in der Wüſte er— 
wachte, war ich mutterſeelenallein. Vor mir auf der Wollen— 
decke lag ein Zettel, worauf Hans in claſſiſchem Deutſch— 
Amerikaniſch mit Bleifeder geſchrieben: „daß er mit de 
Muhls und Bull nach der Bruck geſtartet ſei, um 
de Bruck zu fixen“ (daß er mit den Mauleſeln und Bull 
— der Hund — nach der Brücke gegangen ſei, um die 
Brücke zu repariren). Da die Sonne bereits hoch am 
Himmel ſtand, ehe ich mich aus dem Heu erhob, ſo beſchloß 
ich, Frühſtück und Mittagsmahl in einer Mahlzeit zu ver— 
einen und Hans bei ſeiner Heimkehr mit einem pompöſen 
Diner zu überraſchen. 

Geſagt, gethan! — Zuvörderſt ging ich in das Salbei— 
Geſtrüpp, an dem in der Nähe der „Wüſte“ eben kein 
Mangel war, um mir einen guten Vorrath von Feuerungs— 
material zu verſchaffen. Mit meinem Dolchmeſſer hieb ich 
in die Salbei-Büſche ein, daß die Fetzen nur ſo davon 
flogen, und ſchleppte einen ganzen Chimboraſſo von dürrem 
Salbei⸗Holz nach der „Wüſte“. Als Koch habe ich mich 
nie ausgezeichnet; doch legte ich diesmal dem miſerablen 
Feuerungsmaterial all mein Mißgeſchick zur Laſt. Das dürre 
Salbei⸗Geſtrüpp verbrannte ſo ſchnell und mit ſolch einer 
intenſiven Hitze — bald ſchlug die Flamme lichterloh im 
Kamin empor, bald hatte ich nur ein Häuflein Aſche auf 


187 


dem Heerd —, daß ein beſſerer Koch als ich auch keine Paſteten 
dabei hätte backen können. Das Brot ſah gottsjämmerlich 
aus, halb ſchwarz verkohlt und dabei doch nur halb aus— 
gebacken; die Erbſen wollten gar nicht weich werden; der 
Speck fing ein paar Mal in der Pfanne an zu brennen 
und die Suppe, aus Reis, Speck, Pfeffer, Salz, Brot— 
kruſten, Mehlbrei und Waſſer künſtlich componirt, hätte ein 
franzöſiſcher Koch ſchwerlich als muſtergültig angeſehen. 

Punkt zwölf Uhr Mittags langte Hans mit den Muhls 
und Bull von der Bruck wieder an, die er gefixt hatte, 
und war höchlich erſtaunt, als er mich mit roſafarbenen 
Wangen vor einem lichterloh aufpraſſelnden Salbei-Feuer, 
mit meinem Dolchmeſſer im Suppentopf herumrührend, am 
Heerde daſtehend fand, wo ich eben damit beſchäftigt war, 
der Suppe durch neue Zuthaten von Pfeffer und Salz die 
letzte Weihe zu geben. Zu meinem Aerger erklärte Hans 
meine ſämmtlichen Gerichte, auch die Suppe, auf deren Vor— 
trefflichkeit ich mir etwas einbildete, für „no account““ 
(nichts nutz). Sogar Bull wandte ſich verächtlich davon 
ab. Ich überließ Hans wohlweislich das Departement der 
Küche und übernahm es, die Muhls zu füttern und in 
dem dicht hinter der Station ſtrömenden Rock Creek zu 
tränken, welches Amt ich zur vollſten Zufriedenheit meines 
Wirthes verwaltete. Mittlerweile hatte Hans ein ſuperbes 
Diner aufgetiſcht, dem wir alle drei — Hans, Bull und 
meine Wenigkeit — volle Ehre anthaten. Nach Tiſch plau— 
derte ich mit Hans über den Shoſhone, die „Bruck“ und 
die „Muhls“, über Bull und die „Injuns“, wie er die 
Indianer nannte. Ich rauchte meinen Meerſchaum und 
machte mir's bequem auf meinem Heulager, bis die Stage— 
Kutſche anlangen würde, auf der ich ohne fernern Aufent— 
halt nach den Goldminen von Idaho City weiter zu reifen 
gedachte. 


188 


Ich kann nicht ſagen, daß ich Hans um feinen Wüſten— 
palaſt ſehr beneidete. Seine nächſten Nachbarn wohnten 
zehn und fünfzehn engliſche Meilen von ihm entfernt. Je— 
den Tag paſſirte nur eine Stage-Kutſche vorbei, die etwa 
zehn Minuten lang an der Station anhielt, um Pferde oder 
Mauleſel zu wechſeln. Hierauf beſchränkte ſich Hanſen's 
Verkehr mit der Außenwelt. Nachts ſtörte ihn, wie er 
mir klagte, oft das Geheul von Wölfen und Coyotes, auf 
die er eine beſondere Malice zu haben ſchien, und denen er 
bei paſſender Gelegenheit eins auf den Pelz brannte. Die 
in letzter Zeit in dieſer Gegend umherſtreifenden Indianer 
trugen auch eben nicht zur Gemüthlichkeit ſeines Stilllebens 
bei. Doch hatte er ſeine aus Felsblöcken erbaute Wohnung 
mit Schießſcharten wohl verſehen und konnte zum Nothfall 
in der Wüſte eine längere Belagerung von den Rothhäuten 
aushalten. | 

Hans vertraute mir an, daß er bevor lang nach den 
„Staaten“ zurückwollte und zwar allein auf einem Muhl 
über die von feindlichen Indianern umſchwärmten Steppen. 
Auf ſeine Bitten überließ ich ihm meinen Marinerevolver, 
den ich von jetzt an nicht mehr nöthig hätte, da die In— 
dianer noch nie eine Poſtkutſche auf der Landſtraße von 
hier nach Boiſe City beläſtigt. Mit einem guten Revolver 
bewaffnet wie der meinige, den er beſonders lieb gewonnen, 
fürchte er ſich nicht vor allen Sioux, Aräpahoes, Cheyennes 
und wie die lumpigen „Injuns“ alle heißen möchten.“ 

Um halb ſechs Uhr Abends langte die erſehnte Stage— 
Kutſche, welche den Namen „oro coriete““ (kleiner Gold— 


* Hans iſt ſeinem Entſchluſſe treu geblieben; er trat im Som— 
mer feinen Don⸗Quixote-Ritt nach den „Staaten“ richtig an, wie 
mir der Zahlmeiſter von Wells, Fargo und Comp. im Herbſte 1867 
in Boiſe City erzählte. 


A, 


wagen) auf dem Kutſchenſchlag führte, bei der „Wüſte“ an, 
ich ſagte Hans „good- bye“ und bald darauf rollte ich 
weiter dem Goldlande entgegen. Wieder war ich der einzige 
Reiſende in der Stage. Paſſagiere giebt es in den Stages 
vom Bärenfluſſe nach Boiſe City nur wenige. Die meiſten 
Reiſenden von Idaho nach San Francisco oder nach den 
„Staaten“ ziehen den Weg über die Blauen Berge und 
den Columbia hinunter oder den über die Humboldt-Route 
nach Californien, der bei Salt Lake City vor.* Die Ein- 
nahmen auf dieſer Stage-Linie beſchränkten ſich zum größten 
Theil auf die von den Vereinigten Staaten an Wells, Fargo 
und Comp. gezahlten Subſidien für den Transport der 
Poſtſäcke, welche Summen allerdings enorm waren. 

Zehn engliſche Meilen von der Deſert-Station kamen 
wir an den Schlangenfluß. Auf abſchüſſigem Wege rollten 
wir ſchnell hinunter in das felſenumgürtete tiefe Thal, das 
hier dieſelben vulcaniſchen Formationen zeigte, welche mich 
am Shoſhone jo in Erſtaunen geſetzt — himmelanſtrebende 
ſchwarze Felswände und poröſes gebranntes Geſtein wohin 
das Auge ſah. Das wilde Felſenthal hallte wieder von 
einem einförmigen Getön, welches von einem an der nörd— 
lichen Felswand aus bedeutender Höhe herabfallenden nicht 
unanſehnlichen Waſſerfall herrührte. Als wir die Thalſohle 
erreicht hatten, bemerkte ich mit Erſtaunen, daß genannter 
Waſſerfall nicht vom Rande der Felswand oder aus einer 
in dieſelbe mündenden Schlucht herabſtürzte, ſondern in der 
Mitte der Wand aus halber Felshöhe als ein mächtiger 
Strom hervorbrach, denn eine Quelle konnte man den Waſſer— 
fall nicht wohl nennen. Es war dieſes der ſogenannte 


* Seit Eröffnung der Centralpacific-Eiſenbahn fahren Stage— 
Kutſchen von Boiſe City im Territorium Idaho nach der Eiſenbahn— 
ſtation Winnemucca im Staate Nevada. 


190 


„Unbekannte Fluß“ (unknown river), wahrſcheinlich 
die Mündung eines unterirdiſchen Stromes, vielleicht einer 
jener vielen Flüſſe, die in dem großen Lavafelde, 35 engliſche 
Meilen nordnordöſtlich von dieſem Punkte gelegen, plötzlich 
verſchwinden, und der hier wieder zu Tage tritt. Genanntes 
Lavafeld iſt etwa 100 engliſche Meilen lang bei 90 Meilen 
Breite, mit einer Menge von ausgebrannten Kratern darin. 
Die vielleicht vor Jahrtauſenden dort aus der Erde her— 
vorgebrochene Lava muß ſich wie ein flammender wogender 
See nach allen Richtungen hin über die flache Gegend aus— 
gebreitet haben, bis ſie allmählich erkaltete und ſich in feſtes 
Geſtein verwandelte. Die finſtere Einöde ſoll ein Bild 
troſtloſer Starrheit geben, welche den Wanderer, der daran 
vorübereilt, um die „Eldorados“ von Montana und des 
nördlichen Idaho zu erreichen, mit Schrecken erfüllt. Alle 
Flüſſe, die ſo zu ſagen in das ungeheure Lavafeld münden, 
verſchwinden darin, z. B. der „Holzfluß“ (wood river), 
der „verloren gegangene Fluß“ (lost river), der „Birken— 
bach“ (birch breek) und viele andere. 

Bei Sonnenuntergang überſchritten wir den hier an 
200 Ellen breiten Schlangenfluß auf einer Fähre. Als wir 
in der Mitte des Stromes waren, brauſte plötzlich ein 
Sturmwind das Felſenthal herauf und erfüllte daſſelbe mit 
donnerähnlichem Getöſe. Mit genauer Noth erreichten wir 
das jenſeitige Ufer, wo ein Stoßwind das breite Fährboot 
an der Seite faßte und am Ufer hintrieb. Die Bootsleute 
ſprangen mit Tauen durch das Waſſer ans Land und waren 
ſo glücklich, dieſelben um ein feſtes Felsſtück zu ſchlingen 
und ſo die Fähre feſtzulegen, während ich dem Kutſcher nach 
Kräften half, die wildgewordenen Pferde zu beruhigen. Froh 
war ich, als die Stage glücklich vom Fährboot herunter 
und am Ufer war. Dieſe Stoßwinde ſind hier nicht ſelten 
und machen die Ueberfahrt über den Schlangenfluß, der zum 


191 


Ueberfluß auch noch mit gefährlichen Waſſerwirbeln geſegnet 
iſt, mitunter ſehr ſchwierig und an beſonders windigen Ta— 
gen geradezu unmöglich. Als die Nacht hereinbrach, fuhren 
wir von der jenſeits des Schlangenfluſſes liegenden Stage— 
Station mit friſchem Vorſpann auf ſteilem aus den Felſen 
gehauenem Wege am nördlichen Abhange hinauf. Schroff 
ragten die ſchwarzen Felswände rechts am ſchmalen Wege 
empor, während linker Hand der Berg unter uns nicht min— 
der ſteil mehrere hundert Fuß bis an den Fluß abfiel. Ich 
ging neben der Kutſche her und griff kräftig in die Speichen 
wenn die Pferde den Wagen nicht weiter fortſchleppen konn— 
ten, während einer der Stationswächter, der uns bis zur 
Höhe begleitete, auf den gegebenen Zuruf des Kutſchers 
jedesmal große Steine hinter die Räder legte, um das 
Zurückrollen des Wagens zu hindern. Da außerdem ein 
Rad durch den Hemmſchuh feſtgehalten wurde, ſo kann 
man ſich denken, daß der Berg ziemlich ſteil war. 
Glücklich hatten wir die Höhe erreicht, wo ſich eine 
öde Hochebene vor uns ausbreitete. Da wir nach der Aus— 
ſage des Kutſchers während der nächſten neun Meilen einen 
tiefen und ſandigen Weg hatten, ſo benutzte ich die Ge— 
legenheit zu einem ſanften Schläfchen in der Kutſche. Um 
drei Uhr in der Nacht weckte mich ein wildes Gebrauſe. 
Als ich aus dem Kutſchenfenſter ſchaute, paſſirten wir ſoeben 
einen mit erſtaunlicher Schnelligkeit in felſigem Bette dahin— 
ſchießenden Fluß. Der Mond ſchien hell und beleuchtete 
eine wilde Landſchaft. Es war der Maladefluß, den wir 
ſoeben paſſirt. Sein Bett iſt in kleinerm Maßſtabe wie 
das des Schlangenfluſſes eine zerriſſene Lavaſpalte. Weiter 
unterhalb ſtehen hohe Trachytſäulen inmitten ſeiner reißenden 
Fluth und ausgedehnte Lavahöhlen liegen an ſeinen Ufern, 
durch welche die wilden Gewäſſer donnernd hinbrauſen. 
Seiner faſt beiſpiellos wilden Fluth, welche mich an die 


192 


Reuß erinnerte, und die in früheren Jahren, als der Strom 
noch nicht überbrückt war, die Paſſage ſehr gefährlich machte, 
ſowie ſeinen düſteren Umgebungen hat der Malade ſeinen 
Namen zu verdanken. 

In der Malade-Station, wo wir bis nach dem Früh— 
ſtück verweilten, wurde ich ſofort von Wirthsleuten nach 
den großen Shoſhonefällen befragt. Der Zahlmeiſter von 
Wells, Fargo und Comp. oder die Kutſcher der letzten Stages 
mußten von meiner Excurſion nach den Fällen erzählt haben, 
denn bis nach Boiſe City war mir das Gerücht davon vor— 
angegangen, und auf jeder Station muſterte man mich mit 
neugierigen Blicken. Die Frage: „Sind Sie der Mann, 
der zu Fuß ganz allein nach dem Shoſhone gegangen?“ 
— wurde mir zu meiner nicht geringen Befriedigung öfters 
geſtellt. Es that mir gut, von dieſen verwegenen Pionieren 
der Civiliſation in den Wildniſſen des fernen Weſtens mit 
Reſpect betrachtet zu werden. 

Der 15. Mai, der ſechste Tag meiner Reiſe, ſeit ich 
das neue Jeruſalem verlaſſen und der mich nach Boiſe City, 
der Hauptſtadt des Territoriums Idaho, bringen ſollte, bot 
wieder manches Neue und Intereſſante. Die mit grünlichem 
Salbei bedeckten Hügel nahmen ſich von fern oft recht ma— 
leriſch aus, und die vielen vulcaniſchen Formationen, welche 
ich an dieſer Strecke ſah, intereſſirten mich ſehr. Ein ſilber— 
grauer Wolf, ein prächtiges Thier, der uns keine hundert 
Schritte weit vom Wege in ſitzender Stellung ungeſtört 
angaffte, ließ mich meinen Handel mit Hans wegen der 
Piſtole faſt gereuen. Gar zu gern hätte ich dem naſeweiſen 
Burſchen ein paar Kugeln als paſſenden Morgengruß zuge— 
ſchickt. Siebzehn engliſche Meilen vom Malade, bei den 
ſogenannten „Kleequellen“ (clover springs), lief ein Bach 
rauſchend unter mehreren natürlichen Felsbrücken hin, über 
welche die Kutſche ſicher hinüberfuhr. Alle dieſe Brücken 


103 


waren aus zuſammengeſchobenem Geſtein gebildet. Jenſeits 
der „Kleequellen“ kamen wir durch eine breite Niederung. 
Die verſchiedenen Brückenübergänge auf den ſumpfigſten 
Stellen waren einfach aus loſe hingeworfenen Feldſteinen 
gemacht, in Vergleich mit denen der ärgſte Knüppeldamm in 
Miſſiſſippi oder Arkanſas mir eine treffliche Chauſſee ſchien. 

Wir begegneten jetzt öfters Goldgräbern, einzeln und 
in kleinen Geſellſchaften, zu Fuß und zu Roß, mit Flinte, 
Wollendecke und Lebensmitteln beladen, und langen mit 
Werkzeugen zum Bergbau und mit Waaren aller Art be— 
packten Maulthier- und Ponykaravanen (pack trains), die 
von Oregon und dem Boiſe-Baſſin in Idaho kamen und 
über die Malade-Brücke nach den neuentdeckten Goldminen 
von Lemhi (Lemhei) zogen, am obern Salmon-Fluſſe, 300 
engliſche Meilen nordöſtlich von hier an der Grenze der 
Territorien Idaho und Montana gelegen. Meine alten 
Bekannten von Oregon, die Kaiuhß-Ponies, erkannte ich 
ſogleich wieder. Immer noch waren ſie die ſtörriſchen und 
biſſigen Creaturen, wie ich ſie in „The Dalles“ in früheren 
Jahren ſo oft bewundert. Eine beſondere Malice hatten ſie 
auf die ſchweren Packe, die ſie herzlich gern vom Rücken 
herabgeworfen hätten. Mancher der giftigen Ponies rollte 
ſich im Uebermaße der Bosheit im Salbei-Geſtrüpp mit 
Kiſten und Ballen auf dem Rücken, bis ein ergrimmter 
Mexikaner — zu welcher Nation hier die meiſten Laſtthier— 
treiber gehören —, den klingenden Radſporn am Stiefel und 
mit der bunten mit Ledertroddeln behängten Schabracke unter 
dem hochgehörnten prächtigen Sattel, unter einer Fluth von 
„earajos‘“ und „‚carambas““ herangeſprengt kam und die 
ſchlechtgelaunten Pferdchen mit der gewichtigen Lederpeitſche 
Mores lehrte. 

Einmal begegnete uns eine Karavane von mehr als 
hundert Packthieren, Ponies und Mauleſel, die ſämmtlich 


13 


194 


wild geworden und auf einer regelrechten „Stampede“ be— 
griffen waren. Unſer Viergeſpann von muthigen Braunen 
ſchloß ſich der wilden Jagd ſofort an und querfeldein ging's 
durch das Salbei-Geſtrüpp in ſauſendem Galopp, mit den 
Mexikanern hinter uns drein, unter Halloh, Peitſchenknall 
und grimmigen Flüchen, und die Stage ſchaukelte und machte 
Sätze, daß es alle meine Geſchicklichkeit in Anſpruch nahm, 
nicht von dem hohen Bock hinunter zu fallen. Blücher, 
unſer muthigſter Brauner, zeigte ſich bei dieſer Hetzjagd 
ganz beſonders eifrig und wollte von unſerm ihn mit 
Peitſchenhieben erbarmungslos bearbeitenden Kutſcher gar 
keine Raiſon annehmen. Endlich athmete ich wieder auf; 
die Kaiuhß-Ponies und die Mauleſel waren der Stampede 
müde, Blücher machte ſeine letzten Kraftſprünge und wir 
erreichten glücklich wieder die Landſtraße, nachdem unſer 
Kutſcher die „verdammten Greaſer“ (Grieſer — Schmutz 
pelze —, der bei den Amerikanern übliche Spottname für 
Mexikaner) noch mit einer Fluth der ausgewählteſten Schimpf— 
wörter geſegnet. 

Wir kamen jetzt auf eine weite Hochebene. Linker 
Hand gewahrte ich noch einmal den Schlangenfluß, der in 
tiefen Caſions ſtrömte, und vor uns erhob ſich die lange, 
weißliche Facade des „Königsbergs“ (King's mountain) 
hier und da von dunkleren, zerriſſenen Felſen gekrönt. 
Das ganze Plateau war buchſtäblich lebendig von hundert— 
tauſend Billionen von Crickets (eine Heuſchreckenart 
ohne Flügel), welche ſich in abgeſonderten Heerſchaaren 
von etwa je 50,000 wie Cavalleriebrigaden mit höchſt 
eleganten Seitenſprüngen alle nach einer Richtung hin 
bewegten. Erbarmungslos fuhren wir durch ihre dichten 
Schwadronen, welche die Landſtraße kreuzten, und zer— 
quetſchten Tauſende davon mit unſeren Rädern. Die 
Crickets ſind eine große Landplage für die Gegenden im 


3 


195 


fernen Weſten von Nordamerika. Im Salbei» Geftrüpk 
allerdings können ſie keinen Schaden anrichten; über— 
fallen ſie aber, wie nicht ſelten geſchieht, eins der ange— 
bauten Thäler, ſo zerſtören ſie die Ernten in kurzer Zeit 
mit Stumpf und Stil. Mitunter ſchützen die Farmer ihre 
Felder durch einen Fuß hohe Bretterwände mit wagerecht 
nach außen daran genagelten drei Zoll breiten Streifen aus 
Blech, (ericket fences), über welche die Crickets nicht hin— 
über voltigiren können. Ueber ein Haus klettern ſie mit 
Leichtigkeit hinweg. Durch nichts ſind ſie von ihrer einmal 
angenommenen Marſchroute abzubringen. Millionenweiſe 
ſtürzen ſie ſich in die Bäche und laſſen ſich von der Fluth 
forttreiben, und diejenigen von ihnen, welche ans andere 
Ufer geſchwemmt werden, ſetzen dort ihre Reiſe fort. Alles 
freſſen ſie auf, Leder, alte Kleider, Wollendecken; Pferde— 
dünger iſt für ſie eine beſondere Delicateſſe und ſogar 
die Leichname ihrer Brüder verzehren ſie. Sind die ſprin— 
genden Vielfreſſer einmal in den Feldern, ſo nützt weiter 
nichts als etwa die Hülfe vom lieben Gott, wie derſelbe 
ſie auf Brigham's Wunſch durch die Möven des Salzſees, 
welche die Crickets auffreſſen, einſt den Mormonen zu 
Theil werden ließ, falls ſie ſich nicht durch Lärminſtru— 
mente, wie z. B. Gongs, Trommeln, kupferne Keſſel, alte 
Blechgefäße ꝛc. aus den Feldern vertreiben laſſen. Letzt— 
genanntes Mittel hat ſich ſchon oft als probat erwieſen, 
da die Crickets ein beſonders fein ausgebildetes muſicali— 
ſches Ohr haben und einen derartigen Höllenlärm gründlich 
haſſen. Es wird behauptet, daß die Civiliſation, theilweiſe 
durch Zerſtörung der Eier durch Pflügen und namentlich 
durch die Schweine, welche die Crickets mit Wolluſt freſſen, 
der Vermehrung derſelben Einhalt thut und ſie nach und 
nach ausrottet. Wer aber wie ich ihre Armeen hier und 
auf dem Königsberge geſehen hat, dem muß ihr baldiges 


13 * 


196 


Ausſterben ſehr problematisch ſcheinen. Für die Indianer 
ſind die luſtigen Springinsfelde ein „gefundenes Freſſen“; 
ſie greifen die Crickets mit der Hand und verzehren die— 
ſelben lebendig mit Haut und Haaren und erklären ſie für 
den beiten muk-a-muk (Biſſen) unter der Sonne. 

Langſam fuhren wir den Königsberg hinan, der weiter 
nichts als ein terraſſenartiger Abfall eines höhern Plateaus 
iſt. Er war mit unzähligen goldgelben Sternblumen, die 
ihm das Anſehen einer Frühlingswieſe gaben, wie beſäet. 
Das ganze Plateau war von zerbröckeltem gebrannten Ge— 
ſtein bedeckt und hatte augenſcheinlich einer vulcaniſchen He— 
bung ſeine Entſtehung zu verdanken. Vor uns am Hori— 
zonte zeigten ſich ſchneegekrönte Bergzüge und der Rückblick. 
auf das ſoeben von uns verlaſſene niedrigere Plateau war 
recht maleriſch. Neuen Abtheilungen von Goldjägern und 
langen Zügen von ſchwerbeladenen Packthieren begegneten 
wir faſt jede halbe Stunde — alle nach dem neuen „El— 
dorado“ Lemhi unterwegs —, und die zahlloſen Cricket— 
Heerſchaaren ſchienen, nach ihren ſiegesmuthigen Sprüngen 
zu urtheilen, den Königsberg ſoeben mit Sturm eingenom— 
men zu haben. 

Die Fahrt über den Königsberg war ſonſt keineswegs 
eine angenehme. Unſer Viergeſpann, welches im ſchlanken 
Trab dahineilte, ließ die Stage-Kutſche über das eiſenharte 
Geſtein tanzen, daß ich à la Greeley jeden Augenblick von 
einer Wagenecke in die andere flog. Um die Situation zu 
vergeſſen, verſuchte ich, ein Buch über den Mormonenkrieg 
zu leſen, das ich mir in Salt Lake City gekauft. Ich brachte 
es kaum fertig, ein paar Sätze zu entziffern, als der Mor— 
monenkrieg bereits unter einen der Sitze flog. Meine hoch— 
verrätheriſchen Gedanken über den Königsberg mit Bemer— 
kungen über die Könige im Allgemeinen wollte ich, ergrimmt 
über die ſchlechte Behandlung, welche mir auf dieſem „Ter— 


197 


rain von Gottes Gnaden“ zu Theil ward, in mein Tage: 
buch notiren. Die Figuren, welche ich mit der Bleifeder 
ſchrieb, ſahen eher ägyptiſchen Hieroglyphen als deutſchen 
Buchſtaben ähnlich, und ich war ſelber nicht im Stande, das 
Geſchreibſel zu leſen. Eben ſo gut hätte ich „Agnes, ich 
liebe Dich!“ an die blaue Himmelsdecke, als einen leſerlichen 
Satz in mein Tagebuch ſchreiben können. Daß ich Alles 
haßte — Himmel, Sonne, die ganze Welt, das elende Sal— 
bei, das Wetter, die Stage, die Pferde, den Kutſcher, die 
Könige aller Groß- und Kleinſtaaten und insbeſondere den 
Königsberg —, war unter den Umſtänden wohl zu ent— 
ſchuldigen. Zuletzt flüchtete ich mich auf den Bock, wo es 
mir noch ſchlimmer erging. Bei den entſetzlichen Sprüngen, 
welche die Stage faſt fortwährend machte, konnte ich nur 
mit genauer Noth das Herabfallen von dem hohen Sitze ver— 
hindern. Der Kutſcher warf mir malitiöſe Seitenblicke zu, 
als ich mich, die Zähne feſt zuſammengeſetzt, mit aller Macht 
am Bock feſtklammerte, und hieb nur um ſo grimmiger auf 
die Pferde ein. Er machte mich auf einen nahen Gebirgs— 
zug aufmerkſam, der voll von merkwürdigen heißen Quellen 
ſei. Ich wünſchte (ganz im Stillen) ihn, den Kutſcher, und 
Pluto mit ſeinem gebrannten Felsgeröll, ſeinen merkwürdigen 
heißen Quellen und dem elenden Königsberge bis weit 
hinter den Planeten Kolob, in den ſiebenten Abgrund von 
Brigham's unterſter Hölle. So arg ward ich bei dieſer 
Fahrt über den Königsberg zuſammengerüttelt, daß ich da— 
bei heftig aus der Naſe zu bluten anfing. 

Der Weg wurde jetzt etwas weniger holperig, und 
ich nahm mir Muße, die Gegend genauer zu betrachten. 
Linker Hand vor uns tauchten die ſchneegekrönten Gebirge 
von Owyhee (Oweihi) auf. In ihnen liegen reiche 
Silbergänge, darunter die „Poor-Man-Mine“, welche 
in der großen Pariſer Expoſition vom Jahre 1867 die 


198 


erfte Goldmedaille für das reichſte Silbererz in der Welt 
davon trug. Wir fuhren an dem Berge hin, der nach 
Ausſage des Kutſchers voll von heißen Quellen war. Bei 
einer derſelben kamen wir nahe vorbei, welche ſo heiß 
ſein ſoll, daß man den Finger beim Hineinſtecken ver— 
brennt. Goldgelbe Sternblumen und hellgrüne Gräſer 
wuchſen hart am Rande des dampfenden Baſſins, das die 
Quelle ſich gebildet. 

Bei der Station „Rattelſnake“ mußten wir anderthalb 
Stunden auf die Boife-Stage warten. Neue Heerſchaaren 
von Millionen von Crickets und mehrere Lemhi-Touriſten 
zogen hier an uns vorbei. Endlich langte die Boiſe-Stage 
an. Wir ſpannten vier elegante Mauleſel ein, die ſich aber 
entſchieden weigerten, anzuziehen. Nachdem der Kutſcher 
eine halbe Stunde mit Peitſchenhieben und Schimpfreden 
auf die ſtörriſchen Mauleſel vergeudet, ſteckten er und meine 
Wenigkeit uns alle Taſchen voll mit ſpitzigen Steinen und 
fingen an, die Eſel vom Bock damit zu bombardiren, bis 
dieſe ſich eines Beſſern beſannen und ſich plötzlich erſt in 
muntern Trab und dann in Galopp ſetzten. Als die Eſel 
ſich einmal zur Weiterreiſe entſchloſſen hatten, thaten ſie 
ohne Frage ihr Beſtes. Schneller als unſere vier Maul— 
eſel die nächſten fünf Meilen liefen, ſind vier Mauleſel 
ſchwerlich jemals vor einer Stage-Kutſche gelaufen. Aber wir 
hatten kein Erbarmen mit den Eſeln und hörten nicht eher 
auf ſie mit Steinen zu bombardiren, bis unſere Munition 
erſchöpft war. Der Wagen tanzte dabei auf den eiſenharten 
Steinen, mit denen der Weg wie gepflaſtert war, als ob 
Alles daran kurz und klein brechen müßte. Gegen Abend 
kamen wir nach der „Caſion-Station“. Die Hochebene war 
hier gleichſam auseinandergeſpalten. Die ſchmucken Stations— 
gebäude in dem hellgrünen Thalgrunde, durch den ein ſilber— 
klarer an köſtlichen Forellen reicher Bach ſprudelte, mit 


198 


Weidenbüſchen und ſmaragdenen Wieſengründen an feinen 
Uſern, gaben ein anmuthiges Bild. 

Weiter fuhren wir die Nacht durch bis nach Boiſe 
City. Ein neuer Kutſcher, der den Bock beſtiegen hatte, 
ein ſchweigſamer, finſterer Geſell, war nicht dazu zu be— 
wegen, mit mir ein Geſpräch anzuknüpfen. Da die Gegend, 
eine öde Salbei-Ebene, durchaus nichts Anziehendes bot, ſo 
überließ ich den unfreundlichen Kutſcher ſich ſelbſt und quar— 
tierte mich im Coupé der Stage ein, wo ich bald in Schlum— 
mer ſank. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, kreuzten wir 
eben einen nicht unanſehnlichen Strom mit flachen Ufern, 
den Boiſefluß, auf einer Fähre. Ein ſchönes Thal, mit 
grünen Bäumen und Feldern geſchmückt, lag vor uns, die 
erſte einem civiliſirten Lande ähnliche Gegend, welche ich ſah, 
ſeit ich die Mormonenniederlaſſungen verlaſſen. Bald hatten 
wir das andere Ufer erreicht und fuhren der nahen Stadt 
Boiſe City zu, wo wir, 473 engliſche Meilen von Salt 
Lake City, um vier Uhr Morgens vor dem „Overland Hotel“ 
zu Halt kamen. 

Boiſe (Boiße) City iſt die Hauptſtadt des 96,000 eng— 
liſche Ouadratmeilen großen Territoriums Idaho (Eidaho). 
Die Einwohnerzahl von Idaho beträgt etwa 30,000 und 
die von Boiſe City 2000. Die Stadt hat ein ſchmuckes 
Aeußeres und iſt der bedeutendſte Handelsplatz zwiſchen den 
Städten Portland in Oregon und Helena in Montana. 
Während der Wintermonate halten ſich hier viele Miner 
auf, Abenteurer, Spieler und ähnliche Subjecte, meiſtens 
aus den reichen Bergbaudiſtricten von Idaho, welche dieſen 
Platz ſeines milden Klimas halber den rauheren Minen— 
ſtädten zum Ueberwintern vorziehen und ihr während der 
Sommermonate in den Goldminen erworbenes Kleingeld 
hier anſtändig unter die Leute bringen. In Boiſe City 
fällt das Thermometer im Winter ſelten unter 18 Grad 


200 


Réaumur Kälte, was den Goldgräbern in den Minen, wo 
26 bis 30 Grad Neaumur Kälte keine Seltenheit iſt, ge— 
müthlich warm dünkt. Die in jeder Minenſtadt an dieſer 
Küſte üblichen Vergnügungslocale, wie Hurdy-Gurdy-Tanz— 
häuſer, öffentliche Spielhöllen, Arenas für Hahnen- und 
Hundekämpfe ꝛc., ſind ſelbſtverſtändlich auch in Boiſe City 
zahlreich vertreten, und Trinkſalons giebt es dort wie Sand 
am Meere. 

Das fruchtbare Boiſe-Thal iſt 50 bis 60 engliſche 
Meilen lang und liegt auf beiden Ufern des Boiſe— 
Fluſſes. Der angebaute Theil deſſelben iſt jedoch nur 2 
bis 3 engliſche Meilen breit mit einer öden und ſandigen 
Salbei⸗Ebene zu beiden Seiten bis nach den nächſten Hügel— 
reihen. Gerſte und Weizen gedeihen hier vorzüglich. Erſtere 
giebt, wenn die Crickets und Heuſchrecken die Ernten nicht 
zerſtören, was nicht ſelten der Fall, einen Durchſchnitts— 
ertrag von 45 Scheffel pro Acker, letzterer einen von 
35 Scheffel. Die Heuernte iſt bedeutend und kann zu 15 
bis 25 Dollars die Tonne (20 Centner) leicht verwerthet 
werden. Gartenfrüchte aller Art, Butter, Hühner, Eier 
und dergleichen mehr finden in den umliegenden Minen— 
diſtricten ſtets einen profitablen Abſatz. Minen giebt es 
und um Boiſe City keine. Sechs engliſche Meilen unter— 
halb der Stadt liegen einige Goldwäſchereien im Boiſe— 
Fluß, die aber nicht von Belang ſind. Die reichſten Gold— 
minen von Bedeutung find die im Boiſe-Baſſin, 30 bis 40 
engliſche Meilen von hier. Täglich rollen vier bis fünf 
Stage-Kutſchen in die Stadt — von Umatilla am Colum— 
bia, von Californien über die Humboldt-Route, von Salt 
Lake City und von den Minen von Idaho City und 
Süd⸗Boiſe — und der Fremdenverkehr iſt beträchtlich. Ein 
anſehnlicher Vereinigte-Staaten-Militärpoſten in der Nähe 
der Stadt (Fort Boiſe) ſowie die vielen Territorialbeamten, 


201 


welche in Boiſe City mit ihren Familien wohnen, tragen 
nicht wenig dazu bei, Handel und Wandel hier lebhaft 
zu machen.“ a 

Außer den reichen Golddiſtricten des Boiſe-Baſſin find 
die Silber- und Goldminen von Owyhee (Oweihi) und die 
von Süd-Boife für Boiſe-City die wichtigſten. Die Oweihi— 
Gebirge, welche bis in den Sommer hinein ſchneebedeckt 
find, ſieht man deutlich von Boiſe-City aus. Der höchſte 
Berg in jener Kette iſt der „Kriegsadlerberg“ (war eagle 
mountain), nach barometriſcher Meſſung von Karl v. 
Liebenau ** 9260 Fuß über dem Meere. Die Haupt— 
minenſtadt in Owyhee iſt Silver City, 8301 Fuß über 
dem Meere. Owyhee führt ſeinen Namen nach einigen in 
früheren Jahren im alten Fort Boiſe wohnenden Sandwich— 
inſulanern. Weihi heißt in der Kanaka-Sprache Mann 
und o iſt Interjection. 

Die Minen von Owyhee liegen 60 engliſche Meilen 
in ſüdweſtlicher Richtung von Boiſe City. Die Goldpro— 
duction (meiſtens im Silber enthalten) der dortigen Gruben 
iſt ihrer Silberproduction an Werth beinahe gleich. Da 
aber durchaus kein fremdes Capital dorthin eingeführt wird, 
ſo iſt der Ertrag dieſer Minen ſehr ſchwankend und der 
Bergbau beſchränkt ſich auf die geringen Mittel der daſelbſt 
Anſäſſigen, die jedoch zuweilen ſehr reichlich für ihre Mühe 


* Boiſe City hat ſich ſo ziemlich auf der geſchilderten commer— 
ciellen Rangſtufe erhalten; nur findet der Hauptverkehr mit der 
civiliſirten Außenwelt jetzt vermittelſt Poſtkutſchen direct nach der 
Centralpacific-Eiſenbahn ſtatt. 

a Karl v. Liebenau, Berg- und Hütten-Ingenieur der Frei— 
berger Bergſchule, dem ich die meiſten der in dieſen Skizzen an— 
geführten bergmänniſchen Notizen zu verdanken habe. Derſelbe 
wohnte in den ſechziger Jahren in Idaho und lebt gegenwärtig (1874) 
in Braſilien. 


200 


belohnt werden, und ſchon Hunderttauſende von Dollars 
dem Nationalvermögen zugeführt haben. Die edlen Me— 
talle von Owyhee werden über die Humboldt-Route direct 
nach San Francisco „sverſchifft“, Boiſe City zieht außer 
durch den Productenhandel nur wenig Nutzen aus jenen 
Minen. | 

Die erzführende Gangzone im Silber-City-Minendiſtrict 
(Owyhee) iſt zwei engliſche Meilen lang und eine Meile 
breit. Die darin auftretenden Gänge ſind in ihrer Zu— 
ſammenſetzung einander ſehr ähnlich. Alle führen in Quarz 
und lettigen Saalbändern Gold, Hornſilber, Glaserz und 
Rothgültigerz; oft ſind die Stufen durch einen geringen 
Kupfergehalt grün und blau gefärbt. In der Mächtigkeit 
ſind die Gänge ſehr verſchieden; von wenigen Zollen weiten 
ſie bis zu vier Fuß aus. Während in der „Oro-Fino— 
Mine“ ſtets geſchoſſen werden muß, wird in der „Poor— 
Man-Mine“ nur die Picke gebraucht. Beide genannten 
Hauptminen dieſes Bergbaudiſtricts liegen am Kriegsadler— 
berge. Die in Owyhee gewonnenen Erze werden in zehn 
Stampfmühlen, welche theils am Sinkerbach, theils am 
Jordanbach liegen und 128 Stempel führen, verarbeitet 
und das freie Gold und Silber wird in eiſernen Pfannen 
mittelſt Amalgamation gewonnen. | 

Der Sid-Boife-Minendiftriet, der feinen natürlichen 
Handelsweg nach Boiſe City nimmt, liegt 120 englische 
Meilen in ſüdöſtlicher Richtung von dieſer Stadt und 
zeichnet ſich vor den Owyhee-Minen durch Mächtigkeit der 
Gänge aus, die hier von 10 bis über 30 Fuß breit ſind. 
Das Silber und Gold kommen ſtärker vererzt vor und 
widerſtreben dem Amalgamationsproceß im rohen Zuſtande. 
Das Gold iſt hier hauptſächlich in Schwefel- und Arſenkies 
vorhanden und das Silber als Rothgültig und Polybafit. 
Ebenſo wie in Owyhee iſt das Nebengeſtein der Gänge 


203 


Granit. Eine Mühle mit 10 Stempeln ift unfähig mehr 
als 10 bis 15 Procent des Gehalts an edlen Metallen 
den Erzen zu entziehen und will man deshalb einige Oefen 
bauen. Ein halbes Dutzend Stampfmühlen, welche von 
Newyorker Compagnien unter der Leitung von geriebenen 
Jungen als Superintendenten nach Süd-Boiſe geſchickt 
wurden, liegen im Gebirge zerſtreut und warten auf die 
Entdeckung eines neuen Goldgewinnungsproceſſes, der ihnen 
Thätigkeit verſchaffen ſoll. Rocky Bar, der Hauptort 
dieſes Minendiſtricts giebt mit feinen zerfallenen Häuſern zc. 
ein treffendes Bild einer heruntergekommenen Minenſtadt. 
Doch iſt der Reichthum von Süd-Boiſe an edlen Metallen 
kaum angetaſtet und die Zeit wird kommen und iſt vielleicht 
nicht fern, wo ſeine Felſenthäler von dem Lärm thätiger 
Pochwerke wiederhallen werden. Die Hauptmine in Süd— 
Boiſe find die „Atlanta- Mine“ und die „Red-Warrior— 
Mine“. In beiden findet ſich reines Gold- und reines 
Silbererz neben einander in denſelben Gängen und jede 
Erzſorte wird für ſich verarbeitet. 

Mein Aufenthalt in Boiſe City beſchränkte ſich auf 
ein paar Stunden. Wenig dachte ich damals, daß dieſer 
Ort mir als Heimath für die kommenden Herbſt- und 
Wintermonate dienen ſollte, und noch weniger ahnte ich, 
daß ich in ſeinen Mauern dieſe Skizzen ſchreiben würde. 
Freunde habe ich dort gefunden, die mir lieb und theuer 
geworden, und von denen ich doch ſo bald wieder ſcheiden 
ſollte. Aber ſo iſt das Leben eines queckſilberigen Kosmo— 
politen, und hat Apoll ihn noch obendrein mit ſeinem Zau— 
berſtabe, wenn auch nur flüchtig, berührt, ſo iſt er doppelt 
zu beklagen. Wer hieß mich auch wie ein fahrender Ritter mit 
Gänſekiel und Kaufmannselle über den halben Erdball wan— 
dern! Mercurius hat den Gott mit der goldenen Leier von 
jeher gehaßt, und daß es auch in meinem Geiſte zwiſchen 


204 


den zwei antagoniſtiſchen Göttern, die ich beide auf einmal 
zu Beſuch geladen, recht oft zu Raufereien en mußte, 
hätte ich voraus wiſſen ſollen. 

Freundlich ſchien die Morgenſonne des 16. Mai, als 
ich Boiſe City Lebewohl ſagte und, am letzten Tage meiner 
Stage-Fahrt über den Continent, der Minenſtadt Idaho 
City entgegeneilte. Vorbei ging es an den ſchmucken Gar— 
niſonsgebäuden von Fort Boiſe und bald lag das grüne 
Boiſe-Thal hinter uns und wir fuhren hinaus in die Berge 
auf ſandiger Landſtraße. Mit Ausnahme einiger felſigen 
Päſſe bot die Gegend wenig Intereſſantes. Die Berge 
waren meiſtens kahl oder nur mit Salbei bewachſen, und 
nur ſelten zeigte ſich ſpärlicher Fichtenwuchs auf den Höhen. 
Eine Schande war es, wie rückſichtslos die Bewohner die— 
ſer Gegend mit den Bäumen umgingen und alle vereinzelt 
daſtehende Fichten umhieben. Die jetzige Generation in 
dieſen Ländern nimmt offenbar nur auf ihren eigenen Vor— 
theil Bedacht, ihre Nachkommen mögen ſelber zuſehen, wo 
ſie Holz herbekommen. Es iſt der Fluch aller Minenländer 
in Amerika, daß Niemand, der dorthin wandert, dieſelben 
als ſeine zweite Heimath betrachtet. Jeder will in ſo 
kurzer Zeit als möglich ein ſeinen Begriffen von Reich— 
thum entſprechendes Capital zuſammenſcharren, um mit dem 
Erworbenen nach den öſtlichen Unionsſtaaten oder nach Eu— 
ropa zurückzukehren. Ich glaube nicht, daß unter hundert 
Einwohnern Einer iſt, der länger als fünf, in der Regel 
nur zwei oder drei Jahre in dieſen Ländern zu wohnen be— 
abſichtigt. Bleibt er länger hier, ſo iſt es ihm ſicherlich 
in Geldangelegenheiten nicht nach Wunſch gegangen. Sollte 
das Glück ihm nur halbwegs hold ſein, ſo wird er ſein 
„Eldorado“ ſchon weit früher verlaſſen. Wer nur nach 
drei Jahren an einen früheren Wohnort in den Minen— 
ländern zurückkehrt, der wird ſehr wenige alte Freunde dort 


205 


antreffen. So iſt es an faſt allen Plätzen an dieſer Küfte, 
mit alleiniger Ausnahme von San Francisco und Portland 
und einigen größeren Inlandſtädten. 

Die erſten 15 engliſchen Meilen unſerer Stage-Fahrt 
behielt das Land ſeinen einförmigen und öden Character. 
Dann hatte das Tauſendmeilenreich des Salbei-Geſtrüpps 
gottlob ein Ende. Schneegekrönte Berggipfel, rauſchende 
Fichtenwälder, murmelnde Bäche und grüne Seitenthäler 
begrüßten uns, und die Fernſichten auf eine wilde Gebirgs— 
landſchaft waren mitunter herrlich. Wir fuhren am „Moore's 
Bach“ (Moore’s creek) hin, der allen Minenwaſſern des 
ausgedehnten und glorreichen „Boiſe-Baſſin“ (Boiſe-Thal— 
keſſel) zum Abfluß dient. Rauſchend brauſte er links am 
Wege zwiſchen zerriſſenen Felsabhängen hin. Die Land— 
ſtraße wurde jetzt außerordentlich felſig und rauh und war 
dabei ſo enge, daß die zahlreichen uns begegnenden mit acht 
und zehn Joch Stieren beſpannten Frachtwagen uns oft 
halbſtundenlang aufhielten. Einmal mußten wir Paſſagiere 
die Stage-Kutſche mit Stangen und Hebeln an einem Ab— 
hange ſtützen, um eine mit zehn Maulthieren beſpannte 
Fuhre vorbeizulaſſen. Zuguterletzt begegneten wir an der 
engſten und gefährlichſten Stelle an der Landſtraße der 
Idaho⸗City-Stage und zehn rieſigen Frachtwagen auf ein— 
mal. Eine Stunde lang ſetzte ich mich auf einen Felsblock 
am Rande des mit gelblichen Wogen wild hinbrauſenden 
Moore's Baches und betrachtete in aller Gemüthsruhe das 
nicht unintereſſante Schauſpiel. Düſtere Fichtenwaldungen 
hoben ſich auf den felſigen Bergabhängen nahe am Fahr— 
wege hoch empor und blickten ernſt herab auf das wirre 
Getümmel von Menſchen, Pferden, Maulthieren, Stieren 
und Wagen, die ſich in ſcheinbar unauflöslichem Knäuel auf 
dem engen Bergpfade zuſammenpreßten. Flüche, Halloh 
und Peitſchengeknall machten die Thalſchlucht laut wieder— 


206 


hallen, und nicht viel fehlte daran, fo wäre es zwiſchen 
den erboſten Fuhrleuten, von denen Keiner dem Andern 
weichen wollte, zum Handgemenge gekommen. Eine Geſell— 
ſchaft von Lemhi-Minern, die von Idaho kamen und Ruhe 
ſtiften wollten, vermehrten nur den allgemeinen Aufruhr. 

Endlich hatte ſich unſere Stage aus dem Wirrwar her— 
ausgearbeitet, ich nahm meinen Sitz beim Kutſcher auf dem 
Bocke wieder ein und fort ging's im geſtreckten Galopp, um 
die verlorene Zeit wieder einzuholen. Mitunter kamen wir 
an Ranches (Farmen und Viehhürden) vorbei, wo die 
Bewohner die Waldungen etwas gelichtet und Gärten und 
Kartoffelfelder angelegt hatten. Bergauf ging es und bergab; 
bald waren die grasreichen Abhänge mit Millionen von 
Sternblumen geſchmückt, bald mit herrlichen Fichtenwaldungen, 
dann wieder traten nackte Felſen auf ihnen zu Tage. Hier 
las ich an einer Wegſtation den poetiſchen Namen Minne— 
haha (lachendes Waſſer), deren Inhaber das ſchöne Gedicht 
„Hiawatha“ von dem amerikaniſchen Dichter Longfellow ge— 
leſen haben mußte und ſeiner Wohnung den Namen der 
Schönſten der indianiſchen Schönen gegeben hatte. Mit 
Benennung der Berge waren die Bewohner dieſer Gegend 
wenig glücklich geweſen. Die höchſte Bergkuppe an der 
Landſtraße z. B. führte den intereſſanten Namen „Schweins— 
rücken“ (hog's back). 

Weiter fuhren wir an Seitenthälern vorbei, aus denen 
rauſchende Gebirgsbäche hervorſtürzten, alle reich an Gold. 
Endlich öffneten ſich die Berge und ein weiter von bewal— 
deten Höhenzügen eingeſchloſſener Thalkeſſel lag vor uns, 
ein Theil des berühmten Boiſe-Baſſin, aus deſſen Schluch— 
ten, Thälern und Bächen bereits viele Millionen von blan— 
kem Mammon gewonnnen wurden und deſſen jährliches Gold— 
product noch immer 23 Millionen Dollars beträgt. Den 
Moore's⸗Bach, der hier ſeicht und breit in ſandigem Bette 


207 


hinfloß, überſchritten wir auf einer primitiv gebauten Holz— 
brücke. Luſtig ging es auf dem andern Ufer weiter. Waſſer— 
leitungen zogen ſich zu beiden Seiten der Straße hin, bald 
in Gräben eine über der andern an den Bergabhängen 
herum-, bald auf hohen Holzblöcken in Rinnen hinlaufend. 
Waſſerräder rauſchten in den Gräben und hoben die Fluthen, 
welche bereits zum Auswaſchen goldhaltiger Erde gedient, 
auf ein höheres Niveau, um dieſelbe Arbeit nochmals zu 
verrichten. Wo ich hinſah, waren Miner fleißig bei der 
Arbeit, denn dieſes war zum Goldwaſchen die günſtigſte 
Jahreszeit, da das unentbehrliche Waſſer in Hülle und Fülle 
vorhanden war. Hier ſtanden die Goldwäſcher mit Hacke 
und Spaten in langen Gummiſtiefeln im rauſchenden Waſſer 
oder an den Gräben und ſchaufelten Erde in die Goldwaſch— 
rinnen, dort warfen andere mit dichtgezahnten Eiſengabeln 
die Steine aus den Rinnen heraus. Schaaren von lang— 
gezopften Chineſen karrten Erde aus dem Moore's-Bach, 
deſſen Waſſer ſie mit Dämmen abgeleitet, um den gold— 
haltigen Grund nach einander in Strichen bloßzulegen. 

Hier waren wir bei den „Warmen Quellen“ (warm 
springs), dem Pyrmont der Bewohner von Idaho City. 
Eine ſchmucke Badeanſtalt mit Wannenbädern und großem 
Schwimmbaſſin, ein Gaſthaus und freundliche Garten— 
anlagen lagen am Fuße eines mit herrlichen Fichten 
bewachſenen Berges, aus dem die heißen Mineralquellen 
mit einem Wärmegrade von 102 Grad Fahrenheit her— 
vorſprudeln. Omnibuſſe fahren von den Bädern den Tag 
über bis ſpät in die Nacht nach der nur zwei engliſche 
Meilen entfernten Goldſtadt. Breit im ſeichten Bette floß 
rechter Hand der Moore's-Bach, voll von Schutthaufen 
von Sandbänken. 

Nach kurzem Aufenthalte bei den „warm springs““ 
jagten wir weiter, dem erſehnten Goldhafen entgegen. 


208 


Unter triefenden Waſſerleitungen fuhren wir hin; rechter 
Hand war das ganze Ufer des Moore's-Baches buchſtäblich 
unterſt zu oberſt gekehrt, — ein Chaos von tiefen Canälen 
und Gräben, Steinhaufen, Bergen von Erde und Schutt, 
hausgroßen Löchern, Waſſerleitungen, Goldwaſchrinnen ꝛc. 
Wo man hinſah, waren die Miner bei der Arbeit. Die 
goldhaltige Buena Viſta Bar war es, welche ſich uns 
hier präſentirte. Rauſchende Waſſer brauſten quer über die 
Landſtraße und nach allen Richtungen hin, in Gräben, 
Rinnen und Waſſerleitungen, über und nebeneinander. Dann 
kutſchirten wir durch eine lange Straße zwiſchen Holzge— 
bäuden hin — Minerhütten, Trinkſalons, Kaufmannshäuſer 
ꝛc. —, wie der Grund, worauf fie ſtand, „Buena Viſta 
Bar“ genannt. Ein breites Querthal lag vor uns, das 
des Elk-Bachs (elk creek), der ſich hier in den Moore's— 
Bach ergießt. Jenſeits des Elk-Bachs lagen die Häuſer 
von Idaho City. In ſchneller Fahrt ging's durch die hier 
über eine viertel engliſche Meile breite Niederung des Elk— 
Bachs, neben uns eine hohe triefende Waſſerleitung, — 
und jetzt endlich hatte ich das Ziel meiner Reiſe erreicht, 
die Goldſtadt Idaho City. 

Durch eine unſaubere Gaſſe fuhren wir zunächſt; ſie 
war voll von auf hohen Kahnpantoffeln umherſchlürfenden 
Chineſen, wo die angemalten Geſichter der Dirnen des 
himmliſchen Reichs uns aus niedrigen Fenſtern frech angaff— 
ten. Bald hatten wir die lange Hauptſtraße von Idaho City 
erreicht, die von Minern und Herumlungerern lebendig war. 
Reiche Kaufläden, Trinkſalons und Geſchäftshäuſer aller 
Art, meiſtens aus Holz gebaut und alle mit rieſigen bunten 
Schildern und Anzeigetafeln geziert, drängten ſich an der— 
ſelben, Muſik und fröhliches Zechgelage ſchallten aus den 
offenen Thüren, Lärm und Getümmel aller Arten. Große 
Höhlungen befanden ſich inmitten der Straße, in denen 


209 


rauſchende Waſſer hinfloſſen und wo tief unten Miner mit 
Picke, Spaten und Eiſengabeln fleißig bei der Arbeit waren. 
Schutthaufen, Berge von loſen Brettern lagen hier und 
da mitten in der Straße; hoch aufpraſſelnde Feuer brann— 
ten in derſelben, an welchen die zahlreichen Müßiggänger 
ſich den Rücken wärmten. Langſam fuhren wir durch das 
Getümmel; und hier hielten wir endlich vor dem Stage— 
Bureau und waren von einer lärmenden Menſchenmenge 
umgeben. Freudiges Händeſchütteln und frohe Grüße von 
alten Bekannten, — das war mein Empfang in der wüſten 
Goldſtadt des fernen Idaho nach einer fünfundzwanzig Tage 
dauernden Stagefahrt von fünfzehnhundertundſechs Meilen, 
ſeit wir bei Salina in Kanſas auf die große Steppe hin— 
ausfuhren, und einer ununterbrochenen Reiſe von über fünf— 
tauſend engliſchen Meilen, ſeit ich vor zweiundſiebzig Tagen 
das nördliche Texas verlaſſen hatte. 


14 


Eine Fahrt 


mit dem 


„Hotelauge“ der Pacificbahn. 


14 * 


Euer 


Als Gegenſtück zu meiner im vorigen Abſchnitte ge— 
ſchilderten 1500 Meilen langen Stagefabrt, laſſe ich hier 
die Beſchreibung einer Reiſe auf der Pacifiebahn folgen, 
welche ich das erſte Mal im Jahre 1870 in einem ſoge— 
nannten „Hotelzuge“ unternahm. 


Im „Hotelzuge“ der Pacific-Eifenbahn.* 
März 1870. 


Wir ſpannten den eiſernen Rappen vor, 
Auf Flügeln des Dampfes zu jagen 
Zweitauſend Meilen vom goldenen Thor 
Zum Miſſouri, im glänzenden Wagen; 

Hoch unter den Wolken im donnernden Zug, 
Durch endloſe Wüſten, im ſauſenden Flug, — 
In vier gemeſſenen Tagen. 


Ade, du herrlich grünende Flur, 
Ade, ihr Frühlingsgefilde! 
Dich, Goldland, ſchmückte die Mutter Natur 
Im paradieſiſchen Bilde! 
Der Himmel ſo tief, mit klarſtem Blau, 
Die Lüfte, im Winter ſommerlau, 
Wie im Tropenlande ſo milde. 


* Adelpha, 2. Band, S. 224 ff. 


214 


Hinan die Sierra in donnernder Fahrt! 
Nun ſchnaube, du muthiger Renner! 
Ihr, die ihr in fremden Ländern war't, 
Am Mont Cenis und am Brenner, 
Ihr dachtet, dort gäb' es in Wolkenhöhn 
Im Dampfzug Wunderdinge zu ſehn: — 
Jetzt ſtaunet, wackere Männer! 


Wir kreiſen hinan, wie der Adler fliegt, 
An ſchwindelnden Bergeshängen; 
Unſer Pfad über Brücken, thurmhoch, liegt, 
Durch endloſe Felſenengen; 


Wir ſpotten der mächt'gen Lawinen Gekrach, — 


Unterm feſten Vierzigmeilen-Dach 
Kann kein Schnee die Straße bedrängen. 


Wir tafeln im fliegenden Speiſepalaſt, 
Wie kein König jemals geträumet. 
Es eilen die Meilen; die Gläſer gefaßt 
Und den ſeltenen Wunſch nicht verſäumet; 
Aus goldenem Füllhorn ſchöpfte uns dies 
Das californiſche Paradies, — 
„Ihm ein Hoch, da der Becher ſchäumet!“ 


In kreiſende Weite ſchweift der Blick 
Beim Feſtmahl auf Dampfesflügeln. 
Die Wälder, die Gipfel bleiben zurück 
Und werden zu Büſchen und Hügeln. 
Dort unten der Faden ſilberhell, 

Es iſt ein Strom mit breiter Well', 
Drin rieſige Wälder ſich ſpiegeln. 


215 


Und kommt die Nacht, ſo kehren wir ein 
In koſige Schlafgemächer. 
Was kümmert der Sturm uns! er brauſe darein 
Und hagle an Scheiben und Dächer! 
Wir hören auf donnernder Fahrt ihn kaum, 
Auf der Windsbraut Flügeln; beim ſüßen Traum 
Verhallt er ſchwächer und ſchwächer. 


So ſauſen wir über Sierra's Höhn; 
Dann durch traurige Wüſtenflächen 
Und endloſe Wildniß. Wie iſt's ſchön, 
Im Waggon von der Wüſte zu ſprechen, 
Von den Emigranten der alten Zeit, 
Von Indianern und blutigem Streit, — 
Im „Hotelzug“, beim Schmauſen und Zechen! 


Friſchauf, du Rappe und ſpute dich ſchnell! 
Zu des Salzſees reichem Gelände, 
Des landumſchloſſenen Meeres Well', 
Zu Webers Schluchten dich wende. 
Zweitauſend Meilen, — du kennſt den Weg 
Durch Echo Calſion's Felſenſteg, 
Und die thurmhoch rothen Wände! 


Hinan der Felſengebirge Grat, — 
Achttauſend Fuß über dem Meere! 
Hinunter auf tiefbeſchneitem Pfad, — 
Durch der Ebenen endloſe Leere! 

Wir tragen ja des Jahrhunderts Geiſt, 
Der auf Dampfesflügeln die Welt umkreiſt, 
Mit uns vom Meere zum Meere! 


+ * 


216 


Es war am Morgen des 16. März 1870, als ich bei 
der Stadt Oakland, am nördlichen Ufer der großen San 
Francisco-Bai, in den Hötel- und Expreßzug der Central— 
und Union-Pacific-Eiſenbahn ſtieg, und ſieben Tage fpäter 
befand ich mich au Bord eines ſchwimmenden Dampfpalaſtes 
auf dem unteren Miſſiſſippi, mehr als dreitauſend Meilen 
vom Goldenen Thore entfernt. Eine ſolche Reiſe, nach 
Meilenzahl und Tagen betrachtet, hat ſelbſt im neunzehnten 
Jahrhunderte, wo der Dampf die alten Begriffe von Zeit 
und Entfernung vernichtet hat, etwas Märchenhaftes. Man— 
cher möchte vermuthen, daß ich nach einer Eiſenbahnfahrt 
von zweitauſenddreihundertſechsundachtzig Meilen, als ich 
in St. Louis an Bord des ſtolzen Miſſiſſippidampfers trat, 
halb gerädert war. Nichts von dem! ich hätte ſogar meine 
Eiſenbahnreiſe auf beinahe viertauſend Meilen bis nach New— 
Orleans ausdehnen können, ohne mich dabei im Mindeſten 
zu ſtrapaziren. 

Als ich in St. Louis nach einer ununterbrochenen Ei— 
ſenbahnfahrt von fünfundeinhalb Tagen und fünf Nächten 
anlangte, war ich ſo wenig ermüdet, als ob ich meine com— 
fortable Wohnung in dem fernen San Francisco nie ver— 
laſſen hätte. Jede Nacht habe ich auf meiner drittehalb— 
tauſend Meilen langen Eiſenbahnreiſe in einem bequemen 
Bette geſchlafen; während der eiſerne Rappe oft in Wolken— 
höhe durch die endloſe Breite dieſes Continentes eilte, habe 
ich in einem prachtvollen Hötelwaggon dejeunirt, dinirt und 
ſoupirt, und habe unterwegs gerade ſo gelebt und mich 
ebenſo prächtig amuſirt wie in einem Hötel und dabei die 
Welt im Fluge betrachtet. 

Auf dem „El Capitan“, einer der prächtigen Dampf— 
fähren, welche die Verbindung zwiſchen San Francisco und 
Oakland herſtellen, hatte ich um ſieben Uhr Morgens die 
Hafenfront der großen Handelsmetropole Californiens ver— 


217 


laſſen. Das Wetter war herrlich, wie es unter dieſem 
Breitengrade im März wohl kaum in einem andern Lande 
der Welt ſo ſchön als in Californien zu finden iſt. Die 
eleganten Salons des Dampfers waren gedrängt voll von 
Paſſagieren, darunter Viele, welche mit der Pacifiebahn die 
Reiſe über den Continent unternehmen wollten, — ein bun— 
tes Gemiſch zahlreicher Nationalitäten kaukaſiſcher Abſtam— 
mung. Ein halbes Dutzend Chineſen, in eleganter National— 
tracht und augenſcheinlich der reichern Claſſe ihrer Lands— 
leute angehörend, hatten auf einem der ſammetnen Canapees 
Platz genommen und muſterten die im Saale auf und ab 
promenirende Menge ſtumm und mit ernſter Miene, ohne 
von irgend Jemandem der Anweſenden kaum eines Blickes 
gewürdigt zu werden. John (Univerſalname aller Chineſen) 
fühlte ſich ohne Zweifel in einer einſamen Lage und ſtellte 
im Geiſte wahrſcheinlich Vergleiche zwiſchen den rohen Bar— 
baren des Weſtens und ſeinen höflichen Landsleuten im 
fernen Blumenreiche der Mitte an. Goldgräber und Minen— 
arbeiter aus Californien und den angrenzenden Gold- und 
Silberländern, behäbige californiſche Farmer mit Weib und 
Kind, Kaufleute und Speculanten, und Andere, deren ſo— 
ciale Stellung ſchwierig zu beſtimmen war, drängten ſich 
in den Salons und auf den offenen Galerien des Dampfers. 

Weiter hinaus eilten wir in die Bai. Linker Hand 
zeigt ſich die befeſtigte Inſel Alcätraz, wo das Sternen— 
banner hoch über den rothen Steinmauern flattert, — ein 
ſchmuckes Plätzchen inmitten der weiten Fluthen. Mit den 
caſemattirten Batterien von „Fort Point“ beherrſcht die 
Inſel den Eingang in das „Goldene Thor“. In weitem 
Bogen, an den Seiten anſehnlicher Hügel hingebaut und die 
Kronen derſelben mit ihren Häuſern bedeckend, liegt hinter uns 
die große Goldſtadt; links, in der Ferne „Hunter's Point“, 
woſelbſt ſich eine bedeutende Docke zum Ausbeſſern von See— 


n 


ſchiffen befindet; rechter Hand der „Telegraphenhügel“, mit 
dem jetzt vereinſamten Holzthurme auf ſeinem Gipfel, von 
wo aus in alter Zeit, als der electromagnetiſche Telegraph 
in Californien noch nicht eingeführt war, den Bewohnern 
des jungen San Francisco Signale über die in das Goldene 
Thor einlaufenden Panamä-Dampfer gegeben wurden, welche 
nebſt der „Ueberland-Pony-Expreß“ dazumal die einzige 
regelmäßige Verbindung mit der civiliſirten Welt bildeten. 

Welch ein Wechſel der Dinge, — zwanzig Jahre zu— 
rück und jetzt! — Wie gern reden die Californier noch im— 
mer von alter Zeit (early times)! Wie manche Herzen da 
klopften, wenn das Signal vom Telegraphenhügel flatterte 
und die frohe Nachricht durch die Stadt von Mund zu 
Mund flog: „Der Dampfer iſt in Sicht!“ und wer nur 
konnte nach dem Hafen eilte, um den willkommenen Boten 
zu begrüßen. Nachrichten von der Heimath brachte er, es 
kamen vielleicht Freunde und Bekannte. Und wie wurden 
die Glücklichen beneidet, die einen Brief erhaſcht hatten, 
oder gar einen Freund am Arm vom Dampfer zurück in 
die wilde Goldſtadt zogen, wie beneidet von Solchen, denen 
der Dampfer nichts, gar nichts gebracht hatte! Immer noch 
laufen die ſtolzen Dampfer von Panama regelmäßig wie 
einſt in San Franciscos herrliche Bai, aber ohne bewill— 
kommt zu werden, und namentlich ſeit der Vollendung der 
Pacificbahn achtet faſt Niemand mehr auf fie; höchſtens ein 
Kaufmann, der Waarengüter vom Oſten erwartet, horcht 
auf, wenn ein Salutſchuß donnert. Der Telegraphenhügel 
liegt da einſam und verlaſſen, ſein hohes Holzgerüſt ein 
Denkmal der „alten Zeit“.“ 


* Auch dieſes Denkmal der alten Zeit iſt jetzt verſchwunden. 
Ein gewaltiger Sturm ſtürzte das Holzgerüſt ſchon im nächſten Jahre 
von ſeinem Fundamente herunter und iſt daſſelbe nicht wieder auf— 
gebaut worden, 


219 


Der Rückblick auf San Francisco war nicht jo an— 
ziehend, als Mancher, deſſen Phantaſie die Ferne gern mit 
ſchönen Bildern bereichert, es ſich denken mag. Im Innern 
der Stadt freilich ſind die Hauptſtraßen in modernem Stil 
angelegt, und prächtige Gebäude, die jeder Hauptſtadt der 
Welt zur Zierde gereichen würden, giebt es dort in Menge. 
Aber die widrige Lage von San Francisco auf Sandbergen 
und felſigen Hügeln, die theilweiſe planirt oder durchſtochen 
wurden, um auch hier, allen Bodenverhältniſſen zum Trotze, 
die in Amerika beliebten ſchnurgeraden Straßen anzulegen, 
tritt, von der Bai aus geſehen, beſonders ins Auge. Halb 
abgetragene Sandberge und nur zum Theil fortgeſprengte 
Geſteinmaſſen, mit unanſehnlichen Holzhäuſern beſtanden, 
bildeten das Amphitheater des Hintergrundes von dem 
Panorama, deſſen Vorgrund die unſauberen und nichts we— 
niger als elegant gebauten Hafenſtraßen waren. Aber der 
Rahmen dieſes Gemäldes — die ſtolzen Segel- und Dampf— 
ſchiffe, welche hier in langer Reihe das Ufer umkränzten, 
dort vereinzelt im freien Gewäſſer ankerten, die weite Bai 
und darüber der tiefblaue Himmel Californiens, war herrlich. 

Bald lag die Stadt uns weit im Rücken und wir 
näherten uns raſch der hohen „Ziegeninſel“ (Goat Island), 
welche inmitten der Bai und halbwegs zwiſchen San Fran— 
cisco und Oakland liegt. Die Breite der Bai beträgt an 
dieſer Stelle etwa ſieben, die Entfernung von San Fran— 
cisco nach Goat Island drei engliſche Meilen. Die geo— 
graphiſche Lage von Goat Island iſt eine wichtige. Einer— 
ſeits eignet ſich dieſelbe beſonders für die Anlage von Be— 
feſtigungswerken zur Hafenvertheidigung; andererſeits hat 
die Central-Pacific-Eiſenbahngeſellſchaft ihr Auge auf die 
Inſel geworfen, als den paſſendſten weſtlichen Terminus 
der großen Ueberlandbahn. San Francisco, welches auf 
einer Halbinſel zwiſchen dem Meere und der großen Bai 


220 


liegt, ift in directer Linie vom Oſten her per Eiſenbahn auf 
dem Feſtlande nicht zu erreichen. Durch den Bau einer in 
dem hier nicht ſehr tiefen Gewäſſer der Bai leicht anzule— 
genden Pfeilerbrücke von Oakland nach Goat Island würde 
aber der Bahnhof bis dicht vor San Francisco gerückt, 
und ſelbſt der Arm der Bai zwiſchen San Francisco und 
Goat Island könnte durch eine Kettenbrücke überſpannt 
werden, ſo daß die Bahnwagen direct bei San Francisco 
anhielten. Von Oakland aus reicht eine Pfeilerbrücke zum 
Anlanden der Dampfer bereits zwei engliſche Meilen weit 
in die Bai hinaus, die leicht nach der Inſel verlängert 
werden könnte. Gegenwärtig liegt ein Militärpoſten der 
Vereinigten Staaten auf der Inſel. 

Goat Island dicht zur Linken laſſend, durchfurchte 
unſer ſtattlicher Dampfer ſchnell die breite Bai, und vor 
uns breitete ſich am jenſeitigen Ufer die anſehnliche Stadt 
Oakland aus, die ihren Namen nach der Menge von immer— 
grünen Lebenseichen führt, welche in der Stadt und um die— 
ſelbe zerſtreut ſtehen. Das friſche Grün jener Bäume bietet 
dem Auge, das ſonſt ringsum nur nackte Hügel erblickt, 
einen angenehmen Ruhepunct. Wegen ſeiner vor den rauhen 
Seewinden geſchützten Lage iſt Oakland als Ziel für Ver— 
gnügungspartien beliebt, und viele von den reicheren Be— 
wohnern San Franciscos haben ſich Landſitze dort erbaut. 
Oft verläßt man San Francisco, wo die Witterung nament— 
lich im Sommer ſehr veränderlich iſt, in einem nichts 
weniger als angenehmen Wetter, wenn feuchte Nebel die 
Stadt einhüllen oder ein heftiger Wind dichte Staubwolken 
durch die Straßen treibt, und tritt binnen einer halben 
Stunde bei Oakland in ein wahres Frühlingsparadies. 

Nach einer Fahrt von kaum dreiviertel Stunden lan— 
dete der „El Capitan“ am Fuße der ſich weit in die Bai 
hinauserſtreckenden Pfeilerbrücke, auf welcher bereits eine 


221 


lange Reihe prächtiger Waggons vom Expreßzuge der Pa— 
cifie-Eifenbahn zur Abfahrt bereit hielt, der nach kurzem 
Getümmel ſeine lebendige Fracht vom Dampfer an Bord 
nahm und ſchnell dem Feſtlande entgegenrollte. Ich hatte 
meinen Platz in dem „Pullman's Palaſt-Salon- und Schlaf— 
waggon Winona“ genommen. Der „Winona“ (alle dieſe 
Hötelmagen haben Namen) iſt der letzte in der ſtolzen Reihe 
von Prachtwaggons, die unſeren Zug bilden. Außer dem 
„Winona“ befinden ſich die Pullman's Palaſt-Salon- und 
Schlafwaggons „Woodſtock“ und „Northweſtern“ im Zuge; 
dann der Pullman's Palaſt-Speiſewaggon „Cosmopolitan“; 
ferner, außer zwei gewöhnlichen Paſſagier- und einem Ge— 
päck⸗, noch vier Silberpalaſt-Schlafwaggons der Central— 
Pacific-Eiſenbahn. Hochklingende Namen für nichts als 
Eiſenbahnwagen! wird Mancher denken. Einverſtanden! 
Dennoch erregen dieſe die Bewunderung eines Jeden, der 
ſie zum erſten Male beſteigt. 

Herr Pullman iſt der Erfinder und Beſitzer jener 
Prachtwaggons, welche ſeinen Namen führen, und dieſer 
Beglücker der Reiſenden hat auch die Hötelzüge auf der 
Pacificbahn eingeführt. Die Einrichtung der amerikaniſchen 
Schlaf- und Reiſewaggons darf ich wohl als bekannt vor— 
ausſetzen; die Pullman'ſchen ſind aber das Nonplusultra 
von Eleganz und Bequemlichkeit und verhalten ſich zu den 
anderen amerikaniſchen Schlafwaggons wie ungefähr die 
erſte Kajüte eines Oceandampfers zu deſſen zweiter Kajüte. 

Mit der Pacificbahn hat Herr Pullman einen Con— 
tract abgeſchloſſen, welcher ihm das Recht giebt, ſeine Pa— 
laſtwaggons jedem ihrer Züge einzuhängen. Seine Conduc— 
teure, Köche und Aufwärter muß er ſelbſt beſolden. Seine 
Einnahme beſteht in dem Schlafgeld für Betten, achtzehn 
Dollars von San Francisco nach Omaha von jedem Paſſa— 
gier für ein doppeltes Lager, wozu das Geld für Mahl— 


222 


zeiten und Getränke im Speiſewaggon kommt, ein Dollar 
für Frühſtück und Zwiſchenmahlzeiten und anderthalb Dollar 
für Mittagseſſen, und Getränke extra. Die Eiſenbahngeſell— 
ſchaft berechnet jedem Paſſagier auf den Hötelzügen zehn 
Dollars extra von San Francisco nach Omaha und einen 
Cent pro engliſche Meile mehr als den gewöhnlichen Fahr— 
ſatz ſür kürzere Diſtancen, welches jenen das Recht giebt 
im Speiſewaggon (natürlich für Bezahlung) zu tafeln. Wer 
die Extragebühr nicht zahlt, der hat keinen Zutritt in den 
Speiſe⸗ und die anderen Pullman's-Waggons, und muß in 
einem gewöhnlichen Wagen reiſen und auf den Stationen 
oder aus ſeinem Brodkorb eſſen. Für die von jedem Paſſa— 
gier der Hötelzüge gezahlten zehn Dollars oder einen Cent 
pro Meile mehr hält die Pacific-Eiſenbahngeſellſchaft die 
Pullman's⸗Waggons in gutem Stand. Alle Intereſſenten 
ſtehen ſich bei dieſem Contracte vortrefflich. Herr Pullman 
bezieht hundertfünfzig bis hundertfünfundſiebzig Dollars pro 
Nacht für jeden Schlafwaggon, dazu das Geld für Mahl— 
zeiten und Getränke; der Paciſiebahn werden dieſe pracht— 
vollen Wagen umſonſt geſtellt, und die Paſſagiere haben 
für eine geringe Zulage zu dem gewöhnlichen Anſatz der 
Reiſekoſten unterwegs die Bequemlichkeiten eines Hötels 
erſter Claſſe.“ 

Die Namen der Reiſenden, welche die Ueberlandzüge 
benutzen, werden bei der Abfahrt, von San Francisco ſo— 
wohl als von Omaha, nach Oſt und Weſt über den Con— 
tinent telegraphirt; ſowohl in San Francisco als in New— 


* Die Centralpacifiebahn hat dieſen Contract gekündigt und es 
laufen jetzt keine Pullman's Palaſt- und Speiſewaggons mehr zwi— 
ſchen Ogden und San Francisco. Die kaum minder prächtigen 
Silberpalaſt⸗Waggons haben hier deren Stelle eingenommen, ohne 
jedoch mit Speiſewaggons verbunden zu ſein. 


223 


Vork und anderen Großſtädten der Union lieſt man fie in 
den täglichen Zeitungen. 

Die Herſtellung der Pullman's-Waggons koſtet im 
Durchſchnitt zweiundzwanzigtauſendfünfhundert Dollars für 
jeden Wagen; die der Silberpalaſt-Schlafwaggons der Cen— 
tral⸗Pacific⸗Eiſenbahn zwanzigtauſend Dollars. Der feinſte 
von den Pullman's-Waggons „Orleans“ hat zweiunddreißig— 
tauſend Dollars gekoſtet. In einigen derſelben befinden ſich 
Melodeons und Pianos, damit die muſikaliſchen amerikani— 
ſchen Ladies unterwegs darauf klimpern können. Gottlob 
war kein Clavier auf unſerem Zuge, und blieben mir dieſe 
Ohrenſchmäuſe erſpart. Unſer Fortepianowaggon war näm— 
lich auf der letzten Reiſe mit vier anderen Wagen in einen 
Graben geſtürzt. Im Sommer werden den Hötelzügen 
offene ſogenannte „Obſervationswaggons“ angehängt, welche 
den Paſſagieren eine freie Umſchau bieten. 

Die Palaſt-Salon- und Schlafwaggons laufen auf 
zwölf Rädern; die Speiſewaggons laufen jeder auf ſechs— 
zehn Rädern. Die Palaſt-Speiſewaggons werden immer 
eleganter hergeſtellt und jeder neue übertrifft an Pracht die 
alten. Der demnächſt zu erbauende ſoll, wie der deutſche 
Oberkoch im Cosmopolitan-Waggon mir mittheilte, etwas 
Pompöſes werden. Früher war auch eine Bar (Trinkſtand) 
in den Speiſewaggons; dieſelbe wurde aber neuerdings wie— 
der entfernt, weil die Bremſer, Zugführer, Conducteure 
und andere Bahnbeamte ſie zu ſehr patroniſirten und man 
mit Recht befürchtete, die Liſte der „Zufälle“ im Verhält— 
niß zu der Zahl der genoſſenen Liqueure zu vermehren. 
Zur Zeit meiner Reiſe wurden Wein, Bier und ſonſtige 
Getränke dort den Paſſagieren nur flaſchenweiſe verkauft. 

Die Pullman's-Waggons werden im Winter durch 
Röhren geheizt, welche unter den Sitzen hinlaufen und die 
Temperatur ununterbrochen gleichmäßig warm halten. Die 


224 


Röhren find mit Salzwaſſer gefüllt und ftehen mit einem 
mit Kohlen geheizten Ofen in Verbindung, der das Salz— 
waſſer gleichmäßig erhitzt, — eine außerordentlich praktiſche 
Vorrichtung. Dieſe Waggons ſind im Winter bei eiſiger 
Kälte im Hochgebirge ſo angenehm warm wie ein fürſtliches 
Boudoir. Beim Betrachten derſelben muß man über den 
praktiſchen Sinn der Amerikaner erſtaunen. Jede Stelle, jeder 
Winkel iſt benutzt worden. Die Wandſpiegel z. B. kann man 
in die Höhe ſchieben; dahinter befinden ſich in den Schlaf— 
waggons Nachtlampen, im Speiſewaggon Weingläſer. In 
den mit ſolidem Wallnußholz überaus prächtig getäfelten 
Wagen kann man ordentlich auf Entdeckungsreiſen ausgehen. 
Zwiſchen jedem mit Sammet gepolſterten Doppelſitze bringt 
ein ſtets dienſteifriger Aufwärter auf Verlangen niedliche 
Klapptiſche an, woran man ſchreiben, leſen, ſpielen, eſſen 
kann. An jedem Ende des Waggons befinden ſich ſchmucke 
Toilettenzimmer. Ein Vergnügen iſt es, des Abends die 
Kammerdiener beim Aufmachen der Betten zu beobachten, 
die hinter dem getaͤfelten Geſims und hinter den Sitzen 
verborgen ſind, und gleichſam aus Nichts hervorquellen und 
den prächtigen Salonwaggon ſchnell in koſige Schlafgemächer 
umwandeln. Die Hälfte jedes derſelben iſt in allerliebſte 
Cabinete zum Gebrauch für Familien abgetheilt. Alle dieſe 
Waggons haben feine Fußteppiche. Daß auch in jedem für 
Cloſets geſorgt worden iſt, verſteht ſich bei den amerikani— 
ſchen Eiſenbahnen von ſelbſt. 

In einer Viertelſtunde, während welcher Zeit die 
Fluthen der Bai unter uns plätſcherten und der Dampf— 
zug eine ſchreckliche Flucht unter den bei Tauſenden dort 
umherſchwimmenden wilden Enten verurſachte, war das Feſt— 
land erreicht, und wir fuhren mitten durch die idylliſchen 
Straßen von Oakland. Schmucke Wohnungen, umgeben 
von Gärten und grünen Eichen, erfreuten das Auge, und 


225 


die gleichſam in einem Eichenhaine liegende, zerſtreut ge— 
baute Stadt hatte ein außerordentlich behagliches Ausſehen. 
Einen ſchönern Platz für Villen, und in einem wahrhaft 
italieniſchen Klima, hätten ſich die Reichen der großen 
Goldſtadt nicht wünſchen können. Als ich unter einem 
blauen Himmel im ſommerlichen Wetter dieſe reizende Stadt 
durcheilte, war es ſchwer zu glauben, daß heute Anfang 
März ſei. 

Nahe zur Rechten lag das anmuthige Alameda, wo 
unſere deutſchen Mitbürger San Franciscos einen ſtattlichen 
Schützenpark inmitten einer herrlichen Eichenwaldung er— 
richtet haben, die Büchſen luſtig knallen laſſen, und ſich 
mit Weib und Kind nach vaterländiſcher Sitte im Freien 
mit Tanz, Muſik und edlem Gerſtenſaft zu erfreuen pflegen. 
Soeben lief eine der großen Dampffähren von San Fran— 
cisco, voll von Vergnügungszüglern, mit klingendem Spiele 
und fliegenden Fahnen ein in die Bucht von Alameda. Der 
eiſerne Rappe mit dem langen Zuge prächtiger Waggons 
jagte jetzt durch ein reiches Farmland. Wieder ein ſchmuckes 
Städtchen, San Leandro, das wir mit ſchrillem Dampf— 
ſignal begrüßen. 

Weiter eilen wir, dahin zwiſchen fruchtbaren Lände— 
reien, an der Wegſeite zahlreiche Obſtgärten und ſchmucke 
Farmhäuſer, und der tiefblaue californiſche Himmel über 
uns. Ab und zu paſſiren wir eine ſtarke Schaar von 
Chineſenarbeitern, welche beim Ausbeſſern des Bahnbettes 
beſchäftigt ſind. „Wir waren es, die jenem Eiſenroſſe den 
Pfad über den Continent gebahnt haben!“ — ſolche Ge— 
danken mochten ſich den gelben Männern in der fremdarti— 
gen Tracht wohl aufdrängen, als ſie, auf ihre Schaufeln 
gelehnt, die menſchenbeſchwerten, in wilder Eile vorbeiſauſen— 
den Waggons betrachteten. Jetzt geht es vorbei bei San 
Lorenzo, dem letzten der freundlichen Städtchen in der Nähe 


15 


226 


der großen Bai. Allmählich verlaſſen wir dieſe und eilen, 
nachdem wir, dreißig engliſche Meilen von San Francisco, 
die ſich dort abzweigende San Joſe (San Ho-ſé)-Bahn 
paſſirt haben, der großen San Joaquin (San Oaquihn)- 
Ebene entgegen. 

Die ſchwarzen Diener im Salonwaggon „Winona“ 
melden unterthänigſt, daß das Frühſtück im Palaſt-Speiſe— 
waggon „Cosmopolitan“ ſervirt wird. Im Fahren gehen 
wir durch die nächſten Salonwaggons, welche durch mit 
Kautſchukteppichen bedeckte Brücken verbunden ſind, ſo daß 
die Paſſage von dem einen der dahinfliegenden Waggons 
in den andern über den offenen Bremſerplatz ohne beſondere 
Gefahr bewerkſtelligt werden kann, und erreichen bald den 
Speiſewaggon. Die vordere Hälfte deſſelben iſt im Re— 
ſtaurationsſtil, mit Tiſchen zu beiden Seiten, an denen je 
vier Perſonen Platz nehmen können, eingerichtet; die andere 
Hälfte iſt Küche und Vorrathskammer, woſelbſt unſer ge— 
ehrter Landsmann Wilhelm Eberle als General-Oberkoch 
und Küchenmeiſter das unumſchränkte Commando führt. 
Ein rieſiger Kochofen, die angehäuften Vorräthe für den 
„inneren Mann“, der geſchäftsmäßige Eifer der Ober- und 
Unterköche und die Aromadüfte, welchen den Raum erfüllen, 
geben die Verſicherung, daß wir auf unſerer Zweitauſend— 
Meilen-Reiſe nicht darben werden. 

In Geſellſchaft von mehreren Deutſchen — denn Lands— 
leute finden ſich ſchnell auf einer ſolchen Reiſe zuſammen — 
nehme ich Platz an einem der ſauber gedeckten Tiſche, die 
auch mit friſchen Blumen geſchmückt ſind. Hier giebt es 
köſtliche Auswahl von Gerichten, wie ſie ein Reiſender, der 
mit gutem Appetit geſegnet iſt, ſich nur wünſchen mag; alle 
Sorten von Fleiſch und Geflügel, Auſtern und Paſteten ꝛc., 
californiſches Gemüſe, z. B. Blumenkohl, Spargel, junge 
Kartoffeln, Radieschen, Erbſen ꝛc, ich bitte zu erinnern, am 


227 


16. März! Die Speifen find nach guter deutſcher Küche 
zubereitet, der californiſche Wein iſt vortrefflich, der Kaffee, 
die friſchen californiſchen Wallnüſſe und Orangen, das feine 
Backwerk ſchmecken ausgezeichnet. Die Aufwärter ſind auch 
Deutſche, ſo daß wir uns ganz heimiſch fühlen. Nur die 
eleganten Speiſekarten ſehen ausländiſch aus. Der ameri— 
kaniſche Pullman's-Oberconducteur hat dieſelben mit engliſch— 
franzöſiſchen Hieroglyphen ausgefüllt, die zu entziffern ſelbſt 
einem deutſchen Doctor Mühe koſten möchte. Die eine 
Hälfte jeder Speiſekarte iſt mit Annoncen bedruckt, da der 
praktiſche Amerikaner gern das Nützliche mit dem Ange— 
nehmen verbindet. 

Ein ſeltſames Mahl! Während deſſelben blicke ich ab 
und zu aus dem mir nächſten Fenſter des dahinfliegenden 
Speiſegemachs. Eben haben wir einen gebirgigen Land— 
ſtrich verlaſſen und es eröffnet ſich das reiche Livermore— 
thal. Breite Aecker, wo Farmer fleißig beim Pflügen be— 
ſchäftigt ſind, allerliebſte idylliſche Wohnungen, halb zwiſchen 
Bäumen verſteckt, reizende Ausſichten ins Hügelland kommen 
und gehen, kreiſen vorüber in immer wechſelndem Bilde. 
Jetzt erweitert ſich das Panorama und der Blick ſchweift 
hinaus in die bläuliche Ferne; es iſt zur Linken die San 
Joaquin-Ebene, jenſeits derſelben die blinkenden Schnee— 
zinnen der Sierra. Etwas unangenehmes iſt bei der Mahl— 
zeit das Schaukeln des Speiſewaggons. Damen ſoll mit— 
unter der Appetit davon vergehen. Bei Curven nament— 
lich ſchaukelt der Waggon heftig, und ich muß mich vor— 
ſehen, den Wein nicht zu verſchütten. Am confortabelſten 
ißt man, wo die Bahn auf einer längeren Strecke gerade— 
aus läuft. Der Aufwärter empfahl mir für das nächſte 
Frühſtück die San Joaquin-Ebene. 

Wir haben das ſchmucke Städtchen Pleaſanton paſſirt 
und das reiche Livermorethal durchkreuzt, und die lange 


15 * 


228 


Waggonreihe biegt ſoeben ein in den Livermorepaß, eine 
Reihe von verſchlungenen Schluchten und engen Thälern, 
welche das Livermorethal von der großen Ebene des San 
Joaquin trennen, als ich den Palaſt-Speiſewaggon wieder 
verlaſſe, um in den meinigen zurückzukehren. 

Eben bin ich glücklich über den letzten Bremſerplatz 
wieder in meinen Waggon gelangt und habe dort Platz ge— 
nommen, als der Zug in einem langen Tunnel, dem Liver— 
moretunnel, verſchwindet. Während wir anderthalb Minuten 
lang in der Finſterniß dahindonnern, kann ich nicht umhin 
froh zu ſein, daß der Tunnel mich nicht auf einem Bremſer— 
platze überraſchte. 

Bald darauf treten wir ein in die weite San Joaquin— 
Ebene (Don Joaquin Plains), die ſeitwärts in bläulicher 
Ferne verläuft und vor uns am Horizonte von der gezack— 
ten Schneelinie der Sierra Nevada begrenzt iſt, links glänzt 
hier und da in der Ebene einer der vielen Arme des San 
Joaquinfluſſes. Die Ebene hat eine Ausdehnung von zwei— 
hundertundfünfzig engliſchen Meilen von Nord nach Süd 
und von ſechszig bis achtzig engliſchen Meilen vom Sierra— 
Gebirge nach Weſten, ein außerordentlich fruchtbarer Land— 
ſtrich, einer der productivſten des geſegneten Californien, 
deſſen Bodenertrag aber leider nicht ſelten durch Dürre im 
Sommer beeinträchtigt wird. Die am San Joaquinfluſſe 
liegenden Landtheile find Ueberſchwemmungen ausgeſetzt 
und Baumwuchs iſt überall ſpärlich. 

Ein Zeltlager, nahe an der Bahn, lebendig von Chi— 
neſen, bringt eine Ueberraſchung. Freilich ſind die Aſiaten 
an der Pacificbahn nichts Neues; aber hier ſehen wir ſie 
nicht wie ſonſt bei der Arbeit, ſondern im gemüthlichen 
häuslichen Beieinander. 

Wir überſchreiten den San Joaquinfluß auf einer 
Holzbrücke und wenden uns nun mit verändertem Cours 


229 


direct nach Norden und erreichen, neunzig engliſche Meilen 
von San Francisco, die Stadt Stockton, eine der blühend— 
ſten in Californien. Der Ort zählt gegen 1200 Ein— 
wohner und vergrößert ſich raſch. Von hier aus werden 
die meiſten Producte der großen San Joaquin-Ebene ver— 
ſchifft, theils zu Waſſer auf dem Joaquin, theils auf der 
Pacificbahn. 

Weiter die Fahrt. Die blinkenden Zinnen der Sierra 
haben ſich nach rechts gewendet; linker Hand ragt die 
Doppelkuppe des Monte Diablo in den blauen Aether. 
Die Bahn durchſchneidet die Ebene in ſchnurgerader Linie; 
nirgends iſt jene eingefriedigt, und Rinder und Pferde 
laufen frei herüber und hinüber. Mancher von den Paſſa— 
gieren ſieht ängſtlich aus dem Waggonfenſter, wenn die 
Locomotive mitunter kurz und ſchnell aufeinander folgende 
Pfiffe ausſtößt, um einen dummen Ochſen, eine Anzahl 
Pferde oder ein paar Hämmel vom Geleiſe zu verjagen; 
aber ſchon rennen dieſe vom Bahnbett herunter und quer— 
feldein, und Keiner denkt mehr daran, daß ein ſtörriſcher 
Bulle ſoeben ſo und ſo viele Menſchenleben hätte vernichten 
und den Inſaſſen der Palaſtwaggons „ Elend 
hätte bereiten können. 

Wir treten ein in die Niederungen am Sacramento— 
fluſſe, die nördliche Fortſetzung der San Joaquin-Ebene, 
welche ganz denſelben Character zeigen wie dieſe. Durch 
ſeine häufigen verheerenden Ueberſchwemmungen, welche 
in früheren Zeiten auch die Stadt Sacramento mehrere 
Male betroffen haben, ſteht dieſer Fluß in Californien in 
ſchlechtem Ruf, obgleich die von ihm durchſtrömten Niede— 
rungen außerordentlich fruchtbar ſind. 

Auf einem Ausbiegegeleiſe brauſt der Expreßzug vom 
Oſten vorbei. Glückauf, Du eiſerner Renner mit Deiner 
lebendigen Fracht! Möge daſſelbe gute Glück, das Dich auf 


230 


Tauſenden von Meilen vom Geſtade der Atlanta, durch 
Thäler und Fluren, zahllos, bis nach Californien begleitet 
hat, Dir treu bleiben bis an das nicht mehr ferne große 
Stille Meer! 

Brighton, die letzte Station vor der Stadt Sacramento, 
iſt paſſirt. Vor uns ragt die Kuppel des prachtvoll ge— 
bauten californiſchen Staatshauſes auf, ein Gebäude, deſſen 
Herſtellung zwei Millionen Dollars gefoftet hat. Und hier 
ſind wir in Sacramento, der Hauptſtadt von Californien, 
und rollen mit Schellengeklingel der Locomotive, damit ſich 
Jedermann vor dem Dampfzuge in Acht nehme, entlang 
am unteren Stadttheil, nahe dem Ufer des breiten Sacra— 
men tofluſſes. Viele Dampfer liegen auf dem Strome, 
und am Ufer ziehen ſich die Bahngebäude der Central— 
Pacific- Eifenbahn hin. Rechts laufen die Hauptſtraßen 
der Stadt, beſetzt mit Baumreihen, rechtwinklig zum Fluß 
herunter. Wir fahren vorbei bei der M. Straße, der 
L. Straße, der K. Straße (die Hauptſtraßen Sacramentos 
ſind nach Buchſtaben benannt, die Querſtraßen nach Zahlen: 
1., 2., 3., 4., ꝛc.) und rollen am Fuße der J. Straße, 
der Hauptgeſchäftsſtraße von Sacramento, in den Bahnhof 
der Central-Pacific-Eiſenbahn. Einhundertundachtunddreißig 
engliſche Meilen haben wir in gerade ſechs Stunden 
zurückgelegt. 

Nach kurzem Aufenthalte verlaſſen wir den Bahnhof 
in Sacramento und eilen den bewaldeten Höhen der Sierra 
Nevada entgegen, während im „Cosmopolitan“ ein ſplen— 
dides Diner ſervirt wird. In einer Höhe von 2000 Fuß 
über dem Meere nehmen wir doppelten Vorſpann und das 
Schnauben der gewaltigen Eiſenroſſe zeigt an, daß die 
Bodenhebung ſchnell zunimmt. Jenſeits der Station Colfax 
(2448 Fuß über dem Meere und 54 engliſche Meilen öſt— 
lich von Sacramento) eröffnet ſich das Hochgebirge in ſeiner 


231 


ganzen Pracht. Das romantiſche Cap Horn liegt vor ung, 
der Stolz Californiens. Wir donnern über eine fünfund— 
ſiebenzig Fuß hohe lange Treſtlebrücke, und mit zwei Loco— 
motiven als Vorſpann brauſt die lange Reihe der prächtigen 
Waggons im großen Bogen herum an der walbbedeckten 
Höhe. Ueber uns ragen die Felſen ſchroff empor; zur 
Rechten, zweitauſendfünfhundert Fuß unter uns, ſchlängelt 
ſich der Americanfluß durch das Waldthal. Eine ſchwarze 
Linie kreuzt ſeinen Silberfaden; es iſt die breite Brücke 
einer chauſſirten Landſtraße. Der Bergabhang iſt ſo ſteil, 
daß es einen dünkt, man könne vom Wagen direct in den 
Fluß hinunterſpringen. Das Bahnbett iſt aus der Berg— 
wand herausgeſchnitten, und die lange Wagenreihe fliegt 
gleichſam am waldigen Abhang herum — ein unvergeßliches 
Bild für Jeden, der es geſchaut hat! Jenſeits Cap Horn 
liegen zwei Farmen, wohl dreitauſend Fuß in der Tiefe, 
ſo zu ſagen direct unter dem oben an den Felſen entlang 
eilenden Bahnzug. Seht! eine Frau, die vom Waggon— 
fenſter aus betrachtet zwerghaft klein ausſieht, tritt dort 
unten vor die Thüre ihrer Wohnung, und winkt herauf 
mit weißflatterndem Tuche. Weiterhin in der Tiefe liegt 
ein altes Minenlager, mit hydrauliſchen Leitungen, Gräben 
und einer Anzahl von Minerhütten. 

Wunderbar großartig iſt die Scenerie, welche uns auf 
der Eiſenbahnfahrt über die Sierra Nevada begleitet. Ganz 
abgeſehen von der Kühnheit des Eiſenbahnbaues wird das 
Auge fortwährend durch die herrlichſten Panoramas entzückt. 
Bald ſind es idylliſche grüne Thäler, die in duftiger Ferne 
träumeriſch am Fuße der Gebirge daliegen, dann bewaldete 
Bergkuppen, umkränzt von ſchneegekrönten Gipfeln, die ſich 
hoch in den blauen Aether emporthürmen; jetzt verfolgt das 
Auge wild herabbrauſende Waldbäche, die thalwärts ſtürzen, 
dann einen Fluß, der ſich, einem Silberbande gleich, Tau— 


232 


ſende von Fuß tief unten hinſchlängelt, während ein Meer 
von grünen Tannenwipfeln zwiſchen der Bahn und dem 
tiefen Thalgrund den ganzen Abhang in breiter, welliger 
Fläche bedecken. 

Wieder und wieder jagten die Eiſenroſſe über haus— 
hohe, leicht aus Holz aufgebaute Treſtlebrücken, und unwill— 
kührlich ſchließt der Reiſende die Augen, wenn die Waggons 
ſchaukelnd über dem Abgrund ſchweben. Wo oft die Bahn 
hart am Rande eines Abhanges hinläuft und das Auge 
vom Waggonfenſter direct in die ſchwindelnde Tiefe blickt, 
ſehen unten die höchſten Fichten wie ganz kleine Tannen— 
reiſer aus; käme der Zug hier aus dem Geleiſe, ſo würde 
er einen Salto mortale von vollen 2000 Fuß machen, ehe 
er dort unten anlangte. Aber es iſt keine Gefahr vor— 
handen; leicht gegen den Berg geneigt, rollen die Waggons 
ſicher auf dem Eiſenpfade dahin an den ſchwindelnden Ab— 
hängen. 

Bei der Station Gold Run, 3248 Fuß über dem 
Meere, liegt ein berühmtes altes Minenlager, und das 
wüſte Durcheinander von Schutthaufen, umgewühltem 
Boden, tiefen Schluchten, Gräben, Goldwaſchrinnen und 
ſchiefen Minerhütten zeigt ſich hier in nächſter Nähe. Es 
iſt, als ob ein böſer Geiſt dort ſeine Fußſtapfen in Gottes 
ſchöner Natur zurückgelaſſen hätte! Eine Waſſerleitung, 
auf hohen Holzblöcken ruhend, läuft etwa 75 Fuß über 
dem Boden, quer über die Bahn. Drei engliſche Meilen 
weiter und 67 Meilen von Sacramento paſſirt der Zug 
die Station Dutſch Flat, 3425 Fuß über dem Meere, 
wo ſich ein noch bedeutendes Minenlager befindet. Einen 
intereſſanten Anblick gewährt das in der wilden Umgebung 
im waldigen Thalkeſſel eingeniſtete Städtchen gleichen 
Namens, bei dem wir in nicht weiter Entfernung im 
Fluge vorübereilen. Die in ſeiner Nähe liegenden von 


233 


waldigen Höhen umkränzten riefigen Schutthaufen und 
unterſt zu oberſt gewühlten, mit entwurzelten Stämmen 
beſtreuten gelben Sandberge ſehen aus, als ob ſie das 
Schlachtfeld von Titanen geweſen wären. Zahlreiche 
Dampfſägemühlen ſchnarren und lärmen ſeitwärts im Walde, 
und friſchgeſchnittene Balken, Dielen und Bretter liegen 
bergeweis in den Lichtungen. | 

Allmählich breiten ſich die Schatten der Nacht über 
das Hochgebirge. Höher und höher hinan die Sierra ar— 
beiten die ſchnaubenden Locomotiven; oft donnert der Zug 
über thurmhohe Treſtlebrücken und durch rieſige Durchſtiche. 
Wir erreichen Alta dreitauſendſechshundertfünfundzwanzig 
Fuß, Blue Canon viertauſendſiebenhundert Fuß, Emigrant 
Gap fünftauſenddreihundert Fuß; eins immer prächtiger, 
immer wildromantiſcher als das andere; bei einbrechender 
Nacht zeigten ſich die erſten Schneefelder, wir donnern hin 
durch rieſige Tunnels und unter ſcheinbar endloſen Schnee— 
dächern. Vierzig Meilen weit erſtrecken ſich dieſelben, um 
den Zügen Schutz gegen die Lawinen zu geben; das längſte 
Schneedach, ein geſchloſſenes Gebäude, iſt fünfzehn engliſche 
Meilen lang, — wie eine rieſige Anaconda windet es ſich 
um das Gebirge. Mitunter bildet ein Schneedach nur die 
Fortſetzung eines ſteilen Abhanges; der Schnee rollt darüber 
weg in das tiefe Thal und ungefährdet eilt der Dampfzug 
darunter hin. 

Ich habe mein Nachtlager aufgeſucht; die Lampen im 
Schlafwaggon flimmern matt, die Reiſegefährten ſchlummern. 
Eine Nachtfahrt im Dampfzug auf der Sierra Nevada! ich 
konnte die Augen nicht ſchließen. Den Schieber des Fen— 
ſters an meiner warmen Lagerſtätte öffnete ich und blickte 
hinaus in die winterliche, geſpenſtiſch vorbeihuſchende Gegend. 
Wie ein ſilberner Schleier lag das Licht des Vollmondes 
auf dem Gebirge. Gigantiſche Fichten huſchten vorbei und 


234 


ſtreckten mir ihre ſchneeigen Arme entgegen; die Finſterniß 
der Tunnels und der Schneedächer wechſelte ab mit mond— 
beleuchteten Schluchten, Schneefeldern, Thälern, Felſen, 
Schneegipfeln und rieſigen Tannenwäldern. Wir waren 
ſiebentauſend Fuß über dem Meere! Es raſſelt dicht über 
mir auf dem Dache des Waggons; der Hagel eines Schnee— 
ſturmes, der über das Gebirge hinſauſt und dem es doch 
nicht gelingt, den Schlaf von meinem bequemen Lager weg— 
zuſcheuchen. 

Eine der ſchönſten Partien in der Sierra Nevada, die 
am herrlichen Donnerſee, welchen der Bahnzug an einer 
waldigen Höhe unter Schneedächern umbrauſt, paſſirten wir 
leider im Dunkel der Nacht. Den weſtwärts über die 
Sierra fahrenden Reiſenden giebt der Anblick jenes wild— 
romantiſchen Bergſee's in früher Morgenſtunde eine faſt 
märchenhafte Ueberraſchung, wenn das Auge, wo ſich kurze 
Oeffnungen zwiſchen den Schneedächern befinden, das Bild 
jenes im Schooße prächtig bewaldeter Berge tief unter ihm 
ſchlummernden Gewäſſers im Fluge erhaſcht. Der See 
führt ſeinen Namen nach einer deutſchen Familie Donner, 
welche zur Zeit des erſten californiſchen Goldfiebers mit 
einer Ochſenfuhr die lange Ueberlandreiſe unternahm und 
an ſeinem Geſtade, von einem wüthenden Schneeſturm über— 
raſcht elendiglich umkam. 

Die goldene Morgenſonne ſchien durch das Fenſter 
und weckte mich auf zu früher Stunde. Welch ein Wechſel 
des Landſchaftsgemäldes! Weit hinter uns lagen die Schnee— 
zinnen der Sierra, um uns eine traurige Wüſte mit ſpär— 
lichem, verkrüppeltem Salbeigeſtrüpp. Ich erhebe mich von 
meinem Lager und kleide mich an, finde die Stiefel geputzt 
am Bett ſtehen und mache Toilette im Toilettezimmer; der 
Schlafwaggon verwandelt ſich wieder in einen Salonwaggon; 
im „Cosmopolitan“ wird geſpeiſt wie geſtern. 


235 


Die Gegend, welche wir an dieſem Tage durcheilen, 
bietet wenig Intereſſantes; es iſt eine traurige Salbei- und 
Alcaliwüſte, welche der ſich im Sande verlaufende Humboldt— 
fluß träge durchſtrömt. Die Städtchen Reno, Winnemucca, 
Palliſades und Elko, die Depots der reichen Silberminen— 
diſtricte von Waſhoe, Owyhee, Eureka und White Pine, 
ſind die einzigen Ortſchaften von Bedeutung, welche wir 
auf dieſer Strecke paſſiren. Dieſelben ſind aber nichts 
weniger als maleriſch gebaut und beſtehen zum größten Theil 
nur aus Reihen von nahe an der Bahn angelegten Holz— 
häuſern und Barakken, in denen ſich eine Bevölkerung von 
Minern, Schenkwirthen, Kaufleuten, Spielern und ſchlechten 
Subjecten aller Art herumtreibt, welche für ihre Exiſtenz 
auf den Verkehr mit den reichen Minendiſtricten angewieſen 
ſind, denen jene Ortſchaften ihre Entſtehung zu verdanken 
haben. Der Staat Nevada, welchen wir heute durchfliegen, 
führt mit Recht den Namen der „Silberſtaat“. Für die Cen— 
tral⸗Pacifiebahn find die zahlreichen Silberminen, welche in 
ſeinen öden Bergen zerſtreut liegen, von vorwiegender Be— 
deutung, da der Hauptverkehr und die größten Waarentrans— 
porte über ihren Schienenweg von und uach jenen Dorados 
gehen. Betrug doch der Ertrag der Silberminen an der 
weltberühmten Comſtock-Ader allein ſeit dem Jahre 1861 
voll 200 Millionen Dollars an edlen Metallen! alle Ma— 
ſchinerien, alles Bauholz ꝛc. zum Bearbeiten der Gruben, 
die ganzen Bedürfniſſe der Minenſtädte und das edle Me— 
tall ſelbſt, müſſen über die Centralpacificbahn transportirt 
werden. 

Für den Fremden bilden während der Fahrt durch den 
berühmten Silberſtaat nebſt den allerorten ſich zeigenden 
bezopften Chineſen, die zu dem Stamme der Piutes ge— 
hörenden Indianer, ein intereſſantes Studium. Dieſe edlen 
Rothhäute ſind eher Zigeunern als cooperſchen Helden— 


236 


geſtalten ähnlich. Faſt ohne Ausnahme find fie in Lumpen 
gehüllt und dabei bunt bemalt und mit Hahnenfedern 
geputzt, die Weiber tragen ihre auf Bretter geſchnallten 
Kindlein (Papuhs) wie ein Bündel Stroh auf dem Rücken, 
und Alle glotzen den Reiſenden mit nichtsſagenden Blicken 
an, oder betteln wie das ärgſte Vagabondenvolk. Mitunter 
ſteigt eine Geſellſchaft dieſer Kinder der Wildniß, welche 
auf allen Eiſenbahnen hier zu Lande das Privilegium der 
freien Fahrt genießen, in einen Waggon, um von dieſer 
nach jener Station zu fahren, was manchesmal zu einer 
intereſſanten Unterhaltung in poſſirlicher Zeichenſprache, un— 
termiſcht mit barbariſchem Engliſch und indianiſchen Gurgel— 
lauten, Anlaß giebt. 

Unſere Reiſegeſellſchaft machte ſchnell Bekanntſchaft un— 
tereinander und war bald eine große Familie. Bunt genug 
war dieſelbe. Da waren unter Anderen ein Midſhipman 
der Vereinigten-Staaten-Flotte, der vor Kurzem von den 
Fidſchi⸗Inſeln in San Francisco angelangt war und eine 
fliegende Viſite nach New-Jerſey machte; eine junge ame— 
rikaniſche Dame, die ganz allein zu Beſuch nach Newyork 
reiſte; ein Amerikaner, der in Heidelberg ſtudirt hatte und 
ſehr gut Deutſch ſprach; ein deutſcher Kornhändler und 
Millionär aus San Francisco, ſieben Fuß hoch, eine von 
den Damen beſonders geſchätzte Perſönlichkeit; eine Familie 
von Michigan mit zwei allerliebſten Kindern, die im Waggon 
ſpielten und ſich herumjagten, daß Jeder ſeine Freude daran 
hatte. Hier und da wurden die kleinen Klapptiſche zwiſchen 
den ſammtgepolſterten Doppelſitzen in Requiſition gebracht, 
und wir ſpielten Karten, Dame ꝛc. Zwiſchen den Mahl— 
zeiten verſammelten ſich die meiſten Herren im „Cosmo— 
politan“-Waggon, rauchten und ſpielten und laſen und dis— 
cutirten die Gegend. 


237 


Die nächſte Nachtfahrt brachte uns nach dem geſchicht— 
lichen Promontory am Nordende des großen Salzſees, 
achthundertundzwanzig engliſche Meilen von San Fran— 
cisco. Nichts bezeichnet dort die Stelle, wo am 10. Mai 
des vorigen Jahres die letzte Schwelle der verbundenen 
Weltbahn niedergelegt wurde, wo die Locomotiven „Jupiter“ 
von der Central und „Nr. 116“ von der Union Pacific 
ſich zum erſten Mal begrüßten, wo der weltberühmte gol— 
dene Nagel eingeſchlagen wurde, und von wo der Telegraph 
die Kunde der großen That gleichzeitig nach allen Enden 
der civiliſirten Welt brachte. In Amerika iſt das Ereigniß 
ſo gut wie vergeſſen; Niemand auf unſerem Zuge ſprach 
davon. 

Die Stadt Promontory iſt bald nach dem goldenen 
Nagel und der Lorbeerholzſchwelle, die nach San Francisco 
wanderten, vom Erdboden ſo gut wie verſchwunden. Sechs— 
unddreißig engliſche Meilen weiter entſtand an der Eiſen— 
bahn eine blühende Stadt Corinne, die einzige „Heiden— 
Stadt“ im Mormonenlande. Um die Frühſtücksſtunde er— 
reichten wir die anſehnliche Mormonenſtadt Ogden, wo ſich 
die Union Pacific an die Central Pacific anſchließt. Eine 
Zweigbahn läuft von Ogden nach Great Salt Lake City, 
der Reſidenz des Mormonenpaſcha Brigham Young. 

Die Gegend am großen Salzſee mit den ſchmucken 
Mormonenniederlaſſungen, welche mich vor drei Jahren 
im Monat Mai, auf der Reiſe von Texas nach Idaho, ſo 
entzückt hatte, ſah jetzt ganz winterlich aus. Ich konnte 
nicht umhin, an jene Poſtfahrt über jene Steppe und die 
Felſengebirge recht oft zurückzudenken, als ich jetzt in dem 
glänzenden Hötelzuge dahinſauſte. Zweiundvierzig Tage 
dauerte damals meine Reiſe von St. Louis nach Idaho City 
und wochenlang ſaß ich während derſelben in der Poſt— 
kutſche. Gefechte in der Kutſche mit Indianern, meilen— 


238 


und meilenweit durch Schneefelder zu waten, Umwerfen der 
Poſtkutſchen, Schneeſchaufeln, durchnäßt, halberfroren, halb— 
verhungert, auf Rumpelwagen und im Schlitten über die 
Felſengebirge, zu Fuß über die ſchneebedeckten Waſatch— 
gebirge, — das war damals mein wenig beneidenswerthes 
Loos. Im Hötelzuge ging die Reiſe diesmal etwas ange— 
nehmer von Statten! Damals war ich während Wochen 
von der civiliſirten Welt ganz abgeſchnitten; jetzt las ich 
jeden Morgen die neueſten Telegramme von Oſtindien bis 
nach San Francisco, heute in dieſer, morgen in jener Zei— 
tung, und in Städten gedruckt, die vor drei Jahren noch 
gar nicht exiſtirten. 

Unter der Aegide der Union Pacific ſetzten wir unſere 
Reiſe von Ogden fort. Beim Teufelsthore traten wir mit 
doppeltem Vorſpanne des Dampfes ein in die Canon, die 
natürliche Straße von Oſten in das Utah-Baſſin. Quer 
durch die Waſatchgebirge führen dieſe Felſenſtraßen, Weber 
Safon und Echo Kafion, — die Via Mala der neuen Welt. 
Die thurmhohen Felſenwände hallten wieder vom Brauſen 
des Dampfzuges, als wir uns vierzig Meilen weit durch 
dieſe hochromantiſchen Gebirgspäſſe hinwanden. Unange— 
nehm überraſchten mich nur die an die Felſen gemalten 
Annoncen. In Echo Caſion paradirten an den ſchönſten 
rothen Felsmauern die Worte: „Drake's Plantation 
Bitters!“ die ein Yankee mit ellenlangen weißen Buch— 
ſtaben dorthin gemalt hatte. Es kam mir wie eine Ent— 
heiliguug vor. — „ 1000 Mile Tree!“ (der Tauſend— 
Meilen-Baum) lieſt man an einem einſamen Baume in 
Weber Caljon. Nur tauſend Meilen nach Omaha? Ueber— 
morgen ſind wir dort! 

Am nächſten Tage dejeunirten wir ſiebentauſend Fuß 
über dem Meere, auf der ganz eingeſchneiten großen Laramie— 
Ebene, Bergforellen, Antilopenſteaks, californiſche Spargel, 


239 


Blumenkohl ꝛc. In der winterlichen Dede unſerer letzten 
Tagereiſen nahm der Comfort des Hötelzuges jo zu ſagen 
einen poetiſchen Charakter an. Was kümmerten uns Schnee 
und Eis und Hagel und Sturm, ob Hochgebirge auf un— 
ſerem Pfade, ob endloſe Wüſten, ob wir fünftauſend oder 
ſechstauſend oder achttauſend Fuß hoch über dem Meere 
dahinſauſten! Wir trugen ja die Civiliſation des neun— 
zehnten Jahrhunderts mit uns durch die Wolken, — auf 
Flügeln des Dampfes! 

Laramie City, 7123 Fuß über dem Meere, war ſo 
zu ſagen der erſte civiliſirte Ort, den wir ſahen, ſeit wir 
den großen Salzſee und die Mormonenniederlaſſungen ver— 
laſſen hatten. Während der letzten zwei Tagereiſen und 
namentlich in den Schwarzen Hügeln, wo die Union Pacific 
bei Sherman, 8242 Fuß über dem Meere, den höchſten 
Punkt erſteigt, waren die Schneefänge mir etwas ganz 
Neues. Dieſelben ſind ſchräge, über Kreuz aufgeſtellte 
Latteneinfriedigungen, die meiſtens parallel mit der Bahn 
laufen; mitunter ſieht man mehrere in Zwiſchenräumen von 
etwa hundert Schritt hinter einander angebracht. Maſſen 
von Schnee lagen noch an den Schneefängen, die ſonſt 
ſicherlich auf die Bahn geweht wären. Faſt alle Schnee— 
fänge ſind an der ſüdlichen Seite der Bahn, weil die meiſten 
Schneeſtürme aus jener Himmelsrichtung von den Felſen— 
gebirgen herwehen. 

Von Sherman, wo ein heftiger Schneeſturm wüthete, 
ging's wieder bergab, aber ſo allmählig, daß man es gar 
nicht gewahr wird. Unſere letzte Nacht im Hötelzuge ver— 
brachten wir auf den Ebenen; die letzte Nacht brachte uns 
in das Thal des Platte, in eine angebaute Gegend und nach 
Omaha. Die Ebenen waren eine endloſe, ganz mit Schnee 
bedeckte Fläche. Nur die Stationsgebäude an der Eiſenbahn 
unterbrachen mitunter die menſchenleere Oede. Um ein Uhr 


240 


und vierzig Minuten nach San Francisco Zeit langten wir 
in Omaha an, wo es bereits nach drei Uhr war. Pünktlich, 
auf die Minute der vorgeſchriebenen Zeit, hatte der Hötel- 
zug die Fahrt von neunzehnhundertzwölf engliſchen Meilen 
zurückgelegt. 


Bilder aus dem Goldland, 


16 


1. In den Goldminen von Idaho. 


Der Mai war in's Land gekommen und bereits ſechs— 
zehn Sonnen alt, als ich das erſte Mal in meinem Leben 
meinen Wanderſtab in die Mauern der Goldſtadt Idaho 
City (ſprich: Eidaho) ſetzte. Kalt war es, wie im rauhen 
Herbſte, und noch lagerte der Schnee zwiſchen den grünen 
Fichten auf den nahen Bergen. Große Feuer, um welche 
frierende Goldjäger ſich drängten, hatte man angezündet in— 
mitten der Straße, durch welche ich in einer vierſpännigen 
Poſtkutſche meinen Einzug in jene Hauptminenſtadt des nord— 
amerikaniſchen Territoriums Idaho gehalten hatte, meine 
ſelbſtgewählte Heimath für den Sommer des Jahres 1867. 
Ein erhabener Gedanke, ſo auf goldenem Boden wohnen zu 
dürfen! Tag aus, Tag ein ſollte ich das Rauſchen leben— 
diger Waſſer hören, welche ſich aus luftigen Aquäducten 
von den nahen Gebirgen zu Thal ſtürzten, durch die tief— 
ausgehöhlten Straßen brauſten und, wohin das Auge ſah, 
auf verſchiedenartigem Wege dem Menſchen dienſtbar ge— 
macht wurden, um das blanke Gold der Mutter Erde zu 
entreißen. Sogar unter meinem Schlafzimmer waren emſige 
Goldgräber bei Tage und bei Nacht beſchäftigt, denn die 
ganze Stadt ſtand auf goldhaltigem Boden, und keine Grund— 
rechte der Hauseigenthümer hinderten den Miner, nach 
Herzensluſt in den Straßen und ſogar unter den Häuſern 
nach dem Mammon zu ſuchen. 


he 


244 


Nachdem ich alten Freunden die Hand geſchüttelt und 
brennende Neuigkeiten ausgetauſcht, mich von dem aſch— 
grauen Alcaliſtaube meiner (im erſten Abſchnitt geſchilderten) 
fünfzehnhundert Meilen-Stagereiſe ein wenig gereinigt und 
mit Speiſe und Trank erquickt hatte, begab ich mich in 
die Stadt, um noch am Tage meiner Ankunft meine neue 
Heimath etwas genauer in Augenſchein zu nehmen. 

Auf und ab wanderte ich die Hauptſtraße des Ortes, 
kletterte hier über Schutthaufen, überſprang dort weite Oeff— 
nungen im Wege, durch welche brauſende Waſſer ſich Bahn 
brachen, ging unter einer luftigen auf Pfählen ruhenden 
Waſſerleitung hin, die in leckigen Holzrinnen haushoch über 
mir lag, und ſchaute neugierig dem fremdartigen Treiben 
um mich her zu. In der Straße befanden ſich lange und 
tiefe Höhlungen, dem ausgewaſchenen Bette eines Berg— 
ſtromes ähnlich, in denen Schutt und loſe Steinmaſſen auf— 
gehäuft lagen. Eifrig war man dort in der Tiefe mit 
Goldwaſchen beſchäftigt. Die obere bis zu fünfzehn Fuß 
mächtige Erde wurde fortgeſchwemmt, um den Grundfelſen 
zu erreichen, auf dem ſich unter dem Kies das meiſte körnige 
Gold anzuſammeln pflegt. Wilde Waſſer brauſten in langen 
hölzernen Rinnen am Grunde der Schlucht; Arbeiter in 
Gummiſtiefeln ſtanden im Waſſer und hackten und ſchaufelten 
im Boden, der ſich, wenn unterhöhlt, mitunter maſſenweiſe 
von den Wänden der Schlucht lostrennte; mit Eiſengabeln 
holten Jene die loſen Steine aus dem Waſſer, warfen Erde 
und Kies in die Rinnen und rührten das ſchnell durch die— 
ſelben hinfließende Waſſer auf, um die hineingeſchaufelte 
Erde aufzulöſen und fortzuſchwemmen, damit das ſchwere 
Gold zu Boden ſinke, während Hunderte von Müſſiggängern 
am Ufer der Kluft ſtanden, ſich am großen Holzfeuer wärmten 
und der Arbeit zuſahen. 


245 


Hier wuſch Einer goldhaltige Erde in einem „Rocker“ 
aus, einem hölzernen wiegenähnlichen Kaſten mit einem Sieb 
darin, worunter ein Wollentuch geſpannt war, auf dem ſich 
das Gold feſtſetzte, während die hineingeſchüttete Erde vom 
Waſſer fortgeſpült wurde und die Steine im Siebe liegen 
blieben. Mit einer Hand ſchaukelte der Wiegenmann den 
Kaſten hin und her, während er mit der anderen in einer 
Kelle Waſſer ſchöpfte und auf die im Siebe liegende Erde 
goß. Dieſe einförmige Arbeit lieferte einen Gewinn von fünf— 
zehn bis fünfundzwanzig Cents in Goldſtaub aus etwa einem 
Eimer voll Erde. Ein Anderer kratzte Erde von der 
Straße in eine flache Eiſenblechſchale und wuſch ſie nachher 
darin aus, um das darin enthaltene Gold durch Hinaus— 
ſchlemmen der Erde zu gewinnen; ein diminutives Quantum 
von dem edlen Metall, das ich kaum im Bodenſatz der 
Schale zu erkennen vermochte. Doch gewinnen dieſe Leute 
täglich für drei bis fünf Dollars Goldſtaub. Was an Gold 
in der Erde. enthalten war, die fie auswuſchen, war weiter 
nichts als ſolches, das mit dem Kehricht aus den Häuſern 
herausgefegt oder aus den Goldſtaubbörſen der Bewohner 
von Idaho City verloren gegangen war. 

Läden, kleine und große, den verſchiedenartigſten In— 
halt zur Schau tragend und ihre Fronten alle mit farben— 
reichen Anzeigetafeln geſchmückt, lagen in langer Reihe zu 
beiden Seiten der Straße, hier und da mit Schlachterbuden, 
Reſtaurationen und Vergnügungslocalen abwechſelnd. Schenk— 
ſtuben, mit Hazardſpieltiſchen darin, an denen es luſtig zu— 
ging, waren beſonders zahlreich. Die Thüren der faſt 
ſämmtlich aus Holz erbauten Häuſer ſtanden allenthalben 
weit offen; Niemand genirte ſich, ſein Privatleben aller Welt 
Blicken zu zeigen, und Jeder that offenbar, was ihm be— 
liebte, ohne ſich um die Meinung Anderer zu bekümmern. 
Im Chineſenquartier traten chineſiſche Aushängeſchilder mit 


246 


ihren ſonderbaren Schriftzeichen an die Stelle der eleganten 
Anzeigetafeln in der Hauptſtraße des Ortes. Langzöpfige 
Johns (wie jeder Chineſe hier zu Lande genannt wird) 
begegneten mir dort in großer Menge, die bald in heimi— 
ſcher Blouſentracht und bauſchigen Beinkleidern auf hohen 
Filzſchuhen einherſchlürften, bald in Kleidung und Haltung 
mehr oder weniger amerikaniſirt waren. 

Doch es iſt Zeit zur Rückkehr, denn meine Freunde 
werden mich mit Ungeduld erwarten und mir zürnen, wenn 
ich ungebührlich lange am erſten Tage des Wiederſehens 
ausbleibe. Hier bin ich wohlbehalten wieder bei unſerem 
„Store“ angelangt. Mein langjähriger Aſſocié hat die 
Nachbarn als Gäſte geladen, zur Feier meiner glücklichen 
Ankunft vom fernen Texasland in den goldenen Bergen von 
Idaho. Im ächten Junggeſellenſtil lebt er hier und hat 
bald ein ſuperbes Abendbrot, in Geſtalt von rohem Schinken, 
ſauren Gurken und hartgeſottenen Eiern, im hinteren Raume 
unſeres Ladens aufgetiſcht. Ein luſtiges Feuer kniſtert im 
Kochofen, von wo aromatiſche Kaffeedüfte ſich verbreiten. 
Neugierige Bekannte haben ſich zahlreich eingefunden, die 
Alle auf einmal ſprechen und fragen und erzählen. Auf 
einer leeren Kleiderkiſte wird der Kaffee ſervirt. Die ge— 
ladenen Gäſte, Goldgräber und Kaufleute, die meiſten von 
ihnen in Hemdsärmeln und mit geladenen Revolvern im 
Gürtel, eſſen aus der Hand im Stehen, den Schinken auf 
der Gabel, die heißen Eier verwünſchend, und die Gurken 
mühſam mit den Taſchenmeſſern aus der tiefen Flaſche heraus— 
holend. Der Kaffee verliert leider an Geſchmack durch die 
in Idaho übliche Weiſe, ihn aus Blechnäpfen oder Bier— 
gläſern zu trinken, worin Jeder den Zucker mit einem Eß— 
löffel umrührt, der mit Silber nur die Farbe gemein hat. 
Doch muß ich geſtehen, daß mir dies mein erſtes Abend— 
brot im Goldlande vortrefflich mundete. 


247 


Ein windiger Morgen begrüßte mich in Idaho City 
am Tage nach meiner Ankunft in jener berühmten Goldſtadt 
des fernen Weſtens. Wirbelnd flogen die Staubwolken 
durch die Straßen, vermiſcht mit Hobelſpänen, Stroh, Pa— 
pierſchnitzeln und loſem Kehricht aller Art, der durch die 
Stadt zerſtreut lag. Manchem von den Müſſiggängern, 
welche in Reihen am Rande einer gewaltigen Oeffnung 
ſtanden, wodurch die Paſſage der Hauptſtraße dicht vor un— 
ſerer Hausthür für Menſchen und Fuhrwerk unſicher ge— 
macht wurde, flog bei einem Windſtoß der Hut vom Kopfe; 
fiel der Hut, wie mitunter vorkam, hinab in eine der Gold— 
waſchrinnen, ſo ſchleuderten die Minenarbeiter ihn, triefend 
von ſchlammigem Waſſer, unter dem Gelächter der Zu— 
ſchauer und zum Aerger ſeines Eigenthümers, mit Eiſen— 
gabeln auf die Steinhaufen. 

Bald verließ ich die windige Straße, wo ich den Gold— 
wäſchern bei der Arbeit zugeſehen, und begab mich in den dicht 
hinter unſerem Store gelegenen ſogenannten „feuerfeſten 
Keller“. Dort lag ich der Beſchäftigung ob, mit Hülfe 
einiger Geſchäftsfreunde Waarenballen zum Transport auf 
Packthieren nach den etwa 400 engliſche Meilen von Idaho 
City entfernt liegenden neuentdeckten Lemhi-Goldminen zu— 
recht zu machen. Das Verpacken und die Beförderung von 
Waaren nach ſolchen entlegenen Goldregionen, zum Bedarfe 
dort wohnender Kröſuſſe in spe, durch die Kaufleute der 
älteren Minenplätze, iſt mit nicht geringen Schwierigkeiten 
verknüpft; ſowohl Erfahrung als Sorgfalt wird erfordert, 
um die Waaren ſo zu verpacken, daß ſie bei dem oft 
Monate lang dauernden Transport durch die Wildniß wohl— 
behalten an ihren Beſtimmungsort gelangen. Jeder Packen 
muß feſt zuſammengenäht, geſchnürt und gewogen werden. 
Die Laſtthiere, Mauleſel und Pferde, auf denen die Waaren 
über die Gebirge, wo Landſtraßen nicht exiſtiren, trans- 


248 


portirt werden follen, beladet man jedes mit zwei Ballen 
oder mit zwei Kiſten aus leichtem Holz, die je von 150 bis 
200 Pfund wiegen und über den Packſattel an die Seiten 
des Thiers in möglichſt genauem Gleichgewicht gehängt wer— 
den. Alles überflüſſige Gewicht muß ſorgfältig vermieden 
werden, da der Frachtſatz nach ſolchen fernen Goldregionen 
enorm iſt. Waaren von Idaho City nach Lemhi zu ſchicken 
koſtete z. B. fünfzehn Cent in Gold pro Pfund. 

Ich ſtellte eben mit meinen Geſchäftsfreunden Berech— 
nungen an, wie viele tauſend Dollars wir wohl mit unſerer 
Waarenſendung nach Lemhi verdienen könnten, als plötzlich 
nahe auf der Straße der Schreckruf: Feuer! — Feuer! 
— erſcholl und alle unſere goldenen Zukunftspläne in Nichts 
zerſtieben ließ. Wenn ſchon in alten Städten mit ſoliden 
Steinbauten und gut eingerichteten Löſchanſtalten eine Feuers— 
brunſt die Bewohner in Angſt und Schrecken verſetzt, ſo 
iſt die Verwirrung, welche ein ſolches Ereigniß in einem 
Minenplatze hervorruft, geradezu eine ungeheure zu nennen. 

Man denke ſich eine Stadt, die faſt ganz aus Holz— 
häuſern beſteht. Die aus Fichtenholz erbauten gedrängt da— 
ſtehenden Wohnungen ſind mit Schindeln gedeckt, die Straßen 
eng und die Verkehrswege mehr oder weniger durch Bretter— 
haufen, tiefe Löcher, Berge von Schutt und Steinen ꝛe. 
verſperrt. In den zahlreichen Trink-, Tanz- und Spiel- 
localen ſind die Stubendecken meiſtens aus dünnem Baum— 
wollenzeug gemacht, worunter eine Menge von Kohlenöl— 
lampen hängen, damit die Nacht den Vergnügungsſuchenden 
zum hellen Tage werde; Tapeten bekleiden die dünnen ausge— 
trockneten Bretterwände; Ofenröhre ſtecken in Holzverſchlägen 
oder durch die Schindeldächer; die Kaufläden ſind voll von 
leicht brennbaren Stoffen; Feuerſpritzen giebt es nicht. 
Man ſchien jegliche Löſchauſtalten zum Bekämpfen des feind— 
lichen Elements bei der Bauart der Stadt für nutzlos zu 


% 


249 


halten und verließ ſich ganz und gar auf eine gütige Vor— 
ſehung, — eine zweifelhafte Hülfe, da die meiſten Minen— 
ſtädte am Stillen Meere während ihres kurzen Beſtehens 
mehrere Male total niederbrannten. Auch Idaho City hatte 
bereits einmal (am 18. Mai 1865) ein ſolches Schickſal 
ereilt, ohne daß die Bewohner der Goldſtadt deshalb ihre 
Häuſer minder feuergefährlich wieder aufgebaut hätten. 
Die Kaufleute von Idaho City verließen ſich auf ihre 
feuerfeſt ſein ſollenden Kellergewölbe, in welche ſie ihre Waaren 
bei einem ausbrechenden Brande in Sicherheit zu bringen 
hofften. Diejenigen unter ihnen, welche keine ſolche Zu— 
fluchtsſtätten hatten, befanden ſich bei einer in jeder Minute 
möglichen Feuersbrunſt ohne alle Mittel, ihr Hab und Gut 
den ſich mit unglaublicher Schnelligkeit ausbreitenden Flam— 
men zu entreißen. Die „feuerfeſten Keller“ waren weiter 
nichts als hölzerne über dem Boden erbaute und mit Erde 
überſchüttete Gewölbe, die durch Eiſenblechthüren geſchloſſen 
wurden. Das Beiwort „feuerfeſt“ war in dieſem Falle 
etwas problematiſch, denn mancher Kaufmann ſah ſeine 
während eines Brandes in ein ſolches Gewölbe geretteten 
Waaren dort nachträglich in Aſche verwandelt. Wir waren, 
wie alle Kaufleute in jeder Minenſtadt, in unſerem Geſchäfts— 
locale jederzeit gegen eine Feuersbrunſt gerüſtet. Die fer— 
tigen Beinlleider lagen, immer an zwei Dutzend Paar mit 
einem Lederriemen zuſammengeſchnallt, in langer Reihe auf 
dem Ladentiſch. Verkaufte man ein Paar davon, ſo wur— 
den die andern, die in demſelben Haufen gelegen, ſofort 
wieder zuſammengeſchnallt. Die Röcke waren glatt aufein— 
ander gelegt, ſo daß ſchnell ein Dutzend oder mehr auf 
einmal gefaßt werden konnten; Stiefel lagen in Kiſten, an— 
dere Kleidungsſtücke zuſammengebunden und in Packeten, — 
mit einem Wort, Alles war auf ein möglichſt ſchnelles Aus— 
räumen, das zu jeder Minute nöthig ſein konnte, berechnet. 


250 


Guten Freunden hat ſchon der weiſe Salomon ein 
Loblied geſungen; bei einer Feuersbrunſt in einer Minen— 
ſtadt ſind dieſelben nicht mit Gold aufzuwiegen. Ein Paar 
Goldgräber, brave Leute und handfeſte Männer, die das 
Herz auf dem rechten Flecke hatten, die als Hausfreunde 
galten, beim Kochen halfen und Nachts im Laden ſchliefen, 
waren, ehe noch der erſte Schreckruf „Feuer!“ verhallt 
war, ſo zu ſagen im Handumdrehen da und ſtellten ſich 
uns zur Verfügung. Die Hülfe kam keinen Augenblick zu 
ſpät. In der Straße, welche fich im Nu mit Menſchen 
gefüllt hatte, herrſchte ein dämoniſcher Wirrwarr. Das Feuer 
war im zweiten Nebenhauſe von dem unſerigen ausgebrochen 
und breitete ſich bei dem an dieſem Unglückstage beſonders 
heftig wehenden Winde mit raſender Schnelligkeit aus. 

Zunächſt verſchloſſen und verrammelten wir die Haus— 
thüren, um unberufenen Helfern, nöthigenfalls mit dem 
Revolver in der Hand, den Eintritt zu wehren, und dann 
ging's mit aller Macht an das Ausräumen des bis an die 
baumwollene Stubendecke mit Waaren aller Art gefüllten 
Ladens. Fünf Rettungsengel zählten wir. Im Keller nahm 
Einer die Sachen in Empfang und ſtapelte ſie auf, wäh— 
rend wir anderen vier ſchleppten, als ob jeder Arm voll 
den Werth einer Million hätte. Ohne Worte zu verlieren, 
ergriff Jeder, was ihm von Sachen eben in die Hand kam, 
indeß von draußen ſchon die hellen Flammen durch die 
Glasthüren des Ladens leuchteten und laut praſſelten, und 
der Wind heulte und Bretterwände krachend einſtürzten, und 
Jedermann in Idaho City auf einmal zu ſchreien, zu fluchen 
und Befehle zu ertheilen ſchien, denen natürlich Niemand 
gehorchte. 

Raſch verfloſſen die Minuten. Ein flüchtiger Blick 
nach Außen zeigte uns ſchon die rothen Flammen über das 
nächſte Schindeldach herüberzüngeln. Um nicht bei längerem 


251 


Verzug Gefahr zu laufen, von unſerem Keller, ehe wir den— 
ſelben zu ſchließen vermöchten, durch das Feuer vertrieben 
zu werden, verließen wir jetzt den Laden. Nachdem wir 
die Eiſenblechthür des Kellers geſchloſſen hatten, ſchaufelten 
wir noch ſchnell Erde vor den Eingang, während unſere 
muthigen Freunde, die Goldgräber, die letzten Bretter von 
der Verkleidung des Gewölbes herunterriſſen; und dann 
nahmen wir ſämmtlich vor den Flammen Reißaus. 

In einem Bogen eilte ich nach der Hauptſtraße des 
Ortes, um den Fortſchritt des Feuers zu beobachten, als 
die Flammenwirbel bereits über das Dach unſerer Woh— 
nung ſchlugen und die Rückkehr dorthin unmöglich machten. 

In der Stadt hatte alle Ordnung aufgehört. Nur 
einige ſchwache Verſuche wurden gemacht, das feindliche Ele— 
ment zu bekämpfen, die ſich aber als gänzlich nutzlos her— 
ausſtellten. Bald dachte Jeder nur noch daran, von ſeinem 
Eigenthum zu retten, was er in der Geſchwindigkeit mit 
den Händen ergreifen konnte, und ließ das Feuer brennen, 
wie es wollte. Chineſen, mit fliegenden Zöpfen, flüchteten 
über die Schutthaufen, ihre ſämmtlichen Habſeligkeiten, eine 
ſonderbare Raritätenſammlung, mit ſich ſchleppend; brave 
Goldgräber halfen Fremden, deren Habſeligkeiten zu retten, 
mit einer Selbſtaufopferung, die über alles Lob erhaben 
war. Binnen zwanzig Minuten ſtanden an zweihundert 
Gebäude in Flammen. Die vom Winde angefachte Gluth 
war ſo intenſiv, daß ſich ihr Keiner auf weniger als fünf— 
zig Schritt nähern konnte. Die hölzernen Rinnen in den 
Höhlungen der Straßen brannten lichterloh, und ziſchend floß 
das Waſſer durch dieſelben hin; über den Häuſern flammte 
die große quer über die Stadt laufende hölzerne Waſſer— 
leitung hoch empor in die von dem ſchwarzen Qualm des 
brennenden Fichtenholzes erfüllte Luft, während aus den zer— 
platzten Bretterwänden der Rinne das Waſſer kaskaden— 


252 


ähnlich in die unten praſſelnden Flammen hinabſtürzte; ver— 
einzelt daſtehende Steingebäude, die als feuerfeſt gegolten, 
fingen mit ihrem reichen Waareninhalte Feuer wie Zunder 
und brachen zuſammen wie Kartenhäuſer; überall floſſen 
die entfeſſelten Waſſer wie brauſende Mühlbäche durch und 
über die Straßen. 

In etwas über einer halben Stunde hatten die Flam— 
men das Werk der Zerſtörung vollendet. Vierhundert— 
vierzig Gebäude, worunter zweihundertſechsunddreißig Ge— 
ſchäftshäuſer lagen in Aſche: über eine Million Dollars 
an Eigenthum war binnen jener kurzen Spanne Zeit buch⸗ 
ſtäblich vernichtet worden. 

Noch brannten die letzten Häuſer am Ufer des Moore's 
Creek, dem einen Ende der Goldſtadt, als wir bereits über die 
heiße Aſche zwiſchen qualmenden Schutthaufen und brennen— 
den Brettern einen Weg nach unſerem Kellergewölbe ſuch— 
ten, um Gewißheit zu erlangen, ob daſſelbe in dem Flam— 
menſturme auch unverſehrt geblieben ſei. Wie ein ſchwarzer 
Berg lag es zwiſchen Rauch, Aſche und Trümmern vor 
uns, als Luftlöchern von ſeinen drei Eiſenblech-Schorn— 
ſteinen überragt, aus denen jedoch zu unſerer Freude kein 
ominöſes Gewölk emporſtieg. Treu hatte es uns ſeinen 
für uns ſo koſtbaren Inhalt bewahrt. Als wir die Eiſen— 
blechthüre öffneten, ſprang uns unſere prächtige Neufund— 
länderin „Madame Lulu“, welche ihre dort im Neſt lie— 
genden Jungen bei der Flucht vor dem Feuer nicht hatte 
verlaſſen wollen, freudig bellend entgegen und wurde mit 
allſeitigem Jubel begrüßt. Das kluge Thier ſchien ſich ſeiner 
edlen Handlung wohl bewußt zu ſein und hob ſtolz den 
Kopf höher, als wir über ſeine aufopfernde Mutterliebe uns 
unterhielten. 

Die Brandſtätte gewährte einen ſeltſamen Anblick. 
Viele Menſchen eilten und ſprangen auf der heißen Aſche 


253 


zwiſchen brennenden Trümmern und qualmenden Schutt— 
haufen hin und her, um die Sicherheit der Kellergewölbe, 
von denen ſich leider manche nicht als feuerfeſt bewieſen 
hatten, zu unterſuchen. Bereits eine halbe Stunde nach 
dem Brande wurden Bretter zum Bau neuer Wohnungen 
herbeigefahren, und die Sonne war noch nicht untergegan— 
gen, als man bereits in Buden und leicht gezimmerten 
Holzhütten Getränke und Eßwaaren zwiſchen den rauchenden 
Trümmern verkaufte. Bei einbrechender Nacht loderten 
große Feuer, um welche laut redende und ſingende Männer 
lagerten, zwiſchen den Ruinen empor, und auf ſchnell im— 
proviſirtem Bretterboden drehten ſich leichtfertige „Hurdy— 
Gurdys“ (deutſche Tanzmädchen) mit jauchzenden Minern 
im Reigen, zu rauſchender Muſik auf der qualmenden Brand— 
ſtätte. Ich ſuchte mir ein Nachtlager in der Nähe unſerer 
zerftörten Wohnung. In meine Wollendecke gehüllt ent— 
ſchlummerte ich, bei den Klängen von Hörnern, Zithern und 
Geigen und dem Jubel der tanzenden Miner, auf dem Dache 
unſeres Kellergewölbes, inmitten der rauchenden Ruinen von 
Idaho City. 
Während der erſten Tage nach dem großen Brande, 
welcher Idaho City in Aſche gelegt, wohnte ich in dem der 
allgemeinen Zerſtörung entgangenen, zur Zeit nicht benutzten 
„Jenny Lind-Theater“, und lebte mit meinen Freunden 
unter dem Dache der Muſen, wo wir unſere eigenen Kammer— 
diener und Koch ſpielten, in traulicher Abgeſchiedenheit. Bald 
aber vertrieb uns eine Hurdy-Gurdy-Tanzgeſellſchaft, die 
den vereinſamten Kunſttempel als Tanzboden und Schenke 
gemiethet hatte, auf ſummariſchem Wege aus unſerem 
Aſyl. Da wir keine andere Wohnung in der Stadt finden 
konnten, ſo beſchloſſen wir, uns ſelber eine zu bauen. Nichts 
iſt leichter als dies, in einem Lande, wo Jeder, der einen 


254 


Nagel einzuſchlagen verftand, ein Baumeifter war! Zimmer- 
leute forderten nach der Feuersbrunſt ſechszehn Dollars 
Gold Arbeitslohn pro Tag, was wir füglich ſelber verdienen 
konnten. | 

Mir ward das Amt eines Architekten anvertraut. Den 
Plan für eine Wohnung hatte ich bald entworfen. Der 
Keller, ſchlug ich vor, ſoll Prunkgemach ſein. Tabackskiſten, 
Champagnerkörbe und Balken mit Herrengarderobe können 
dort mit Leichtigkeit und Eleganz als Möbeln aufgeſtellt 
werden. Vor dem Kellergewölbe wird eine Veranda erbaut, 
einfach und luftig, vorne offen, wegen der romantiſchen Aus— 
ſicht auf die Ruinen, oben und an den Seiten nicht zu 
dicht, damit Sonne, Mond und Sterne hineinſchauen können; 
darin wird gekocht und getafelt. Gäſte und Kunden werden 
im Keller empfangen. Als Schlafſtelle dient, je nach Be— 
lieben, der Keller oder die Veranda. Lulu wird den Ehren— 
poſten als Wache bei Nacht vor dem offenen Waarenlager 
gewiß zur Zufriedenheit ausfüllen. Die Koſten zum Bau 
ſind unbedeutend. Nägel können genug in der Aſche auf— 
geſammelt werden, und ein Handbeil borgt man. Zwei 
Dutzend Bretter und vier Pfähle ſind das nöthige Bau— 
material. Auf das Dach wird ein rothes Hemd gehängt, 
um anzudeuten, daß hier ein Geſchäftshaus ſei. Die Woh— 
nung heißt „Bellevue“. 

Mein Bauplan wurde einſtimmig angenommen, und 
binnen einer Stunde ſtand die Wohnung zum Einzug fertig da. 

Die häusliche Einrichtung bot geringe Schwierigkeiten. 
Einen alten Kochofen hatten wir billig erſtanden; doch fehlte 
daran leider das Ofenrohr. Da der Verſuch, ohne Rohr Feuer 
im Ofen anzumachen, ſich als unpraktiſch erwies, weil es in 
der Nähe deſſelben vor Rauch nicht auszuhalten war, ſo 
ſuchten wir eins unter den Ruinen und fanden auch bald, 
was wir wünſchten. Das Rohr war allerdings vom Feuer 


255 


etwas mitgenommen, leiſtete aber vortreffliche Dienſte. Ein 
windſchiefer Ellbogen ragte wie eine Wetterfahne ſeitwärts 
über die Bretterwand der Veranda hinaus, und gab dem 
Ofen ein originelles Ausſehen. Die Kappe darauf ſah aus, 
wie der Hut eines Schuſters, der blauen Montag feiert. 
Jeder, der den Ofen ſah, lachte. Einen herrenloſen Tiſch 
oktroyirten wir im Jenny Lind-Theater, und Tabackskiſten 
gaben ſolide Stühle. Unſer Tiſchgeſchirr dagegen war min— 
der praktiſch geſtaltet. Für fünf Koſtgänger, außer Freun— 
den, welche ſich täglich um die Mittagszeit zu Beſuch ein— 
fanden, beſaßen wir eine blecherne Waſchſchüſſel, die als 
Suppenterrine diente, zwei zinnerne Teller, drei Blechſchalen, 
zwei Gabeln, zwei Eßlöffel und drei Meſſer — N. B. die 
Taſchenmeſſer nicht mitgerechnet. Auch das Kochgeſchirr 
ließ Manches zu wünſchen übrig. Daſſelbe beſtand aus 
zwei altersſchwachen Bratpfannen, einem Kaffeetopf und 
zwei kleinen Blechhafen. 

Unangenehm war der Zugang zu unſerer Wohnung. 
Um hin zu gelangen, mußte man zuerſt mehrere tiefe Minen— 
löcher überſpringen, dann über einen Berg von Schutt und 
Aſche klettern (unſer ehemaliges glänzendes Geſchäftshaus!), 
der ganz mit verbranntem Blechgeſchirr und zerbrochenen 
Töpfen überſäet war, und ſchließlich unter einem im Wer— 
den begriffenen Schneiderladen hindurchkriechen, den unſer 
Nachbar der Hofſchneider Lewy („Liwei“ genannt) im 
Pfahlbauſtil aufführen ließ. Für Kunden, welche das 
rothe Hemd auf dem Dache der Veranda flattern ſahen 
und Einkäufe machen wollten, war dieſer Vorhof zu unſerm 
Bazar beſonders unangenehm. Oft mußten wir ermun— 
ternden Zuruf erſchallen laſſen, wenn ſo ein Goldvogel 
zwiſchen den Keſſeln und Töpfen herumſtolperte, oder unter 
Liewei's Pfahlbauten in der Aſche ſtecken blieb, ehe er Bellevue 
erreichte. 


256 


Unſer Leben war im Allgemeinen recht romantiſch. 

Früher Morgen iſt es. Ich ſehe die Geſtirne über 
mir erbleichen, als ich den Kopf vorſichtig unter der war— 
men Wolldecke auf der Veranda, wo ich geſchlafen, hervor— 
ſtrecke und durch die fingerbreiten Spalten des Daches 
aufwärts ſchaue. Die Luft iſt eiſig kalt, obgleich es heute 
einer der letzten Tage des Wonnemonds iſt, ſo daß ich, 
keineswegs ein Freund von allzufrühem Aufſtehen, mein 
Haupt ſchnell unter die mit ſilbernem Reife belegte Decke 
zurückziehe. In halbwachem Traume lauſche ich noch ein 
Stündchen dem monotonen Rauſchen des Waſſers in den 
Goldwaſchrinnen drüben in der Straße, und horche auf das 
emſige Schaufeln und Hacken der Goldgräber, welche die 
ganze Nacht fleißig bei der Arbeit geweſen ſind; da zieht 
mich einer unſerer Hausfreunde, ein an frühe Stunden ge— 
wöhnter Schotte, unſanft am Bein unter der warmen Woll— 
decke hervor, mit dem Bemerken, es ſei Zeit aufzuſtehen, 
um Frühſtück für die Familie zu kochen. 

Beſagte „Familie“, worunter mein Aſſocié und andere 
zwei Hausfreunde zu verſtehen, ſchläft unterdeß im Keller 
ruhig weiter den Schlaf des Gerechten und wartet auf den 
Kaffee. Mit einer kräftigen Bemerkung auf das Goldland 
Idaho, die ſchlecht zum Morgengebete paſſen möchte, mache 
ich meinem Aerger ob des unſanften Aufweckens Luft und 
erhebe mich. Morgentoilette iſt bald gemacht, und ich be— 
gebe mich auf den Weg, um Einkäufe für das Frühſtück 
zu beſorgen, während mein Genoſſe eine alte Kiſte entzwei 
ſchlägt, und damit Feuer im Ofen anmacht. Der bekannte 
Weg unter Liewei's Pfahlbauten und durch die wüſte Straße, 
über Löcher, Gräben und Schutthaufen, iſt für mich in 
Morgenſchuhen doppelt ſchwierig. Mit etlichen Pfund 
Hammelsrippen nebſt Brot, Butter und Zwiebeln beladen, 
lange ich wieder in Bellevue an, wo der Rauch bereits 


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luſtig aus dem ſchiefen Ofenrohr in die blaue Morgenluft 
ſteigt. Mein ſchottiſcher Freund brät die Hammelsrippen 
mit Butter in der einen Pfanne, während ich in der an— 
deren die mit dem Taſchenmeſſer ſchnell entzwei geſchnittenen 
Zwiebeln „A la français““ ſchmore. Der Kaffee, den wir 
gemahlen in Packeten vorräthig haben, iſt leicht gekocht. 
Der Tiſch wird gedeckt, ſelbſtverſtändlich ohne Tiſchtuch oder 
gar im Goldland verpönte Servietten, wir ziehen im 
Keller die Wolldecken von der Familie herunter, und bald 
ſitzen wir Alle auf Tabackskiſten um den Tiſch und langen zu. 

Nie hat mir eine Mahlzeit beſſer gemundet als eine 
ſolche im freien Goldland, wo alles Conventionelle wegfällt 
und die friſche Bergluft den Appetit würzt. Meinen Kame— 
raden ſchmeckt das Eſſen gleichfalls ausgezeichnet, und das 
mangelhafte Tiſchgeſchirr ſtört keineswegs unſeren guten 
Humor. Einer ißt mit Eßlöffel und Gabel, ein Anderer 
mit zwei Taſchenmeſſern, der dritte mit Adams fünfgezahnten 
Gabeln, und ein vierter gebraucht gar zwei Stäbchen, nach 
chineſiſchem Stil, u. ſ. f. —. Beim Kaffee, den wir aus 
Blechſchalen trinken, können wir aber nicht umhin, uns über 
den ſpitzbübiſchen Yankee-Fabrikanten bitter zu beklagen, der 
ihn mit grobgemahlenen Bohnen, die wie Klöſe oben auf 
ſchwimmen, vermiſcht hat. — Im Allgemeinen fand wenig 
Abwechſelung in unſeren Mahlzeiten ſtatt, die ſich ſämmtlich 
durch patriarchaliſche Einfachheit auszeichneten. Mittags 
und Abends wurden dieſelben Gerichte wie beim Frühſtück 
aufgetiſcht mit dem Unterſchiede, daß delicater Nierenbraten 
oder ſogenanntes Kalbfleiſch, welches in Idaho, wie unſer 
Schlachtermeiſter mir anvertraute, aus den Nackentheilen 
fetter Ochſen herausgeſchnitten wird, mitunter an Stelle 
der Hammelsrippen traten. Auch pflegten wir uns Mittags 
bisweilen mit dem Luxus eines Topfes Kartoffeln, die in 
Idaho zehn Cents das Pfund koſteten, zu regaliren, oder 


17 


258 


einige Fruchttorten als Nachtiſch zu verconſumiren, bei deren 
Zubereitung ich mich unter der Aufſicht eines Goldwäſchers 
als Bäckerlehrling übte. 

Im Keller hatten wir täglich Beſuch von Bekannten, 
die es mit Förmlichkeiten nicht zu genau nahmen. Deutſche, 
welche faſt den dritten Theil der Bewohner von Idaho 
City bildeten, fanden ſich beſonders zahlreich bei uns ein. 
Oft ging es in Bellevue recht heimiſch zu und die Main— 
linie ward hitzig beſtritten. Der alte Zank zwiſchen Süd 
und Nord fand auch in den Gebirgen des goldenen Idaho 
einen Nachhall, und mancher Schwab machte bei einem 
Schoppen „Bairiſch“, den wir uns aus einer der drei 
Brauereien in Idaho City herbeiholten, ſeinem Aerger über 
die „verflixten“ Preußen und den „verwetterten“ Bismarck 
in keineswegs ſchmeichelhaften Worten Luft. Das Deutſch, 
welches von unſern Beſuchern geredet ward, möchte jedoch 
Manchem aus der alten Heimath ohne Dolmetſcher zum 
Theil unverſtändlich ſein. Außer den mehr üblichen deutſch— 
amerikaniſchen Redensarten in elegantem Yankeedeutſch hat 
ſich die deutſche Sprache in Idaho noch durch euphoniſche 
Minenausdrücke bereichert, z. B. ſluhßen (sluieing = gold— 
haltigen Boden in Rinnen auswaſchen); ausklienen (to 
clean up = das Gold aus den Rinnen herausnehmen); 
proſpekten (to prospect = nad) goldhaltigem Boden ſuchen) 
ꝛc. Dieſelben werden auch conjugirt, z. B. ich habe ge— 
ſluhßt; er hat ausgeklient; ſie haben geproſpectet 
— u. ſ. f. 

Unſere Unterhaltung drehte ſich, wie es in allen Minen— 
lagern geſchieht, faſt ausſchließlich um Minenneuigkeiten, und 
wann man wohl nach Hauſe gehen könnte, womit Eu— 
ropa oder die älteren Unionsſtaaten gemeint waren; letztere 
wurden auch kurzweg „Amerika“ genannt, als ob Idaho 
gar nicht zu den Vereinigten Staaten gehöre. Niemand 


259 


fieht ein Minenland als feine Heimath an. Die Gegen— 
wart iſt dort im beſten Falle erträglich, während die 
Hoffnung, als reicher Mann heimkehren zu können, die Zu— 
kunft allemal mit roſigen Bildern ſchmückt. Wer wohl— 
habend iſt, hofft reich zu werden, wie irgend ein Bekannter 
von ihm, ein Glückskind, das ſo zu ſagen auf der Straße 
über einen Goldklumpen ſtolperte; er hofft und hofft ſo 
lange, bis ein unvorhergeſehenes Etwas ihm plötzlich wieder 
Alles raubt. Der Eine Glückliche, der mit vollem Säckel 
heimkehrte, iſt in Jedermann's Munde, wogegen von den 
Tauſenden, die ſchon jahrelang nach Schätzen jagen und heute 
ebenſo arm ſind, wie vor Decennien, kein Menſch redet. 
Wer lange in den Minenländern verweilt, verliert, mag er 
zu Zeiten noch ſo glücklich in ſeinen Unternehmungen ſein, 
in neunundneunzig unter hundert Fällen über kurz oder 
lang wieder Alles, was er mühſam erworben hat. Er muß 
den Kampf mit der Welt von Neuem beginnen, und erliegt 
er in demſelben mit gebrochener Kraft ſo findet er eine Ruhe— 
ſtätte im fremden Lande, die bald vergeſſen iſt. Es iſt eine 
Kunſt, ein ſolches Land zur rechten Zeit zu verlaſſen. Die 
Hoffnung auf mehr Erwerb iſt der Ruin von Tauſenden. 
„Noch 5000, noch 10,000 Dollars,“ — ſo heißt es — 
„und ich gehe heim!“ — Aber man könnte eben ſo gut 
darauf ſpeculiren, das große Loos in einer Lotterie zu 
ziehen, als jene fehlenden Dollars zu erhaſchen, die nur in 
höchſt ſeltenen Fällen gewonnen und noch ſeltener behalten 
werden. 

Bei der ſtets regen Hoffnung nach Gewinn, welche im 
Goldlande die Quinteſſenz jedes Gedankens iſt, heiligt zu— 
letzt bei Vielen der Zweck das Mittel. Nach jahrelangen 
Täuſchungen nehmen es Manche mit der Ehrlichkeit nicht 
mehr ſo genau; und nirgends iſt die Verſuchung, ſich über 
Gewiſſensſerupel hinwegzuſetzen, ſo groß, als in den Minen— 


1 


260 


ländern, wo das Geſetz meiſtens nur ein leeres Wort ift. 
Mehr unzufriedene Menſchen, als in den Minenlagern, 
giebt es in keinem Lande der Welt. Namentlich in Bezug 
auf die Goldminen findet dies ſeine Geltung. Etwas ſcheint 
immer dabei verkehrt zu ſein. Zum Goldwaſchen iſt ent— 
weder zu viel oder zu wenig Waſſer vorhanden, oder man 
wird von Jemandem betrogen, oder es iſt zu wenig Gold 
im Boden, oder — was das ſchlimmſte iſt! — es iſt gar 
kein Gold mehr zu finden. 

Sonntags ging es in Bellevue beſonders lebhaft zu, 
und die Goldwage, worauf der Goldſtaub, das in Idaho 
allein übliche Zahlungsmittel, abgewogen ward, hatte vom 
frühen Morgen bis ſpät in die Nacht wenig Ruhe. Die 
Goldgräber, welche die Woche über hart gearbeitet hatten, 
kamen am Sonntag aus der Umgegend ſchaarenweiſe nach 
der Stadt, um ſich zu amüſiren und Kleider, Lebensmittel 
und Minengeräthſchaften einzukaufen. In den „Stores“ 
ward am Tage des Herrn mehr als in allen Wochentagen 
zuſammen genommen verkauft, und die Trink- und Hurdy— 
Gurdy-Salons, die Spielhöllen ꝛc. machten goldene Ge— 
ſchäfte. Alles, was zum Lebensunterhalte gehörte, hatte 
fabelhaft hohe Preiſe. Ein kleines Glas Bier, ein Trunk 
Whisky oder eine Zigarre koſteten je einen viertel Dollar; 
ein mäßig großes Laib Brot einen halben Dollar; Eier 
zweieinhalb Dollars das Dutzend, Hühner drei Dollars das 
Stück. Chineſiſche Waſchleute berechneten für das Waſchen 
eines Hemdes einen halben Dollar, für Unterbeinkleider, 
Strümpfe, Taſchentücher u. d. m. einen viertel Dollar das 
Stück. Sich ein Paar Stiefel anmeſſen zu laſſen, erfor— 
derte eine Auslage von fünfundzwanzig Dollars, und fer— 
tige Kleidungsſtücke in einem Laden waren denſelben Preiſen 
entſprechend. Ein Paar wollene Strümpfe z. B. koſteten 
einen Dollar. Im Allgemeinen galt unter den Kaufleuten 


261 


in Idaho die Regel, daß der Verkaufspreis das Doppelte 
vom Einkaufspreiſe war. Was einen Dollar koſtete ver— 
kaufte man für zwei — 1 pro Cent pflegten wir zu jagen! 


Während ich ſo ein intereſſantes Leben in der eben 
erſt durch Feuer zerſtörten, aber wieder raſch aus den Ruinen 
erſtehenden Goldſtadt führte, ermangelte ich nicht, gelegent— 
lich die Umgegend meiner neuen Heimath in Augenſchein zu 
nehmen und mich mit den verſchiedenen Proceſſen des Gold— 
gewinnens genauer bekannt zu machen. Ein ſchöner Sommer— 
mittag lud mich hinaus in die Berge, zu einem längeren 
Spaziergange nach Buena Viſta Bar. 

Bald befinde ich mich auf einer dreihundert Schritt 
langen niedrigen Holzbrücke, welche den Elk Creek (Elkbach) 
überſpannt und Idaho City von Buena Viſta trennt. Das 
ſchlammige Bett des Elk Creek ſieht einer ſoeben von der 
Fluth entblößten Flußmündung ähnlich. Hunderte von 
trüben Strömungen durchkreuzen die Sandbänke nach ver— 
ſchiedenen Richtungen, die Ergüſſe hydrauliſcher Minen— 
waſſer aus den umliegenden Bergen und Schluchten. Eine 
an dreißig Fuß hohe Waſſerleitung läuft von der jenſeitigen 
Höhe quer über das ſeichte Gewäſſer und hoch hin über 
Idaho City, über Straßen und Häuſer, zum gegenüber 
liegenden Bergrand, — eine über eine halbe engliſche Meile 
lange hölzerne Rinne, die auf hohen Holzblöcken ruht. Das 
Skelett eines urweltlichen ungeheuren Hunderttauſendfüßlers 
müßte einen ähnlichen Anblick geben. 

Der Grund jenes unpoetiſch ausſchauenden Gewäſſers 
iſt mehr oder minder goldhaltig; die weiter oberhalb in 
ſeinen Thalgrund einmündenden Schluchten ſind durch die 
aus ihnen zu Tage geförderten Reichthümer berühmt ge— 
worden. Linker Hand liegt der breite Moore's Creek, in 


262 


den fih der Elkbach ergießt, und durch den alle Minen- 
gewäſſer des Boiſe Baſin (ſprich: Boiße, — der Minen⸗ 
diſtrict, von dem Idaho City der Centralort iſt) ihren Ab— 
fluß finden. Sein ſeichtes von dem Schlamme zahlreicher 
ausgewaſchenen Minen angefülltes Bett iſt dem des Elk 
Creek ähnlich und wie dieſes reich an Gold. Jenſeits des 
Moore's Creek erheben ſich waldige um dieſe Jahreszeit theil— 
weiſe ſchneegekrönte Bergzüge, an deren Abhängen zahlreiche 
kahle Baumſtämme lagen. Die Zweige benutzt man zu 
Böſchungen an Gräben, in denen das Waſſer an den Bergen 
herumgeleitet wird. Hohe Waſſerleitungen, ſogenannte „Te— 
legraphen“, auf langbeinigen Holzblöcken ruhend, traten an 
verſchiedenen Stellen aus dem Berge hervor. Glänzende 
Cascaden fielen aus den gegen das Thal gewendeten höheren 
offenen Enden der „Telegraphen“ herab. Hydrauliſche 
Schläuche ſind oben an den Holzrinnen befeſtigt, um den 
Grund des Berges durch gewaltigen Waſſerdruck, der ähn— 
lich wie eine Feuerſpritze, nur mit zwanzigfacher Kraft ar— 
beitet, bloßzulegen und die geldhaltigen Tiefen zu erreichen. 

Um in Flußbetten an den Grundfelſen zu gelangen, 
auf dem ſich in der Regel die reichſten Goldablagerungen 
befinden, wird der Fluß theilweiſe abgedämmt und darauf 
die Erde vermittelſt Strömungen, die durch Holzrinnen ge— 
leitet werden, fortgeſchwemmt. Wo der Fall des Waſſers 
zu gering iſt, um einen ſolchen Proceß mit Erfolg aus— 
führen zu können, muß die Erde in Schubkarren entfernt 
werden, eine ebenſo mühſame als koſtſpielige Arbeit. So— 
bald das Gold aus dem abgedämmten Flußgrund gewonnen 
iſt, läßt man das Waſſer wieder einſtrömen und dämmt 
einen neuen Theil des Flußbetts ab u. ſ. f. — Ein An⸗ 
recht auf goldhaltigen Boden wird ein „Claim“ genannt. 
Nimmt Jemand ein ſolches in Beſitz, deſſen Länge auf 
zweihundert Fuß beſchränkt iſt und das ſich quer über ein 


263 


Flußbett, eine Thalmulde ꝛc. ausbreitet, fo ſchreibt er feinen 
Namen nebſt einer kurzen Localbeſchreibung ſeiner Gold— 
kammer in spe auf ein Stück Papier und nagelt dies an 
den nächſten Baum oder an einen in die Erde gepflanzten 
Pfahl, was ihm ſein Eigenthumsrecht ſichert, bis beſagtes 
Document in der nächſten Gerichtsſtube zu Protocoll ge— 
nommen iſt. Die in ſolchen Handſchriften von den biederen 
Goldgräbern entwickelte Kalligraphie und Orthographie iſt 
in der Regel nicht minder bemerkenswerth als ihre Stiliſtik. 

Ich bin über die Brücke gegangen und betrete das 
goldene Buena Viſta, die Uferbänfe des Moore's Creek. 
Ein entſetzlich wüſtes Bild bieten die halb ausgewaſchenen 
zahlreichen Goldfelder, als ſei das ganze Land ſo zu ſagen 
unterſt zu oberſt gekehrt. Millionen von Hamſtern und 
Maulwürfen, auf einen Acker zuſammengedrängt, würden 
keinen ſolchen Unfug anrichten, als Waſſer, Picke und Schaufel 
hier gethan hatten. 

Langſam wanderte ich durch das Goldparadies. Schutt 
und Steinhaufen liegen in chaotiſchem Wirrwarr auf den 
durchwühlten Uferbänken, rauſchende Waſſer fließen nach 
allen Richtungen, bald in Holzrinnen und Gräben über— 
einander an den Bergabhängen herum, bald durch tief aus— 
gewaſchene Schluchten oder auf luftigen Holzböcken in Rinnen 
einander kreuzend hoch daher. Alle paar Schritt gewahre 
ich Miner, die in langen Gummiſtiefeln im fließenden Waſſer 
ſtehen, Erde und Kies in die Rinnen ſchaufeln und die 
loſen Steine mit Eiſengabeln aus dem ſchnell hinſtrömenden 
ſchlammigen Waſſer herauswerfen. 

Auf wackeligen Brettern ſchreite ich jetzt über breite 
Löcher, verlaſſe die Uferbank und ſteige rechter Hand einen 
Berg hinan, dem Brauſen gewaltiger Waſſer entgegen— 
gehend, das immer lauter herübertönt. Die nackten Stämme 
entwurzelter Eichen liegen, zerſplittert und halb zerſägt, 


264 


zwiſchen Haufen von Brettern zerſtreut am Boden da, und 
verfallene Minerhütten verſtecken ſich in den Bergſchluchten. 
Fließenden Waſſern begegne ich bei jedem Schritt. 

Das Waſſer iſt die lebendige Kraft, der Alles in einem 
Minenlande unterthan iſt. Die Eigenthümer der künſtlichen 
Waſſerläufe ſind die eigentlichen Herren jener Länder und 
die Goldwäſcher müſſen ihnen ſchweren Tribut entrichten. 
Oft find die Minengräben zwanzig und mehr engliſche 
Meilen lang. In der Regel wird das Waſſer von Bächen 
und Flüſſen in ihrem oberen Laufe abgedämmt und in 
Gräben an den Bergabhängen herum nach ſeinem Be— 
ſtimmungsorte geleitet; nicht ſelten laufen mehrere Gräben, 
einer über dem andern, an demſelben Bergabhange alle 
demſelben Ziele zu. Das Waſſer wird den Minern beim 
Zoll verkauft, worunter ein laufender Cubikzoll, der durch 
hydrauliſchen Druck regulirt wird, zu verſtehen iſt. Der 
Preis des Waſſers variirt zwiſchen fünfzehn und fünfzig 
Cents den Zoll für einen zwölfſtündigen Gebrauch bei Tage 
und die Hälfte davon bei Nacht. Das Waſſervolumen, 
welches jene Gräben halten, iſt ſehr verſchieden und beträgt 
von fünfundzwanzig bis zu tauſend Zoll und darüber. Die 
Goldwaſchrinnen in den Straßen von Idaho City ver— 
brauchten in vierundzwanzig Stunden etwa vierzig Zoll 
Waſſer; ein mittelſtarker hydrauliſcher Preßſtrom dagegen 
etwa hundertfünfzig Zoll, was, da die mächtigſten Ströme 
allemal die theuerſten ſind, eine Waſſertaxe von fünfund— 
zwanzig Dollars pro Tag ausmachen würde. Da nun ein 
Graben mehrere Rinnen und hydrauliſche Schläuche, bis zu 
ſeiner vollen Kapazität, mit Waſſer verſorgt, ſo leuchtet es 
ein, daß ein ſolcher, der etwa tauſend Zoll hält, ſo gut iſt 
und beſſer, als manche Goldmine. 

Auf dem nächſten breiten Bergabhange erblicke ich ſechs 
„Telegraphen“, von denen jeder mehrere hundert Schritt 


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lang iſt, neben einander herlaufen, die ſo zu ſagen aus 
dem Berge herausgebaut ſind. Rauſchend ſtrömt das Waſſer 
in den langen Holzrinnen auf den ſkelettartigen Böcken vom 
Berge her und fällt aus den offenen höchſten Enden ſchäu— 
mend in die Tiefe. Unter ihnen durchkreuzen in Gräben 
ſchnell fließende Gewäſſer die geneigte Ebene aus verſchie— 
denen Richtungen, alle dem Abhange zubrauſend. Am Ende 
eines der „Telegraphen“ machte ich Halt, von dem ein über 
hundert Fuß langer, gegen zehn Zoll dicker Schlauch tief 
herabhängt, eine rieſige Anaconda, die in allen Ringeln 
zuckt, wie ein lebendiges Ungeheuer. Aus dem metallenen 
Rohr am unteren Ende des Schlauches ſchießt ein faſt arm— 
dicker Waſſerſtrahl mit gewaltiger Macht hervor, wühlt 
tiefe Löcher in den Berg, ſchleudert Steine wie Spielbälle 
umher, zermalmt und zerpeitſcht Lehm, Erde und Sand, 
löſt ſie im Waſſer auf und treibt ſie nebſt kleinerem Stein— 
geröll in finſterer Fluth mit Macht in eine enge Schlucht. 

Es iſt ein hydrauliſcher Preßſtrom, der unter dem 
Druck einer hundert Fuß hohen Waſſerſäule den Berg fort— 
ſpült und dabei den goldhaltigen Boden auswäſcht. Die 
Arbeit von zweihundert fleißigen Menſchenhänden verrichtet 
er, mit nie ermüdender Kraft. Unausgeſetzt, bei Tag und bei 
Nacht, wühlt das rieſige Ungeheuer in den Berg und zerreißt 
ſeine Grundfeſten, gehorſam der ſchwachen Kraft eines ein— 
zelnen Menſchen. Von Kopf bis zu Fuß in einen Gummianzug 
gekleidet, ſteht dieſer in den ſtrömenden Fluthen, im umher— 
ſpritzenden Goldſtaub und leitet die Rohrmündung gegen 
die Bergwand. Oben am Abhange wurden Pfähle in die 
Erde geſchlagen, wo ſich Riſſe in ihr zeigen, um mit Hebe— 
kraft den ſich ablöſenden Maſſen nachzuhelfen. Gewaltige 
Schichten der vom Waſſer unterwühlten Erde ſtürzen ab 
und zu mit Getöſe in die Tiefe. Arbeiter ſind beſchäftigt, 
die größeren Steine an die Seite zu bringen, um dem 


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Waſſerſtrome mit der losgeſpülten und ſich darin auflöfen- 
den mehr oder weniger goldhaltigen Erde freien Abfluß zu 
verſchaffen. 

Im Thalgrund fließt der ſchlammige Strom mit reißen— 
der Schnelligkeit durch die Goldwaſchrinnen (sluice boxes), 
in denen das Gold aufgefangen wird. Die Rinnen ſind 
mit runden Blöcken oder mit Latten ausgeſetzt, zwiſchen 
welche Queckſilber geſchüttet wird. Das ſchwere Gold ſinkt 
aus der durch die Rinnen geſchwemmten goldhaltigen und 
zu einem Brei aufgelöſten Erde zu Boden, wo es ſich mit 
dem Queckſilber amalgamirt. Die leichtere Erde treibt 
weiter, und die Steine, welche in reißender Fluth über die 
Oeffnungen zwiſchen den Blöcken und Latten hinrollen, wer— 
den mit einer dichtgezahnten Eiſengabel gefaßt und aus den 
Rinnen herausgeworfen, damit ſie dieſelben nicht verſtopfen. 
Jede Woche oder zwei wird mit der Arbeit eingehalten. 
Die Blöcke oder Latten werden aus den Rinnen herausge— 
nommen, das Amalgam wird herausgebürſtet und das darin 
enthaltene Queckſilber in Retorten verdampft, bis das reine 
Gold erſcheint. Sind die Rinnen lang genug, ſo geht nur wenig 
Gold bei dieſem auf den erſten Anſchein ſehr oberflächlichen 
Proceß verloren. Bei zu kurzen Rinnen dagegen wird ein 
Theil des Goldes mit fortgeſpült, ehe es ſinken und ſich 
mit dem Queckſilber verbinden kann. Dieſer fogenannte 
Abfall (tailings) wird von Neuankömmlingen, meiſtens Chi— 
neſen, oft mit reichem Erfolge wieder vorgenommen, nach— 
dem die erſten Beſitzer ihren Minengrund verlaſſen haben. 
In den Boiſe⸗Minen, wo meiſtens feiner Goldſtaub ge— 
funden wird, benutzt man das Queckſilber allgemein zum 
Gewinnen des Goldes. In Minendiſtricten dagegen, wo 
das Gold grobkörnig iſt, kommt nur wenig Queckſilber zur 
Anwendung, und das Gold wird, wie die Natur es ge— 
ſchaffen hat, in den Rinnen aufgefangen. Der Goldgewinn 


267 


hängt natürlich ſowohl von dem Reichthum der Mine als 
von den Kräften ab, die zum Auswaſchen des goldhaltigen 
Bodens angewandt werden können. Von 1000 bis zu 5000 
Dollars iſt ein guter Durchſchnittsertrag für zwei Wochen 
hydrauliſcher Arbeit. Je höher die Waſſerſäule, welche den 
Druck ausübt, um ſo bedeutender iſt in gutem Minengrund 
in der Regel der Ertrag. Aus der Mine der Gebrüder 
White wurde in neun Tagen 13,000 Dollars Goldſtaub 
und einmal in demſelben Zeitraum das Doppelte gewonnen; 
im Granitbach, ſechs engliſche Meilen von Idaho City 
25,552 Dollars in zwei Wochen. Doch ſind dies Aus— 
nahmefälle. 

An ſiebzig Fuß hoch iſt die Bergwand, auf der ich 
ſtehe und das Schauſpiel der hydrauliſchen Minenarbeit be— 
trachte. Ein halbes Dutzend Waſſerſchläuche peitſchen ihre 
gewaltigen Waſſerſtröme gegen den Berg und wilde Gewäſſer 
ſtürzen vom Abhang, die mit dem aus den Schläuchen kommen— 
den Waſſer den künſtlichen Strom bilden, der die losgewaſchene 
Erde unten durch die Rinnen treibt. Unter mir öffnet ſich ein 
weiter, wüſt ausſehender Thalkeſſel, ehemals die Grundfeſte 
eines Berges, der bereits fortgeſchwemmt wurde. Große Stein— 
haufen, Schutt und Baumwurzeln liegen in ihm zerſtreut, 
tiefe Schluchten, durch welche brauſende Gewäſſer einen Aus— 
weg ſuchen, durchfurchen ihn nach allen Richtungen. Es 
iſt ein urwildes, lebendiges Bild, das man nicht müde wird, 
anzuſchauen. 

Mühſam und gefahrvoll iſt das Leben der Männer, 
welche ſich das wilde Element dienſtbar gemacht haben. 
Nicht ſelten ſtürzen Felſen mit zermalmendem Gewicht in 
die Tiefe und zerſchmettern den Arbeiter, oder es löſt ſich 
unverſehens eine breite Erdwand los und begräbt den leider 
oft zu unvorſichtigen Miner, wenn nicht gar der hydrau— 
liſche Waſſerſtrahl zufällig Einen trifft und ihn tödtet, als 


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jet er von einer Kugel getroffen worden. Tag und Nacht 
wird die Arbeit mit den Preßſtrömen fortgeſetzt, Nachts 
beim Auflodern rieſiger Kienholzfeuer, welche die wüſte Ge— 
birgslandſchaft unheimlich beleuchten, ſo lange als hinreichen— 
der Waſſervorrath vorhanden iſt, oder bis der erſtarrende 
Winter die Bäche in Eis verwandelt — und wie Grabes— 
ſtille tritt es plötzlich an die Stelle des wilden Aufruhrs. 

Grabesruhe — auch jetzt iſt ſie bei mir, hier, wo 
das Leben aus tauſend Frühlingsbächen mich umbrauſt. 
Ganz nahe blinken die weißen Steine des Friedhofs. Für— 
wahr, einen ſeltſamen Platz hat ſich die Goldſtadt erwählt 
als Ruheſtätte für ihre Todten! Auch mir liegt ein Freund 
dort begraben. Des Goldlands tückiſcher Schimmer lockte 
ihn her in ungaſtliche Bergwüſte vom fernen, friedlichen, 
grünenden Neckarſtrand, um hier ſein junges Leben zu be— 
ſchließen. Mögeſt du ſanft ſchlummern, mein Freund, im 
fremden Land, der du mit reichem Seitenſpiel mir oft in 
oregoniſcher Wildniß den goldgelockten Apoll zu Gaſt ge— 
laden haft!® — Ach! bald wird die Habgier der Menſchen 
jene Ruheſtätte in einen Ort des Schreckens umwandeln. 
Näher und näher rückt die Thalwand hinüber zum Friedhof, 
immer weiter zurückgedrängt von der Titanenkraft des ge— 
feſſelten Elements. Särge werden zerſchmetternd hinab— 
ſtürzen zwiſchen raſenden Fluthen und wüſtem, goldgeſchwän— 
gertem Felsgeröll, ihre bleichen Gebeine zerſtreut von den 
brauſenden Wogen. Doch wozu euch heraufbeſchwören, ver— 
zerrte Bilder der Zukunft! Iſt dieſes Land doch der Ge— 
genwart Land, wo aus goldenen Pocalen die Luſt über— 
ſchäumt und die Jugend ſich tummelt im fröhlichen Ueber— 
muth, Ernſt und Sorgen verſpottend! — 


* J. L. Geer, ſtudirte in Heidelberg und ſpielte die Zither 
meiſterhaft. Er ſtarb in Folge übermäßiger Strapazen auf einer 
Reiſe von Walla Walla nach Boiſe im Jahre 1864 in Idaho City. 


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Die länger werdenden Schatten mahnen mich zur Heim— 
kehr, und ſchon ſenkt ſich die Sonne hinter die weſtlichen 
Berggipfel. Ein Blick noch von der Höhe, ehe ich ſcheide! 
— Jenſeits des Elkbachs liegen im Thalgrund die neuen 
Häuſer von Idaho City zwiſchen ſchwarzen Ruinen; wie 
Silberbänder blinken rings an den Abhängen des weiten 
Bergkeſſels die langen Ströme der „Telegraphen“ und 
ſchweben hin und her, lichte Funken ausſprühend; die breiten 
Strombetten des Elk- und des Moore's-Creek ſchillern wie 
Flittergold; ſcharf gezeichnet ragen ſchlanke Fichten empor 
von den maleriſchen Bergkuppen in die blaue Luft, und die 
Schneefelder auf den Höhen überfliegt ein Goldhauch, des 
Tages Scheidegruß. Rauſchende Waſſer füllen die ſtille 
Abendluft mit momentanem Geräuſch und wiegen den Geiſt 
in ſinnende Träumereien. Ein donnernder Erdfall von der 
Bergwand unter mir, die das Schlangenungeheuer unter— 
wühlt hat, ſchreckt mich auf, und ich trete den Rückweg zur 
Stadt an, ehe die Dunkelheit mich überraſche. 

Bei eintretender Nacht überſchreite ich auf's Neue die 
lange Holzbrücke, welche den Elkbach überſpannt. Die 
Brücke iſt voll von Chineſen, die vom Tagewerk heimkehren, 
Jeder von ihnen eine Schaufel oder ein langes Bambus— 
rohr, an deren beiden Enden Gummiſtiefel, ſchwere Bündel 
und Minengeräthſchaften hängen, auf den Schultern balan— 
cirend. Im Gänſemarſche kommen die fremdartigen Ge— 
ſtalten mit kurzen elaſtiſchen Schritten daher und geben in 
ihrer tartariſchen Tracht ein originelles Bild. In der 
Hauptſtraße von Idaho City erſchallt aus neuen hellerleuch— 
teten Häuſern fröhliches Trinkgelag, und nebenan ſinken 
halbverkohlte Bretterwände in den Aſchenſtaub. Große 
Feuer von Menſchen umgeben, lodern inmitten der Straße 
empor. In den Höhlungen daneben flammen Fackeln, bei 
deren flackerndem Lichte fleißige Goldwäſcher, finſteren 


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Gnomen ähnlich, im rauſchenden Waſſer ſtehen, und emfig 
ſchaufeln und die Steine hoch empor ſchleudern aus der 
dunklen Fluth. Muſik und Jubel und fröhliches Tanz— 
geſtampf ſchallen aus ſchimmernden Sälen, wo leichtfertige 
Hurdy⸗Gurdys mit ausgelaſſenen, revolverumgürteten Gold— 
gräbern den Reigen ſchwingen und ungezügelte Luſt ſich 
tummelt. Hier und dort ſchlägt der Ton von fallenden 
Goldmünzen an das Ohr, wo in einer von Lampen ſtrah— 
lenden Halle, bei den Klängen von Banjos und Geigen, 
ein Schwarm von Minern, von Spiel und Getränken er— 
hitzt, ſich beim Pharao oder Monte um die grüne gold— 
beladene Tafel drängt. 

„Wie die Lieben in der Heimath erſtaunen möchten, 
machten ſie ſo einen nächtlichen Spaziergang durch die wüſten 
Gaſſen dieſer leichtſinnigen, eben erſt aus der Aſche wieder 
erſtandenen Goldſtadt!“ — ſolche Gedanken kamen mir in 
den Sinn, als ich langſam über die Schutthaufen und durch 
die hellerleuchtete Straße nach unſerer Wohnung zurück— 
kehrte, und dem Jubel horchte, der die Luft erfüllte mit 
bacchantiſchem Lärm. 


2. Ein Beſuch in Willow⸗Creek in Oregon. 


Seit Entdeckung der Goldminen von Californien hat 
jedes Jahr in den Minenländern am nördlichen Stillen 
Ocean wenigſtens ein epidemiſches Goldfieber aufzuweiſen. 
Aus allen Richtungen der Windroſe ſtrömen, ſobald die 
Fama oder die Landeszeitungen die Localität des neuent— 
deckten Goldlands auspoſaunt, Goldjäger bei Hunderten und 
bei Tauſenden dorthin, um ihr Glück zu ſuchen; Abenteurer 
aller Art und Kaufleute ſchließen ſich ihnen an; lange Züge 
von Packthieren, mit der ganzen Einrichtung einer nagel— 
neuen Stadt, mit Lebensmitteln und mit Werkzeugen zum 
Bearbeiten der Minen beladen, ſieht man, dicht aufeinander 
folgend, auf bis dahin nur von Indianern betretenen Pfaden 
durch die Urwildniſſe ziehen; in ſonſt ſtillen, einſamen 
Thälern und Gebirgsgegenden erſchallt das Geſchelte der 
Maulthiertreiber, und das Knallen von Büchſen und Re— 
volvern ſcheucht Wölfe, Bären und Antilopen aus ihren 
Schlupfwinkeln auf, und nicht ſelten miſcht ſich das Hurrah 
der Goldjäger mit dem hundegebellähnlichen Kriegsgeſchrei 
ergrimmter Rothhäute, welche den Bleichgeſichtern den un— 
berufenen Eintritt in ihre Wildnißheimath ſtreitig machen. 

An einer günſtigen Localität in dem neuentdeckten 
Minendiſtricte projectirt irgend ein ſchlauer Yankee eine 
Stadt mit pompöſem Namen und bietet Grundſtücke zum 
Verkauf aus; bald ſteht eine Bretterhütte da, worin Je- 
mand Schnaps verkauft, ein Reſtaurant ſchließt ſich dem 


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Tempel des Bacchus an, und ein ſtämmiger Sohn des Vulcan 
fabricirt daneben in einer Grobſchmiede Piken für die Gold— 
gräber und beſchlägt die ſtörriſchen Mauleſel, — und ehe 
zwei Monden vergangen, ſteht ein ſchmuckes Städtchen in 
der Wildniß da, mit eleganten Trinkſalons, Kaufmanns— 
häuſern, Hötels, Reſtaurationen, Hurdy-Gurdy-Tanzhäuſern, 
Spielhöllen, Billardzimmern u. ſ. w. In den umliegenden 
Schluchten und Thälern, an Flußläufen und Bächen bauen 
Goldgräber ihre Hütten und ſchaufeln goldhaltige Erde in 
ſchnell zuſammengezimmerte Goldwaſchrinnen und ſogenannte 
Wiegen, um den Mammon auszuwaſchen. Meilenlange 
Gräben werden an den Bergabhängen herumgeleitet, um 
das Waſſer irgend eines näher oder entfernter liegenden 
Fluſſes, den man an ſeinem oberen Laufe abzapft, nach den 
nöthigen Punkten zu leiten, wo man es zum Auswaſchen 
goldhaltiger Erde vortheilhaft verwenden kann, während 
Hunderte von Goldjägern, mit Schaufel, Pike und Gold— 
waſchſchalen verſehen mit Büchſe und Revolver zum Kampfe 
gegen die Indianer ausgerüſtet, täglich die Berge durch— 
ſtreifen, tiefe Löcher bis zum Grundfelſen graben und die 
ausgeworfene Erde an dem nächſten bequemen Waſſerlaufe 
oder in einer Pfütze in kleinen Quantitäten in Eiſenſchalen 
auswaſchen, um auszufinden, ob der Boden Gold in ge— 
nügender Menge enthalte, — ſogenannte „Proſpectors“, 
welche meiſtens am Abend in die Stadt zurückkehren und 
entweder wie Rohrſperlinge auf das Land ſchimpfen, wenn 
ſie nicht einmal die Farbe (nämlich des Goldes) in der 
Schaale gefunden, oder die fabelhafteſten Gerüchte von dem 
Reichthum eines neuentdeckten Claim circuliren und von 
Hunderttauſenden und Millionen reden, obgleich ſie nicht 
einmal im Beſitze eines zweiten Hemdes ſind. Im Falle 
in dem neuentdeckten Goldminendiſtrict wie nicht ſelten vor— 
kommt, alles, nur nicht Gold, zu finden iſt, und das Gold⸗ 


275 


fieber weiter nichts, als eine Geſchäftsunternehmung eines 
geriebenen Yankee und ein Schwindel reinſten Waſſers 
war, verſchwindet die neugebackene Stadt ebenſo ſchnell 
wieder vom Boden, wie ſie entſtand, die Rothhäute ſind 
wiederum die unumſchränkten Herren der Wildniß und die 
enttäuſchten Goldjäger ſchwärmen unter Verwünſchungen 
auf den Humbug, der ſie oft Hunderte von Stunden weit 
nach dem vorgeſpiegelten „Eldorado“ gelockt, durch das 
Land, um anderswo ihr Glück zu ſuchen. 

Das Frühjahr des Jahres 1868 hatte der wander— 
ſüchtigen Bevölkerung dieſer Länder zwei epidemiſche Gold— 
fieber gebracht, das eine das von den Sweet Water— 
Minen, im nordöſtlichen Winkel des Territoriums Utah, 
zwiſchen der Kette der Windflußberge und dem Südpaß in 
den Felſengebirgen gelegen, das andere das von den Willow 
Creek-Minen (Minen am Weidenbach), öſtlich von den 
Blauen Bergen im Staate Oregon. 

Als die Frühlingsſonne den Schnee von den Bergen 
bei Boiſe City zu ſchmelzen begann, in welcher Haupt— 
ſtadt des berühmten Goldlands Idaho ich im vergangenen 
Winter meinen Wohnſitz aufgeſchlagen, ſchien es, als ob 
die geſammte Bevölkerung dieſes Ultima Thule vom Gold— 

fieber angeſteckt ſei, und „Sweet Water“ und „Willow 
Creek“ waren in Jedermanns Munde. Auch ich ward von 
dem dazumal dort arg graſſirenden Goldtyphus angeſteckt 
und beſchloß einen kleinen Abſtecher nach dem nur 120 
engliſche Meilen von Boiſe City entfernten Willow Creek— 
Minen zu machen und der dort eben entſtehenden nagel— 
neunen Goldſtadt Eldorado City, von der die Fama 
das Wunderbarſte auspoſaunte, einen Beſuch abzuſtatten. 

Am 10. März, zwei Uhr Nachts, ſagte ich Boiſe City 
Lebewohl. Unſere erſte Tagereiſe, welche uns bis nach 
„Farewell Bend“ an den Schlangenfluß (snake river) 


18 


274 


brachte, 85 engliſche Meilen von Boiſe City, bot nicht viel 
Intereſſantes. Die Berge waren überall noch mit Schnee 
bedeckt und ſelbſt die fruchtbaren Thäler des Boiſe, Payette 
und Weſer, Nebenflüſſe des Snake, welche wir durchkreuzten, 
gaben ein einförmiges Bild, da die Jahreszeit zum Be— 
bauen der Felder noch zu früh war. Den an 200 Ellen 
breiten Schlangenfluß überſchritten wir am Ende unſerer 
Tagereiſe auf einer fliegenden Kettenfähre und nahmen am 
jenſeitigen Ufer in Old's Fährhauſe Quartier, als ſich die 
Schatten der Nacht eben auf die wilde Gebirgslandſchaft 
legten. 

Am nächſten Morgen beſtieg ich mit noch einem Reiſe— 
gefährten, einem Goldgräber aus Californien, auf's Neue 
unſer Gefährt, das uns von Old's Fähre direct nach Eldo— 
rado bringen ſollte. Da dies die erſte Poſtkutſche war, 
welche den Weg durch die Berge nach Willow Creek unter— 
nahm, ſo hatten wir uns mit Stricken, Beilen, Schaufeln 
und ähnlichen Werkzeugen wohl verſehen, um unvorherzu— 
ſehenden Schwierigkeiten zu begegnen und den Wagen ſicher 
durch die Wildniß zu lootſen. 

Wir verließen jetzt die Hauptlandſtraße, welche von 
Boiſe City über die Blauen Berge nach der Stadt Uma— 
tilla an den Columbia führt und ſteuerten hinaus in eine 
öde Gebirgslandſchaft. Von Baumwuchs war nirgends die 
Spur, und das verkrüppelte Salbeigeſtrüpp, welches die 
Berge bedeckte, und die damit abwechſelnden Schneefelder 
gaben der Landſchaft ein troſtloſes Ausſehen. Aber wir 
fuhren ohne beſondere Schwierigkeiten in den aufeinander— 
folgenden Thalmulden hin. Nur dreimal blieben wir in 
Sumpflöchern ſtecken und waren gezwungen, den Wagen los— 
zuſchaufeln und auf höheres, feſtes Terrain zu ziehen. Gegen 
Mittag ſahen wir von einem Bergrücken die breite Niede— 
rung des Willow Creek, an deſſen oberem Laufe die neu— 


275 


| 
entdeckten Goldminen liegen, vor uns und langten bald dar— 
auf bei dem ſogenannten „Felſenhaus (rock house)“ an. 

Das Felſenhaus war die Wohnung von ſechs Jung— 
geſellen, welche ſich beſonders mit dem Einſammeln von Heu 
beſchäftigten, das in den Niederungen am Willow Creek in 
Hülle und Fülle wuchs. Das Heu verkauften ſie für die 
Kleinigkeit von hundert Dollars für die Tonne (20 Centner), 
und von den tagtäglich in Menge vorbeipaſſirenden Fuhr— 
leuten und Goldjägern nahmen ſie für Logis und Mahl— 
zeiten manchen „ehrlichen Pfennig“ ein. Bereits vor vier 
Jahren hatten ſie ſich hier angeſiedelt, ganz allein inmitten 
feindlich geſinnter Indianer, mit denen ſie manches intereſſante 
Scharmützel zu beſtehen gehabt. Die Schießſcharten in den 
dicken Wänden des Felſenhauſes und die dort befindlichen 
zahlreichen Hinterladungswaffen neueſten Muſters, Patronen, 
Pulverflaſchen u. ſ. w. ſprachen deutlich genug, daß dieſes 
nicht eine Stätte des Friedens ſei. 

Nachdem wir hier einem raſch beſchafften Diner alle 
Ehre angethan und unſeren Wirthsleuten als üblichen Preis 
dafür einen Dollar in Goldſtaub ausgewogen, ſagten wir 
dem Felſenhauſe Lebewohl. 

Gegen Abend kamen wir bei gutem Wetter an den 
Willow Creek; aber als wir weiter fuhren, fing es heftig 
an zu ſchneien, und bei einbrechender Nacht ſtrich ein eiſiger, 
ſcharfer Wind über die öden Berge und trieb den feinen, 
haldgefrorenen Schnee uns ins Geſicht. Aengſtlich ſpähten 
wir deshalb nach den Gaslichtern von Eldorado City. End— 
lich gewährten wir linker Hand ein Licht, das abwechſelnd 
aufflackerte und erloſch. Der Kutſcher vermuthete, daß das 
Licht in Eldorado City ſei und erbot ſich, auf Recognos— 
cirung hinzugehen, wenn wir beiden Paſſagiere den Wagen 
bis zu ſeiner Rückkehr bewachen wollten, worin wir ein— 
willigten. 


18 * 


276 


Faſt eine Stunde lang blieben wir in dem Schnee— 
ſturm mit dem Wagen allein. Endlich kam der Fuhrmann 
zurück und brachte die frohe Nachricht, daß wir nur eine 
Viertelſtunde von Eldorado City entfernt ſeien; er hätte ſich 
erſt noch ein Bischen mit einem heißen Whiskypunſch er— 
wärmt und hoffte, daß uns das Warten nicht zu lange 
gedauert. 

Wacker hieb er nun auf das Viergeſpaun ein und raſch 
fuhren wir quer durch den Schnee, den Berg hinunter 
und dem erſehnten Goldhafen entgegen. Plötzlich ver— 
ſchwanden die beiden Vorderpferde in der Erde. Wir 
wähnten im erſten Schrecken, daß die Gäule über einen 
Felsabhang geſtürzt, und ſprangen kopfüber vom Wagen in 
den Schnee, da wir fürchteten, daß die Deichſelpferde mit 
der Stange den Vorderpferden im nächſten Augenblick in 
die unbekannte Tiefe folgen würden. Im Nu hatten wir: 
die Stränge abgeſchnitten und riſſen die Deichſelpferde am 
Rande eines ſchwarz aufgähnenden Minenſchachts herum, im 
welchen die Vorderpferde hinabgeſtürzt. Die lebendig be— 
grabenen Thiere nothgedrungen vorläufig ihrem Schickſal 
überlaſſend, fuhren wir vorſichtig um den Schacht herum 
und erreichten endlich glücklich die erſehnte Goldſtadt. 

Mehr als ein Dutzend Häuſer konnte ich bei dem Schnee— 
geſtöber in Eldorado nicht entdecken und war froh, als wir 
das Nevada Hötel erreichten, ein elendes Bretterhaus, 
das ausſah, als ob der Wind es jeden Augenblick um— 
werfen könnte. Das räucherige Gaſtzimmer war gedrängt! 
voll von einer Geſellſchaft lärmender Goldgräber, von denen, 
die meiſten ſofort hinauseilten, ſobald ſie von dem Mißge— 
ſchick vernahmen, das uns betroffen, um die Pferde womöglich 
aus dem 28 Fuß tiefen Minenſchacht zu retten. Dieſe Mühe— 
war jedoch vergeblich, da beide Pferde den Hals gebrochen 
hatten. 


277 


Nach eingenommenem Abendeſſen verfügte ich mich 
treppauf, um mir ein paſſendes Nachtlogis zu ſuchen. Von 
Betten war im Nevada Hötel keine Rede, und hatte ich 
ſolche in Eldorado auch nicht erwartet. Jeder Reiſende 
in dieſen Ländern führt ſeine Wollendecke bei ſich, und ich 
hatte mich, ehe ich die Reiſe antrat, noch mit einer extra 


waſſerdichten Gummidecke und mit einem Kopfkiſſen verſehen, 


ſo daß ich in Bezug auf Bettzeug mich in beſſeren Um— 
ſtänden befand, als die meiſten Goldtouriſten. 

Bald fand ich neben der warmen Ofenröhre, die vom 
unteren Gaſtzimmer quer durch den Dachſtuhl lief, ein zu— 
trauliches Plätzchen, das ich ſofort in Beſchlag nahm. An 
der anderen Seite der Ofenröhre hatten ſich eine ſpaniſche 
Donna und ein Greaſer (Schmutzpelz, d. h. Mexikaner) 
einquartirt, die ſich in einer Fülle von „Carachos“ und 
„Carambas“ ergingen, wenn der Wind ihnen den Schnee 
durch das löcherige Dach ins Geſicht trieb. 


„Buenos dias, Senor!“ — rief eine heiſere Baß— 


ſtimme mir von der anderen Seite der Ofenröhre zu, als ich 


am Morgen des 12. März anno Domini 1868 auf dem 
Dachboden des Nevada Hötels in Eldorado City erwachte. 
Die heiſere Baßſtimme gehörte der ſpaniſchen Donna an, 
deren flüchtige Bekanntſchaft ich Abends zuvor gemacht. 


Beſagte Donna lag in Eldorado der edlen Kunſt des Wahr— 


ſagens ob und lüftete den biederen Goldgräbern für die 


[Kleinigkeit von füuf bis zehn Dollars in ſchnödem Gold— 


ſtaub vermittelſt Kartenſchlagens die Schleier der Zukunft. 

Den freundlichen Morgengruß der reizenden Donna 
haſtig erwidernd, erhob auch ich mich von meinem Lager, 
ſchüttelte den Schnee ab und verfügte mich ſchleunigſt her- 
unter in das räucherige Gaſtzimmer des Hötels. 


278 


Meine nächte Sorge war, mir ein beſſeres Quartier 
zu verſchaffen als das Nevada Hötel, wo die Küche ein ge— 
treues Seitenbild von dem Schlafſtellendepartement bildete. 
Ein ſolches fand ich auch bald bei einem Geſchäftsfreunde, 
der in einer Bretterbude von zwölf Fuß im Geviert die bie— 
deren Goldgräber für Goldſtaub mit Werkzeugen zum Minen— 
bau, mit Kleidungsſtücken, Erbſen, Speck, Mehl, Whisky, 
Taback und ſonſtigen Lebensbedürfniſſen verſorgte und gleich— 
zeitig den Koch für ſich und feine zahlreichen Gäſte ſpielte. 

Unter der Leitung meines freundlichen Wirthes nahm 
ich Eldorado City und ſeine Umgebung zunächſt etwas näher 
in Augenſchein. Ich zählte dreizehn Häuſer in der 
Goldſtadt, eine Zahl, welche die Fama in Boiſe City be— 
reits auf 300 vermehrt hatte. Die bis jetzt noch namen— 


loſen Straßen waren von Koth und halbgeſchmolzenem 


Schnee faſt grundlos, und die umliegenden nackten Hügel 
gaben im winterlichen Kleide ein nichts weniger als idylli— 
ſches Bild. Die banditenähnlich ausſehende Bevölkerung 
dieſes berühmten Goldhafens hatte ſich meiſtens in den 
Whiskykneipen concentrirt, wo die lärmende Unterhaltung 
ſich um den fabelhaften Werth von unerforſchten Claims 
drehte und man von Zehntauſenden ſprach, als ob jeder 
nach Belieben Schätze aus den umliegenden Hügeln und 
Schluchten herausſchaufeln könnte. Binnen einer Viertel- 
ſtunde wurden mir mindeſtens zwei Dutzend Claims zum 
Verkauf angeboten und zwar zu den beſcheidenen Preiſen 
von je 2000 bis 20,000 Dollars — und darüber. Ich 
lehnte dieſe freundlichen Anerbietungen jedoch freundlich ab 
und entſchuldigte mich damit, daß ich mich erſt etwas mehr 


in Eldorado umſehen müſſe, ehe ich, wie ich beabſichtigte, ein 
paar tauſend Dollars in Claims anlegen könnte. Dieſe bes 
ſcheiden gemachte Erklärung und mein im Vergleich zu der 


Bevölkerung von Eldorado ariſtokratiſches Aeußere ſtempelten 


| 


279 


mich ſofort zu einem Kröſus und öffneten mir die Herzen 
aller anweſenden Claimſpeculanten und Whiskytrinker. 

Die Unterhaltung mit meinen neuen Freunden drehte 
ſich zunächſt um die in der Nähe der Stadt liegende gold— 
haltige „Klapperſchlangenſchlucht“. Dieſelbe hattei hren 
Namen von den zahlloſen dort hauſenden Klapperſchlangen 
erhalten, welche den Jagdluſtigen in Eldorado für den kom— 
menden Sommer viel Vergnügen in Ausſicht ſtellten. Andere 
fabelhaft reich ſein ſollende Bäche und Schluchten, die alle 
in den Willow Creek münden oder mit demſelben verzweigt 
find, waren Shaſta- und Rich-Creek, Quarz-Gulch, Jones— 
und Willtams-Flat und eine ganze Legion von Gulches 
(Thalmulden), die alle wohlhabende Käufer ſuchten. Kleine 
Quantitäten von allerliebſtem Goldſtaub (Dust), die ich ſah, 
gaben den augenſcheinlichen Beweis, daß der koſtbare Mam— 
mon in den Hügeln, Bächen und Schluchten um Eldorado 
keine Mythe ſei; aber ich erfuhr bald, daß es an Waſſer 
fehlte, um die Minen auszubeuten. 

Für die Willow Creek-Minen war der Burntfluß, 
ein Nebenfluß des Snake, die nächſte nie verſiegende Waſſer— 
quelle in spe zum unentbehrlichen Waſſerbedarf. Der 
große Graben daſelbſt, von dem die Zeitungen ſo viel 
Redens gemacht, konnte aber, wie ich hörte, ſchwerlich in 
dieſem Jahre fertig werden. Obgleich der Burntfluß in 
gerader Richtung nur ſechs engliſche Meilen von Eldorado 
entfernt iſt, wird genannter Graben doch eine Länge von eini— 
gen achtzig engliſchen Meilen haben, um das Waſſer jenes 
Stromes an den zwiſchen ihm und Eldorado liegenden 
Bergzügen herum und an ſeinen Beſtimmungsort zu leiten. 
Die Koſten zum Bau dieſes Mammuthgrabens werden auf 
100,000 Dollars veranſchlagt.“ 


* Der „große Graben“ wurde im Jahre 1873 fertig und 
hat 120,000 Dollars gekoſtet. 


280 


Während meines faſt vierwöchentlichen Aufenthaltes 
in Eldorado fand ich volle Gelegenheit, das Leben in dieſem 
berühmten Goldhafen recht gründlich kennen zu lernen. 
Faſt täglich langten kleinere und größere Geſellſchaften 
von Goldjägern an, welche die Fama oft aus Hunderten 
von Stunden weiter Entfernung hergelockt hatte. Die 
meiſten dieſer Herren vom Revolver, von der Picke und 
Schaufel verließen Eldorado faſt eben ſo ſchnell wieder, 
als ſie hergekommen, nachdem fie ſich überzeugt, daß bein 
dem Mangel an Waſſer in dieſem Jahre kein Glück zu 
finden ſei. 

Die bitter enttäuſchten Goldjäger waren fleißige Be— 
ſucher der Whiskykneipen, wo ſie ihre Sorgen todt tranken, 
und Abends namentlich ging es in den größeren Trinkſalons 
flott her. Eine Einnahme von 200 Dollars an einem 
Abend war in dieſen Tempeln des Bacchus nichts Seltenes. 

Im Hintergrunde des größten der Eldoradotrinkſalons 
klapperten Silber- und Goldſtücke auf den Spieltiſchen, an 
denen ſich die Goldgräber beim Monte oder Pharao amü— 
ſirten. In einer Ecke des Zimmers ſaßen vor einer langen 
Reihe von Whiskytonnen ein Banjo- und ein Geigenſpieler 
und kratzten ohrzerreißende Melodieen von den Seiten her— 
unter, während nicht weit davon ein Haar- und Barbier- 
künſtler ſolche der Gäſte verſchönerte, die mehr auf elegantes 
Aeußere als auf einen Dollar ſchnöden Willow Creek-Gold— 
ſtaubes hielten. Der entſetzlich ſchlechte Whisky an der 
Bar verſetzte manchen der Salongäſte in die wildeſte Auf— 
regung, und mitunter ertönten Revolverſchüſſe, welche be— 
ſonders Luſtige im Uebermaß der Freude zum Spaß ge— 
gen die baumwollene Stubendecke abfeuerten. Nach Mitter— 
nacht verwandelte ſich der Trinkſalon in ein Bivouac; die 
Goldtouriſten ſtreckten ſich, jeder in ſeine Wollendecke ge— 
hüllt, im romantiſchen Durcheinander auf den Fußboden hin 


281 
oder machten ſich's auf Tiſchen und Stühlen bequem, jeder 
mit einem geladenen Revolver oder mit einer Henry-Büchſen 
unterm Kopfkiſſen oder an der Seite, und viele modulirten 
bereits ſonore Baßlieder in Dur und Moll und träumten 
von ganzen Bergen von Gold, während andere erſt zu 
trinken anfingen. | 

Gemüthlicher und gefitteter ging es Abends in der 

Wohnung meines Geſchäftsfreundes zu, bei dem ich Quar— 
tier genommen, und wo ſich nach des Tages Laſt und Mühen 
ein Häuflein Auserwählter verſammelte, um der geſelligen 
Freude zu pflegen. Da Stühle in unſerem Store unbe— 
kannte Größen waren, ſo machte es ſich die Geſellſchaft 
den Umſtänden nach auf Wollendecken, Ballen, Fäſſern, 
Kiſten und Kaſten bequem, Abenteuer wurden der Reihe 
nach vorgetragen, und wenn ein Gläschen Kirſchbrandy oder 
Eierpunſch die Zungen einiger anweſenden alten californi— 
ſchen Goldjäger gelöſt, ſo wurden dieſe Vorträge öfters 
höchſt intereſſant. 

Bei dieſen geſelligen Zuſammenkünften bildeten die 
„Goldminen vom blauen Eimer“, welche ein glänzendes, 
unerfaßbares Traumbild, die goldene Fata Morgana jedes 
Goldjägers in Oregon ſind, ein Unterhaltungsthema von 
ſtets neuem Reiz. Was war Willow-Creek, was Boiſe 
in Vergleich mit jenen Minen, wo die alten Emigranten 
das gediegene Gold eimerweiſe aufgeleſen hatten! Eine 
wahre Schande, hier in Eldorado bei Tage ein paar lumpige 
Unzen Gold auszuwaſchen und Abends ſchlechten Whisky 
zu trinken, indeß man vielleicht jene berühmten „Diggings“ 
wieder entdecken und dort das Gold wie Kieſelſteine auf— 


* Henry rifle, eine in den Goldländern beliebte Waffe, welche 
mit 18 Schuß, die man ſchnell nach einander abfeuern kann, auf 
einmal geladen wird. 


282 


ſammeln könnte!“ — Wenn die Geſellſchaft ſich entfern 
hatte, jo pflegte unſer engerer Familienkreis, beftehent 
aus ſechs Junggeſellen, ſich im Store für die Nacht zi 
verſchanzen. Um es unberufenen Eindringlingen im Dunkel 
unmöglich zu machen, unſer im Hintergrunde des Ladens 
auf dem Eſtrich gemachtes Lager geräuſchlos zu erreiche 
und unter unſeren Wolldecken und Mantelſack-Kopfkiſſen 
Rekognoscirungen nach Goldſtaubbörſen zu unternehmen 
wurde der ganze Vordertheil des Store's ſo zu ſagen mi 
ſpaniſchen Reitern ausgeſetzt. Dieſelben beſtanden aus eine 


* Ein paar Worte über die „Goldminen vom blauen Eimer! 
(blue bucket diggings), auch die Emigranten-Diggings genannt, wer 
den dem Leſer von Intereſſe ſein. Dieſelben ſind, wie geſagt, ein 
verloren gegangene Entdeckung, womit es ſich folgendermaßen verhält 

„Im Jahre 1845 zog eine Karavane von etwa tauſend Emi 
granten mit zahlreichen Fuhrwerken, Pferden, Vieh ꝛc. vom Miſſouri 
fluß überland nach dem Willamettethal im weſtlichen Oregon 
Zwiſchen dem Schlangenfluß und den Blauen Bergen in Oregor 
kamen fie an einer Stelle vorbei, wo ein ihnen unbekanntes gelbe: 
Metall in kleinen Stücken auf dem Boden zerſtreut dalag. Das 
Metall war weich und ließ ſich auf den eiſernen Radreifen de: 
Fuhrwerke leicht mit Steinen breitſchlagen. Einige Emigranter 
ſammelten davon einen blau angemalten Waſſereimer voll zuſammen 
warfen das unnütze Zeug, als zu ſchwer zum Transport, aber bali 
wieder fort.“ — 

Als in Folge der im Jahre 1848 erfolgten Goldentdeckunger 
in Californien ſich Schwärme von Abenteurern über die Küftenlände: 
am nördlichen Stillen Ocean verbreiteten, um nach Gold zu ſuchen 
hörten einige derſelben von dieſem Funde der Emigranten. Mi 
Blitzesſchnelle verbreitete ſich die Nachricht davon unter den Gold 
jägern. Das unbekannte weiche gelbe Metall, das man mit Steiner 
auf den Radreifen aushämmern konnte, mußte natürlich Gold ge 
weſen fein, denn, — was hätte es ſonſt fein können? Daß di 
Emigranten daſſelbe nicht für Gold anſahen, war leicht erklärlich 
im Jahre 1845 hatte noch Niemand etwas von Goldentdeckunger 
an dieſer Küſte gehört, und die Emigranten unterſuchten ihren Fund 
nicht genauer. Aber Gold mußte es geweſen fein, das war klar wi 


283 


Unmaſſe von Blechgeſchirr, nebſt Gläſern, Flaſchen, Koch— 
öfen, Töpfen, Kaffeekannen, Schaufeln, Bratpfannen, Waſch⸗ 
ſchüſſeln, Eimern ꝛc., zwiſchen welchen hindurch ſelbſt der 
ausgebildetſte Spitzbube nicht ſeinen Weg im Dunkeln, ohne 
Lärm zu machen, gefunden hätte. Da jeder von uns 
Schlafenden eine geladene Büchſe oder Doppelflinte neben 
ſich liegen hatte und nach einem im Finſtern zwiſchen den 
ſpaniſchen Reitern Umherſtolpernden ſofort geſchoſſen hätte, 
ſo wurde unſer Nachtquartier, deſſen unangreifbare Lage allen 
Eldoradoern bekannt war, begreiflicherweiſe nie beunruhigt. 


die Sonne! Das verloren gegangene Dorado erhielt nach dem erſten 
Eimer voll Gold, welchen die Emigranten dort aufgeſammelt haben 
ſollten, den poetiſchen Namen „Goldminen vom blauen Eimer“. 

Seit einem Vierteljahrhundert durchſtreifen nun in jedem Som— 
mer kleinere und größere Geſellſchaften von „Proſpectors“ die Wild— 
niſſe des öſtlichen Oregon, um die Goldminen vom blauen Eimer 
wieder zu finden. Man ſuchte ſowohl von Oſten als von Weſten 
her die Spuren der großen Emigrantenkaravane; ihre Marſchroute 
ließ ſich an altem Eiſen, Ueberbleibſeln von Bivouaes, Radgeleiſen ꝛc. 
von Oſten her bis an den Malheur- (ein Nebenfluß des Snake), 
von Weſten her bis an den Crooked-Fluß (ein Nebenfluß des John 
Day, welcher oberhalb der Dallesfälle in den Columbia mündet) 
mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen. An beiden genannten Flüſſen 
hörten aber die Spuren von der Emigrantenkaravane ganz auf, ohne 
daß man bis dorthin das Gold, welches wie Kieſelſteine offen da— 
liegen ſollte, gefunden hatte. Die „Goldminen vom blauen Eimer“ 
mußten nothwendigerweiſe auf der Strecke zwiſchen dem Malheur— 
und dem Crooked-Fluß liegen. 

Dieſes Land war eine pfadloſe Wüſte, und befindet ſich noch 
heute zum größten Theil im Urzuſtande; außerdem liegen dort die 
Jagdgründe der blutdürſtigen Schlangen-Indianer, welche den gold— 
ſuchenden Bleichgeſichtern jeden Fußbreit Boden in ihrer Heimath 
ſtreitig machten und erſt im Herbſt 1868 mit den Weißen Frieden 
ſchloſſen. Hierzu kam die große Ausdehnung des Landſtrichs in 
welchem die Goldminen vom blauen Eimer verborgen liegen ſollten, 
ein Land, das ſich etwa 180 engliſche Meilen von Oſt nach Weſt 
und gegen 200 euglifche Meilen von Süden uach Norden erſtreckt. 


284 


Ueber die Willow Creek-Goldminen wurden mir, wäh— 
rend meines Aufenthaltes in Eldorado, ſelbſtverſtändlich die 
genaueſten Erörterungen gegeben. Ich erfuhr, daß man 
das erſte Gold im Schaſtabach bereits vor vier Jahren 
entdeckte, daß die Miner aber wiederholt durch Indianer 
von ihrer Arbeit verjagt worden wären. Noch im ver— 
gangenen Herbſte hatten kleine Abtheilungen von Gold— 
gräbern im Bach goldhaltige Erde ausgewaſchen, während 
ihre Kameraden oben auf dem Berge die Indianer mit 
Henrybüchſen in reſpecktvoller Entfernung hielten. 


Trotz aller einer gründlichen Erforſchung ſich entgegenſtellenden 
Schwierigkeiten wurde dieſes Land Jahr aus Jahr ein von Aben— 
teurern durchſtreift, welche den tauſendfachen Gefahren der Wildniß 
trotzten und ſich mit den Indianern herumſchlugen, in der Hoffnung 
die Goldminen vom blauen Eimer dort zu entdecken. Keine von 
ihren Hoffnungen hat ſich aber bis jetzt erfüllt; nicht einmal die 
Spur von der großen Emigrantenkaravane hat man dort wieder— 
finden können. 

Es iſt ein ſchwieriges Unternehmen, die Spur einer ſolchen 
Karavane nach langen Jahren zu entdecken. Nicht nur hat die Zeit 
dieſelbe verwiſcht und haben ſowohl Elemente als Indianer etwaige 
Ueberbleibſel und Zeichen von Bivouaes zerſtört oder weggeführt, 
auch ihre Marſchroute durch die Wildniß war eine ſehr unbeſtimmte. 

Die erſten Emigrantenkaravanen, welche dieſes damals noch nie 
von einem Weißen betretene Land durchzogen, folgten in der Regel 
den indianiſchen Fußwegen (Indian trails). Dieſe ſind auf dem 
Kamm von Höhenzügen, welche nicht ſelten dichtbewaldet ſind, an— 
gelegt. Die Rothhäute vermeiden mit ihren Fußwegen ſtets die 
Thäler ſo viel als möglich, weil ihnen beſonders an einer freien 
Umſchau gelegen iſt, um ſich vor Ueberfällen ſicher zu ſtellen. Ein 
indianiſcher Fußweg folgt dem Kamme eines Höhenzuges ſo lange 
ſich dieſer einigermaßen nach der gewünſchten Himmelsgegend hin— 
zieht; führt die Bergkette nach einer gar zu falſchen Richtung, ſo 
wird der indianiſche Fußweg einen geraden Uebergang quer durch 
das nächſte beliebige Thal nach einem anderen günſtiger gelegenen 
Höhenzuge einſchlagen, dem er dann, immer oben auf dem Berg— 
rücken hinlaufend, wieder treu bleibt. Um das Verfolgen einer 


285 


Den Erzählungen meiner Eldoradofreunde nach zu 
ſchließen, iſt das ganze öſtliche Oregon, von den Blauen 
Bergen bis zum Schlangenfluſſe, Eine Goldmine und würde, 
könnte man nur das unumgänglich nothwendige Waſſer her— 
beiſchaffen, bald ſelbſt Californien zur Zeit ſeines Glanzes 
in den Schatten ſtellen. Auf einem Umkreiſe von Hunderten 
von Meilen kann man faſt nirgends eine Schale voll Erde 
auswaſchen, ohne die Farbe zu finden, worunter ein oder 
ein paar diminutive Goldflitterchen zu verſtehen ſind. Ein 
im Goldwaſchen Uneingeweihter möchte erſtaunen, wie gering 


alten Spur von einer Emigrantenkaravane zu erſchweren, kommt 
noch der Umſtand, daß dieſe nicht immer die Richtung der indiani— 
ſchen Fußwege einhält, ſondern mitunter der Bequemlichkeit halber 
ſich in den Thälern hinzieht, und ſo oft wie ſinnlos nach allen Rich— 
tungen der Windroſe herumläuft. 

Nach Jahrzehnten die nur einmal gemachte Marſchroute einer 
ſolchen Karavane in der Wildniß zu finden, grenzt an die Unmöglich— 
keit. Doch haben die Goldjäger noch keineswegs die Hoffnung dazu 
aufgegeben, um dadurch die Goldminen vom blauen Eimer wieder 
zu finden. Im Sommer 1868 glaubte man unter der Führung 
eines alten Emigranten, am Stein's-Gebirge, etwa 115 engliſche 
Meilen ſüdlich von Canyon City, endlich auf der rechten Spur zu 
ſein; wiederum aber lief alles auf eine Täuſchung hinaus. 

Die Ausdauer eines ſolchen Suchers der Goldminen vom blauen 
Eimer iſt geradezu unverwüſtlich, nicht weniger als ſeine Hoffnung, 
das goldene Ziel zu finden; zufällige Fünde in der Wildniß — ein 
altes Stück Eiſen, ein mit der Axt gefällter Baum, irgend ein Stück 
gedrechſeltes Holz, ein Ochſenhorn, ein Pferdeknochen, oder beſſer 
noch eine Gegend, wo der Boden mehr oder weniger goldhaltig iſt 
— geben ihr ſtets neue Nahrung. Auch liegen reiche Golddiſtricte 
in jener Wildniß wie Oaſen zerſtreut, ſo daß die Goldminen vom 
blauen Eimer dort durchaus nicht zu den Unmöglichkeiten gehören, 
z. B. die von Canyon Creek, Marysville, am John Day, am Olive 
Creek, bei Auburn, am Pulverfluß, im Mormon-Baſin und Rye 
Valley, am Willow Creek, Burntfluß 2c. aber keine von allen dieſen 
kann nach der Beſchreibung der Emigranten das verloren gegangene 
Goldparadies „vom blauen Eimer“ ſein. 


286 


jelbft bei reichen Minen die Quantität des in der Erde 
vertheilten Goldes iſt. Ein bis zwei Cents Goldſtaub zur 
Goldwaſchſchale — etwa ein Eimer voll —, was in ge— 
nanntem Landſtrich auf Tauſenden von Plätzen zu finden 
iſt, zahlt mit genügendem Waſſervorrath in Goldwaſch— 
rinnen von acht bis zu zehn Dollars jedem Arbeiter pro 
Tag. Eine Schale voll Erde mit drei Cents Gold darin 
zahlt in einer Wiege, worin ein Mann etwa hundert Eimer 
oder Schalen voll Erde pro Tag auswaſchen kann, drei 
Dollars pro Tag. Da aber der Tagelohn hier zu Lande 
ſechs Dollars iſt, ſo wird ein Claim, das weniger als vier 
bis ſechs Dollars pro Tag einbringt, nicht bearbeitet und 
bleibt unbenutzt liegen, bis vielleicht in ſpäteren Jahren die 
mit geringerem Gewinn zufriedenen Chineſen, denen gegen— 
wärtig das Bearbeiten von Minen hier nicht geſtattet iſt, 
an Stelle der Weißen treten werden, oder der Tagelohn 
geringer wird, um auch den Weißen das Bearbeiten eines 
ſo armen Bodens zahlend zu machen. 

Der goldhaltige Boden liegt in den Willow Creek— 
Minen meiſtens ſehr tief, von vier bis zu ſechzig Fuß tief 
auf den Grundfelſen, und die obere Erde muß fortgeſchafft 
werden, um den ſogenannten Zahlgrund zu erreichen, 
was bei dem allgemeinen Mangel an Waſſer die Bearbei— 
tung dieſer Minen außerordentlich ſchwierig macht. Trotzdem 
hörte ich faſt jeden Abend von neuen Goldentdeckungen. 
Ein Proſpector hatte z. B. einen Bit (122 Cents) in einer 
Goldwaſchſchale gefunden, ein anderer vielleicht vier Bit 
(ein halber Dollar), und ein dritter, der ſich für den Glück— 
lichſten aller Sterblichen hielt, einen Dollar, wogegen an— 
dere die Diggings verwünſchten, da ſie trotz aller Be— 
mühungen nie mehr als die Farbe hatten finden können. 
Drei größere Goldſtücke, die einen Werth von reſpective 
16—29 und 49 Dollars hatten, welche man während der 


287 


Zeit meines Aufenthaltes in Eldorado an demſelben Tage 


in verſchiedenen Schluchten fand, veranlaßten in der Stadt 


eine wilde Aufregung, und auch in unſerer Wohnung ward 
das wichtige Ereigniß mit einer Extraauflage von Eierpunſchen 
gebührend gefeiert. Willow Creek erfreute ſich an jenem 
unvergeßlichen Abende des einſtimmigen Lobes aller An— 
weſenden, und die Claims ſtiegen ſofort drei bis vierhun— 
dert pro Cent im Werth. 

Das Leben in Eldorado war im allgemeinen eben 
nicht das friedfertigſte, wie man es in einer neu entſtehen— 
den Minenſtadt, deren Bewohner der überwiegenden Mehr— 
zahl nach Abenteurer und ſchlechte Subjecte ſind, kaum 
anders erwarten konnte. 

Eines ſchönen Morgens ward die Stadt durch mehrere 
ſchnell aufeinanderfolgende Piſtolenſchüſſe alarmirt. Zwei 
Goldgräber, die über das Prioritätsrecht eines Claims in 
eine Meinungsdifferenz gerathen waren, ſuchten ihre Con— 
troverſe durch einen Kampf mit ſechsſchüſſigen Marine— 
revolvern zu ſchlichten. Die Combattanten, welche ein— 
ander auf offener Straße angriffen, wo wenigſtens ein 
halbes Hundert der Einwohner von Eldorado ſpazieren gingen, 
thaten es ſich in ſchlechtem Zielen gegenſeitig zuvor, und 
die Zeugen des heroiſchen Kampfſpiels waren weit mehr 
in Gefahr, von den planlos umherfliegenden Kugeln ge— 
troffen zu werden, als die ſtreitenden Parteien ſelber. 
Mehrere der Kugeln flogen durch die Bretterwände und 


nicht viel fehlte daran, ſo hätte eine umherirrende Spitzkugel 
ihr Ziel in der Perſon des Verfaſſers gefunden, ſie ward aber 


glücklicherweiſe durch das Brett eines Ladentiſches aufgehalten, 
hinter dem er ſtand. Nachdem beide Kämpfer ihre Revol— 
ver leer gefeuert, ohne einander getroffen zu haben, warfen 
ſie ihre Waffen fort und wurden zum Gaudium der El— 
dorader handgemein; bald aber trennte die Streiter, zum 


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nicht geringen Aerger der Zuſchauer, der Friedensrichter 
in Perſona. 

Der Friedensrichter ſetzte ſofort eine Extragerichtsſitzung 
an, die in Ermangelung eines paſſenden Locals in einem 
Trinkſalon gehalten wurde. Eine Jury ward eingeſchworen 
und man ſchaffte einen guten Vorrath von Aktenpapier und 
ein paar alte Geſetzbücher herbei; zwei Spieler erboten ſich 
als Advokaten der beiden Angeklagten aufzutreten, und ein 
dritter ward Staatsanwalt und trat als Kläger für den 
Staat Oregon gegen die beiden Kampfhähne auf. | 

Der am Nachmittage deſſelben Tages in dem Trink⸗ 
ſalon verhandelte Proceß ſteht in feiner Art wohl einzig im 
der Criminalgeſchichte da. Die zahlreich verſammelten Zu— 
ſchauer machten ſchlechte Witze, tranken auf die Geſundheit, 
des hochweiſen Gerichts, rauchten, lärmten und ergingen ſich 
in zahlloſen Thorheiten. Der Friedensrichter hatte die Miene 
eines Solon angenommen und explicirte der Jury das Geſetz: 

„Wer von den beiden Angeklagten zuerſt ſeinen Revolver 
gezogen, der ſei die angreifende Partei geweſen und folglich 
der Schuldige; der andere hätte nur aus Nothwehr gehandelt 
und das Recht gehabt, jenen todtzuſchießen.“ 

Nachdem die Jury eingeſchworen, wurden vom Richter 
Whisky⸗Cocktails beſtellt, und Sr. Ehrwürden nebſt Jury, 
Advokaten und die beiden Delinquenten auf der armen 
Sünderbank goſſen, ehe die Unterſuchung begann, im fried— 
lichen Beieinander erſt eins hinter die Binde. 

Jetzt begann ein intereſſantes Zeugenverhör, wobei die 
verſchiedenen Zeugen ſich ſchnurſtracks widerſprachen. Ein 
Zeuge ſagte aus, daß Delinquent Nummer Eins, er 
den Revolver gezogen und abgefeuert, und ein anderer Zeuge 
ſchwor, daß er genau geſehen, wie Delinquent Nummer; 
Zwei zweimal geſchoſſen, ehe Delinquent Nummer Eins 
feinen Revolver hinterm Rockſchoß hätte hervorholen tönen. 


a 
ö 


4 


289 


Die Advocaten verſuchten ſich in glänzenden Perioden, 
und der eine von ihnen blieb in ſeiner glänzendſten Periode 
glänzend ſtecken. Der Staatsanwalt, welcher es als Ehren— 
punkt anzuſehen ſchien, beide Delinquenten zu verdonnern 
und der ſich in bilderreichen Redensarten über die Heiligkeit 
des Geſetzes, Ruhe und Ordnung, über ſchlechte Subjecte, 
die dem Staate Schande brächten ꝛc. erging, wurde von 
einem der Herren Advocaten milde daran erinnert, daß ſich 
eine ſolche Moralpredigt wenig für ihn paßte, da doch Jeder— 
mann in Eldorado wüßte, daß er, der ehrenwerthe Staats— 
anwalt, im vergangenen Winter in Idaho City falſchen 
Goldſtaub aus Kupferſpänen fabricirt und in Circulation 
geſetzt hätte, und daß er nur nach Eldorado gekommen ſei, 
um nicht in Idaho die Bekanntſchaft einer allzuengen hänfenen 
Cravatte zu machen. 

„Mein Herr!“ — rief der Staatsanwalt mit ſonorer 
Stimme ſeinem perſönlich werdenden Widerſacher zu — 
„mein Herr, wenn Sie mich beleidigen, ſo beleidigen Sie 
den Staat Oregon!“ 

Unter wieherndem Gelächter jubelten die Zuſchauer ihm 
Beifall zu und ließen „den Staat Oregon“ hochleben, wo— 
gegen der Advocat bemerkte; „daß der Staat Oregon verd. 
small potatoes — d. h. von winziger Bedeutung — ſei!“ 

Das Ende vom Proceß war, nachdem Richter, Advo— 
caten, Jury und „der Staat Oregon“ (nämlich der Staats— 
anwalt) eine unendliche Menge von Whisky Cocktails ver— 
tilgt, daß die Jury auf den Antrag des Richters entſchied: 

„Jeder der beiden Angeklagten hätte ſeinen Revolver zu: 
letzt gezogen, und beide hätten nur das allen freigeborenen 
Amerikanern heilige Recht der Selbſtvertheidigung ausgeübt; 
beide Angeklagte ſeien folglich ſchuldlos und ſofort zu entlaſſen. 
In Berückſichtigung der Milde des Urtheilsſpruches hätten die 
beiden Angeklagten jedoch die Whiskyrechnung zu bezahlen.“ 


19 


290 


Hiermit war der Proceß beendigt, Jedermann goß 
noch einen Schluck auf Rechnung der beiden Freigeſprochenen 
hinunter, und die hohe Verſammlung löſte ſich mit allge— 
meinem Wohlgefallen auf. 

Daß der Rechtsſpruch des weiſen Eldorado-Solon die 
Moralität der jungen Goldſtadt eben nicht verbeſſerte, läßt 
ſich denken. Schlägereien und Schießaffairen wurden jetzt 
etwas Alltägliches. An einem Sonntage gab es in El— 
dorado nicht weniger als ſechszehn Straßenprügeleien, und 
bei einer derſelben wurden dem „Staate Oregon“ zwei 
Zähne ausgeſchlagen. 

Die Indianer machten den Bewohnern der jungen 
Goldſtadt nicht weniger Sorgen, als die einheimiſchen 
Zwiſtigkeiten es thaten. 

Eines Sonntags, als Eldorado von Müſſiggängern 
ſchwärmte, kamen ſechs Reiter auf ſchaumbedeckten Roſſen 
ohne Sättel in die Stadt geſprengt und brachten die un— 
willkommene Nachricht, daß eine ſtarke Bande von Piutes— 
Indianern drei mit Waarengütern ſchwer beladene Wagen 
im Kanon — nur zwölf engliſche Meilen von der Stadt — 
überfallen hätten. | 

Die Aufregung in Eldorado war beim Eintreffen dieſer 
Nachricht eine ungeheure. Während eine dichte Schaar von 
Neugierigen die Ankömmlinge umdrängte und ſich dieſelbe 
Geſchichte zwanzig Mal wiederholen ließ, forderten Andere 
Freiwillige auf, um die Indianer zu verfolgen und ihnen 
den Raub wieder abzujagen. Binnen einer Stunde galoppir— 
ten auch ſchon ſechs bis an die Zähne bewaffnete „Indianer— 
Jäger (Indian hunters)“ davon und ſchworen, daß jeder 
wenigſtens zwei Scalpe mitbringen würde und daß ſie hundert 
verdammte Rothhäute nicht fürchteten und blutige Revanche 
an den frechen Schafseſſern, d. h. den Piutes, nehmen 
wollten. Am nächſten Tage kehrte die Jagdgeſellſchaft aber 


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unverrichteter Sache wieder zurück, nachdem ſie über hundert 
engliſche Meilen geritten waren, da man die Spur der 
Indianer im Gebirge verloren hatte. 

Seit dieſem erſten diesjährigen Erſcheinen der Indianer 
auf dem Kriegspfade verging faſt kein Tag, an dem die 
Rothhäute ſich nicht in der Nähe von Eldorado blicken ließen. 

Das Wetter in Eldorado war während der Zeit 
meines Aufenthaltes daſelbſt außerordentlich rauh und ver— 
änderlich. Faſt jede halbe Stunde fand ein Witterungs— 
wechſel ftatt. Bald war es frühlingswarm, bald ſibiriſch 
kalt, und Schneeſtürme hatten wir faſt jeden Tag. Bei 
Sonnenuntergang begann regelmäßig ein heftiger Wind, 
der bis Sonnenaufgang in erbärmlichen Accorden um die 
Bretterhäuſer heulte und den Gedanken wach werden ließ, 
daß das Haus jeden Augenblick fortwehen könnte. In 
einer beſonders windigen Nacht ward auch wirklich ein zwei— 
ſtöckiges Haus von ſeinem Fundamente heruntergeweht, und 
eine Goldwaſchrinne, die etwa 300 Pfund ſchwer ſein mochte 
und in der Straße ſtand, an hundert Ellen weit die Straße 
entlang geſchleudert. Bei Tage kamen die kalten Luftwellen 
mehr ſtoßweiſe und waren, wenn eben vorher das Wetter 
milde geweſen, doppelt unangenehm. In meiner Behauſung 
fand der Wind freien Eintritt durch die fingerbreiten Spalten 
im Fußboden und in den Wänden, und mitunter war ein 
ſolcher Zugwind in der Bretterwohnung, daß ich vor die 
Thür ging, um aus dem Wind herauszukommen. Nachts 
brachten uns heftige Stoßwinde zuweilen eiſigkalte Regen— 
ſchauer. Der Regen, welcher in feinen Strömen an vielen 
Stellen durch das Schindeldach rieſelte, weckte einen mit— 
unter unangenehm auf, wenn er unerwartet die Naſe traf; 
oft veränderten wir ein Dutzend Mal während einer Nacht 
unſere Lagerſtätten, um ein trockenes Plätzchen im Hauſe 
zu finden. 


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292 


Was den Fortbau der Stadt ſehr verzögerte, war der 
Mangel an Bauholz, das von zwei acht engliſche Meilen 
weſtlich im Gebirge liegenden Sägemühlen hergeſchafft wer— 
den mußte. Der Preis deſſelben betrug an den Mühlen 
75 Dollars für tauſend Fuß; die Wege waren ſo grundlos, 
daß Wagen, zu dreißig Dollars die Fuhr, nur mit halber 
Ladung den Weg in einem Tage zurücklegen konnten. 
Zimmerleute forderten blos acht Dollars pro Tag Arbeits: 
lohn. Das Häuſerbauen war unter ſo bewandten Um— 
ſtänden ein recht koſtſpieliges Vergnügen. Die Herſtellung 
eines Bäckerladens, acht Fuß Fronte bei neun Fuß Tiefe, 
den man in Deutſchland für weniger als zehn Thaler bauen 
könnte, koſtete die enorme Summe von einhundertfünfzig 
Dollars; die monatliche Miethe für ein Geſchäftshaus, 
welches man richtiger einen ſchlechten Stall nennen ſollte, 
betrug hundert Dollars in Gold. Andere zum Leben 
nothwendige Dinge waren nicht weniger koſtſpielig. Heu 
zu Betten und als Futter für das Vieh koſtete z. B. 
zehn Cents das Pfund, Hafer acht Cents und Kartoffeln 
daſſelbe, während Feuerholz nicht unter ſiebenzehn Dollars 
die Klafter — ohne das Kleinſchneiden zu rechnen — zu 
haben war. 

Der Leſer wird mit Recht über die Größe dieſer be— 
rühmten Goldſtadt erſtaunen. Die Bedeutung einer Minen— 
ſtadt wird aber nicht durch die Zahl iher Häuſer repräſen— 
tirt. Die Goldgräber, welche Claims beſitzen, wohnen 
meiſtens in Bretterhütten oder Zelten in der Nähe ihrer 
Mine und kommen nur gelegentlich in die Stadt, um Ein— 
käufe zu beſorgen oder um ſich zu amüſiren. Sonntags ver— 
ſammelte ſich eine bedeutende Menſchenmenge, oft aus einer 
Umgebung von zehn bis zwanzig Meilen, in einer concentriſch 
gelegenen Minenſtadt, welche alsdann ſo lebendig iſt wie 
eine Handelsſtadt von zwanzigfacher Größe. 


293 


Als die Jahreszeit vorrückte und der Schnee von den 
niedrigeren Hügeln und aus den Thalſchluchten verſchwand, 
beſuchte ich öfters die Goldgräber bei ihrer Arbeit, wo ſie 
fleißig beſchäftigt waren, Goldwaſchrinnen zu legen und mit 
Picke und Schaufel den Grund zum Auswaſchen goldhaltigen 
Bodens handgerecht zu machen, um keine Zeit zu verlieren, 
wenn das Waſſer kommen würde. Leider mußte nach 
Anſicht aller Wohlunterrichteten der Waſſervorrath zum Be— 
arbeiten der Minen in dieſem Jahre ein ſehr geringer ſein. 
Zwei Minengräben, die man aus einer Entfernung von 
15 und 20 engliſchen Meilen vom Gebirge her bis in die 
Nähe der Stadt geleitet hatte, waren und blieben bis zur 
Stunde meiner Abreiſe trocken, obgleich man jeden Tag 
ſagte, daß das Waſſer morgen oder übermorgen kommen 
würde. Man munkelte ſogar, daß der eine Graben in der 
Richtung, welche das Waſſer nehmen ſollte, bergauf ge— 
graben ſei, was der Herr Grabenbeſitzer entrüſtet für ſchänd— 
liche Verläumdung erklärte. 

Mittlerweile vergrößerte ſich die Stadt langſam. Neue 
Trinkſalons, Hötels und Stores entſtanden; eine Geſell— 
ſchaft von Negro-Minſtrels (Neger-Minneſänger) machte 
ihr Debut in Eldorado und man erwartete nächſtens vier 
deutſche Hurdy-Gurdy⸗Tanzmädchen. 

Als ich nach einem Aufenthalte von vier Wochen der 
jungen Goldſtadt ein Lebewohl ſagte, zählte ſie bereits acht 
und zwanzig Häuſer. 


Der Morgen des 15. April 1868, an dem ich Eldo— 
rado City wieder verließ, um über die öſtlichen Ausläufer 
der Blauen Gebirge zunächſt die nordwärts liegende Haupt— 
landſtraße, welche von Idaho nach dem Columbia führt, 
zu erreichen, verſprach einen ausnahmsweiſe ſchönen Tag. 
Die ſchneegekrönten Gebirge, welche Eldorado umkränzen, 


294 


lagen fo heiter da im goldenen Sonnenſchein, daß ich bald 
den grundloſen Schmutz und das naßkalte Wetter, Regen, 
Sturm und Schneegeſtöber, und wieder Regen und Hagel, 
Froſt, Glatteis, Wirbelwinde, Stoßwinde und alle Sorten 
von pöbelhaften Sturmwinden vergaß, welche mir das Leben 
in jenem wüſten Goldhafen ſo verbittert hatten. Freundlich 
warf ich der Bretterbude, worin ich in der berühmten Gold— 
ſtadt gewohnt, und allen anderen Bretterhäuſern in Eldo— 
rado City einen Abſchiedsgruß zu und ſetzte mich in einen 
„Käfig“, eine Art von ſehr primitiver Poſtkutſche, welche 
mich nach dem Burntfluſſe bringen ſollte. 

Dreißig engliſche Meilen vor uns erhob ſich der ſchnee— 
gekrönte eiſengepanzerte Berg (Ironside Butte), der höchſte 
Berg in der Umgegend, welcher wegen der außerordentlich 
klaren Luft aber kaum ein paar Stunden entfernt zu ſein ſchien. 

Die Quellen des Willow Creek und des Malheur 
(ein Nebenfluß des Snake, des ſüdlichen Hauptarmes des 
Columbia) liegen an ſeinen waldigen mit Eiſengeſtein 
bedeckten Abhängen. Die niedrigeren Hügel, über welche 
die Straße hinführte, waren mit aſchfarbigem Salbei— 
Geſtrüpp bedeckt; zwiſchen demſelben zerſtreut ſtand junges 
in Büſcheln wachſendes Gras (bunch grass), welches für 
das Vieh ein außerordentlich nahrhaftes Futter giebt, weß— 
halb dieſe auf den erſten Anblick ſo troſtlos ſcheinende Ge— 
gend als Weidegrund ſehr geſchätzt wird. 

Mein Sitz im „Käfig“ war höchſt unbequem. Der 
vielfach zerriſſene Grund war hart gefroren, und ich, als 
einziger Paſſagier in dem federloſen Wagen, der ſich faſt 
fortwährend in lebhaften Sprüngen bewegte, ward in ihm 
hin⸗ und hergeworfen, daß mir beinahe Hören und Sehen 
verging. 

Wir fuhren zunächſt am goldhaltigen Shaſtabach hin 
und kehrten dem „eiſengepanzerten Berge“ bald den Rücken 


295 


zu. Ab und zu kamen wir an Minerhütten vorbei, wo die 
Goldwäſcher eben ihre Morgentoilette vollendeten. Mancher 
derſelben warnte uns vor Indianern, welche die Gegend 
unſicher machten, und die ſich erſt in der vergangenen 
Nacht in der Nähe gezeigt hätten. Dieſe unwillkommene 
Nachricht veranlaßte mich bei der erſten Halteſtation, wo 
ein zweiter Paſſagier einſtieg, dieſem das Coupé freund— 
ſchaftlich zu überlaſſen, und mit meiner Hinterladungs— 
büchſe bei dem Kutſcher auf dem Bock Platz zu nehmen, 
wo ich eine freie Umſchau hatte und, im Fall eines Ren— 
contre's mit den „edlen Rothhäuten“ (noble red men, wie 
man in Amerika die Indianer gerne nennt), meine Waffe 
mit mehr Präciſion als im „Käfig“ anwenden konnte. 
Auch ſtieß der Wagen hier wenigſtens erträglich. 

Unſere nächſte Station war Amelia City, auch die 
„neuen Diggings“ genannt, eine Minenſtadt von ſieben 
Häuſern, die zwölf engliſche Meilen von Eldorado entfernt 
liegt. Nach kurzem Aufenthalte ſagten wir der auf eine 
glänzende Zukunft pochenden Goldſtadt Amelia Lebewohl, 
und fuhren durch eine wilde Gebirgslandſchaft zunächſt 
dem nur vier engliſche Meilen entfernten älteren Minen— 
lager Mormon Baſin zu. Es war ein nagelneuer und 
außerordentlich rauher Weg auf dem wir hinfuhren, und 
unſer Poſtwagen das erſte Fuhrwerk irgend welcher Art in 
dem Reiſende auf dieſer Straße von Eldorado City nach 
dem Burntfluſſe befördert wurden. 

Als wir höher ins Gebirge hinaufſtiegen, kamen wir 
durch ſtattliche Fichten- und Kiefernwaldungen, und der faſt 
überall noch tief liegende Schnee gab der Landſchaft ein 
recht winterliches Anſehen. Am wildbrauſenden Mormon— 
bach, deſſen Lauf wir entgegenfuhren, trafen wir hier und 
da Goldwäſcher, die mit Picke und Schaufel fleißig bei der 
Arbeit waren. Hohe Waſſerleitungen und lange Gold— 


296 


waſchrinnen und die zwiſchen loſen Felsblöcken und um— 
geſtürzten Nadelhölzern in Gräben und Holzrinnen wild 
daher rauſchenden Minenwaſſer, der unterſt zu oberſt ge— 
wühlte Boden, die wüſten Sand- und Schutthaufen und 
die Berge von loſen reingewaſchenen Steinen gaben un— 
verkennbare Zeichen, daß der blanke Mammon in dieſen 
Thalſchluchten verborgen lag. | 

Die aus etwa zwanzig Bretterhäuſern beſtehende alte 
Minenſtadt „Mormon Baſin City“, welche ſich uns durch 
den Tannenwald flüchtig zeigte, eine halbe engliſche Meile 
zur Linken laſſend, durchkreuzten wir, über Schneefelder 
und im Schatten ſtattlicher Nadelhölzer hinfahrend, den 
romantiſchen Thalkeſſel gleichen Namens, welcher durch ſeinen 
Goldreichthum berühmt geworden iſt. 

Die Goldlager von Mormon Baſin wurden im Jahre 
1864 entdeckt, und haben unter den Goldjägern im öſt— 
lichen Oregon noch immer einen guten Ruf. Das dortige 
Gold iſt meiſtens grobkörnig und hat einen Werth von 
164 Dollars die Unze. Man hat Stücke Gold dort ge— 
funden, die einen Werth von 400 bis zu 600 Dollars 
hatten; kleinere Stücke von 5 bis zu 10 Dollars an Werth 
ſind etwas ſehr Gewöhnliches. Einzelne ſogenannte „Neſter“ 
(pockets) haben ihre glücklichen Beſitzer ſchnell reich ge— 
macht. Leider finden die Goldwäſcher in Mormon Baſin 
(es ſind etwa hundert dort) nur auf zwei Monate im 
Frühjahr Beſchäftigung, da der zum Goldauswaſchen 
nöthige Waſſervorrath ſich auf das Schneewaſſer beſchränkt, 
und der Thalkeſſel zu hoch liegt, um einen Waſſerlauf, wie 
den Burntfluß, vermittelſt Gräben herleiten zu können. 
Einzelne Minenbeſitzer im Mormon Baſin reiſen jedes Jahr, 
ſobald das Waſſer verſiegt, nach San Francisco und ſogar 
nach den öſtlichen Staaten Amerika's, und kehren im Frühjahr 
nach Oregon zurück, um hier ihre Finanzen aufzubeſſern. 


297 


Sobald wir Mormon Baſin verließen, kamen wir 
wieder in eine öde, von allem Baumwuchs entblößte Ge— 
birgsgegend, der jeglicher landſchaftlicher Reiz fehlte, bis 
wir das zehn engliſche Meilen von Amelia City liegende 
Rye Valley (Roggenthal) erreichten. Daſſelbe führt ſeinen 
Namen nach dem hier in Menge wild wachſenden ſoge— 
nannten „Roggengras“ (Lolium perenne), eine für das 
Vieh beſonders nahrhafte Grasart mit roggenähnlichen Hal— 
men. Roggen oder ſonſtiges Getreide wird dort nicht gebaut. 

In Rye Valley liegt eine nicht unanſehnliche Minen— 
ſtadt gleichen Namens, die ſehr zerſtreut gebaut iſt, eine 
Schweſterſtadt von der in Mormon Baſin. Die Häuſer 
ſahen aus, als ob ſie hintereinander herliefen, um möglichſt 
ſchnell aus dem goldenen Roggenthale herauszukommen, wobei 
einige von ihnen offenbar das Gleichgewicht verloren hatten. 

Die Minen in Rye Valley find meiſtens „Hill Dig— 
gings“, d. h. das Gold wird aus dem Innern der Berge 
gewonnen, die voll find von Tunnels und Schachten. 
Helle Schutthaufen lagen vor den ſchwarzen Oeffnungen 
der Goldminen an den Bergen, und meilenlange Gräben, 
in denen das zum Auswaſchen der goldhaltigen Erde nöthige 
Waſſer nach den Minen geleitet wird, zogen ſich wie dunkle 
Linien über einander an den Abhängen hin. Viele der 
Rye Valley-Goldminen werden mit hydrauliſchen Preß— 
ſtrömen bearbeitet, von denen es zweiundvierzig in dieſem 
Minendiſtricte giebt. Das in Rye Valley gefundene Gold 
ſteht an Feine, in Folge einer Beimiſchung von Silber dem 
von Mormon Baſin bedeutend nach, und hat einen Werth 
von nur 14 Dollars die Unze. 

Wir verließen Rye Valley in einem heftigen Schnee— 
geſtöber, und fuhren mühſam die jenſeits deſſelben liegende 
ſteile Höhe hinan, die Waſſerſcheide zwiſchen den Gewäſſern 
des Willow Creek und des Burntfluffes, 


298 


Auf der Höhe überraſchte uns ein prächtiges Gebirgs— 
panorama. Die Sonne kam wieder hell zum Vorſchein, 
und beleuchtete herrlich das uns jetzt im Rücken und tief 
unter uns liegende Rye Valley. Vor uns im Norden 
hoben ſich die ſchneegekrönten Gipfel der goldreichen Hoch— 
gebirge am Adlerbach (eagle creek mountains), über vier— 
zig engliſche Meilen entfernt, jenſeits des Burntfluſſes in 
den wolkenſchwangeren Aether; zwiſchen uns und ihnen lag 
eine wilde Gebirgslandſchaft von wimmelnden, über ein— 
ander gethürmten Bergkuppen, hier und da mit ſchwarzen 
Waldungen an den Abhängen und mit ſchneegekrönten 
Scheiteln. Ein Schneeſturm, der unter wechſelnder Be— 
leuchtung über die urwilde Gebirgslandſchaft zog, belebte 
gleichſam das großartig romantiſche Gemälde. 

Schnell fuhren wir jetzt bergab und entgegen dem Burnt— 
fluſſe, durch lange und eng gewundene Caſüons, welche dicht auf 
einander folgten. Eine dieſer Bergſchluchten, wo die nackten 
Felſen rechts nahe am Wege mehrere hundert Fuß hoch 
emporragten, ſchien für einen Hinterhalt wie gemacht, und 
wir hatten an dieſer Stelle ein beſonders wachſames Auge 
auf unſere Todfeinde, die Indianer, welche die Gegend nicht 
ſelten durchſtreifen. 

Bei den meiſten Indianerüberfällen können die Rei— 
ſenden von Glück ſagen, wenn ſie mit dem Leben davon 
kommen. In der Regel ſchießen die „edlen Rothhäute“, 
wo man es am allerwenigſten erwartet, aus unangenehmer 
Nähe hinter einem Felſen hervor auf die unbeſorgt vor— 
beiziehenden Goldtouriſten. Eine Vertheidigung iſt in ſol— 
chem Falle ſelten möglich. Wen eine Büchſenkugel oder ein 
leicht geflügelter Pfeil trifft und hinſtreckt, der iſt ver— 
loren. Seine glücklicheren Kameraden können ſich um ſeine 
Rettung nicht bekümmern; ſie werden ſich auf das erſte 
beſte Pferd werfen, das ſie aus dem Geſchirr loszuſchnei— 


— 


299 


den vermögen, und ſofort das Weite ſuchen. Viele der 
Packthier-Karavanen, welche von und nach den Minen 
ziehen, reiſen bei Nacht, da alsdann von den Indianern 
weniger zu befürchten iſt. Die gefährlichſte Stunde iſt für 
den Reiſenden in dieſen Gegenden allemal die beim erſten 
Morgengrauen, und neun Zehntheile aller Indianerüber— 
fälle finden ſtatt, wenn die Goldtouriſten eben ihre Morgen— 
toilette beginnen. 

Kurz zuvor, ehe ich dieſe Reiſe unternahm, langte die 
Kunde in Eldorado City an, daß eine Bande von Schlangen— 
Indianern 25 Pferde am Payettefluß geſtohlen und ſich in 
der Richtung nach dem Burntfluſſe mit ihrer Beute aus 
dem Staube gemacht hätte. Da die Möglichkeit nahe lag, 
daß uns dieſe Bande in die Quere kommen könnte, ſo 
waren wir doppelt wachſam und gerüſtet, jeden Augenblick 
das Haſenpanier zu ergreifen. Mit nur zwei Pferden und 
drei Mann im Wagen, fühlte ich mich beim Kutſcher auf 
dem Bock ungleich ſicherer als im Coupé des „Käfigs“, 
deſſen Inhaber bei einem Ueberfall der Indianer wohl zu 
Fuß hätte retiriren müſſen, da der Kutſcher und meine 
Wenigkeit für einen ſolchen Caſus die beiden Gäule bereits 
für uns appropriirt hatten. 

Die Gegend behielt bis zum Burntfluß ihren wilden 
Anſtrich. Ein paarmal lag der Fahrweg auf längeren 
Strecken der Caſions inmitten eines rauſchenden Wald— 
bachs, in deſſen Bette wir uns einen Weg ſuchen mußten, 
da am Ufer nicht Raum genug für eine Straße war. Oefters 
begegneten wir langen Zügen von Schlachtvieh und Pack— 
thieren und von Goldjägern zu Fuß und zu Roß, jeder 
mit einer Wollendecke und Büchſe auf der Schulter, die 
alle nach den Goldminen von Willow Creek unterwegs 
waren. Die felſigen Caſions hallten wieder von Peitſchen— 
knallen, Singen, Hurrah und Flüchen, wozu das Gebrüll 


300 


der bunten Rinder die Begleitung gab; nur ein Angriff 
der Rothhäute und ihr dem Hundegebell ähnliches Kriegs— 
geſchrei fehlte in dem betäubenden Wirrwarr thieriſcher und 
menſchlicher Laute, um die Situation eminent intereſſant 
gemacht zu haben. 

Endlich lagen die fatalen Cafions hinter uns und wir 
hatten den Burntfluß erreicht, der hier in einer breiten 
Niederung unter Weidengebüſch hinfloß. Dreißig engliſche 
Meilen weiter oberhalb liegen an ihm reiche Goldminen, 
wo bereits dreißig Dollars werth Goldſtaub aus einer Gold— 
waſchſchale gewonnen wurde. Jenſeits des Burntfluſſes 
lagen ein paar Ranchos (Gehöfte), ſonſt war die Gegend 
öde und von allem Baumwuchs oder Anzeichen von Cultur 
entblößt. 

Nach einer luſtigen Fahrt von etwa drei engliſchen 
Meilen, immer im geſtreckten Galopp am Ufer des Burnt— 
fluſſes herjagend, wobei ſich der „Käfig“ auf dem ſteinigen 
Wege dermaßen in halsbrechenden Sätzen und Seiten— 
ſchwenkungen erging, daß ich mich nur mit größter Mühe 
am Kutſcherbock feſtzuklammern vermochte, überſchritten wir 
den nicht unanſehnlichen ſchnell ſtrömenden Burntfluß auf 
einer wackeligen Holzbrücke, und langten gegen Mittag, 35 
engliſche Meilen von Eldorado City, bei der ſogenannten 
Expreß Ranch an, einem Wirthshauſe, das an der großen 
Poſtſtraße liegt, welche von Idaho nach der Stadt Umatilla 
am Columbia führt. 

Mein Ausflug nach Willow Creek fand hier ſeinen Ab— 
ſchluß, da ich zunächſt über die Blauen Gebirge nach meiner 
alten oregoniſchen Heimath The Dalles am Columbia 
reiſen wollte. Möge es den Eldoradoern recht nach Wunſch 
ergangen und Jeder von ihnen mindeſtens ein Billionär 
geworden ſein! 


3. Ein Capitel über die Hurdy⸗Gurdys 
(ein Vermächtniß deutſcher Kleinſtaaterei). 


In den vorherſtehenden Skizzen iſt öfters der Name 
„Hurdy-Gurdys“ vorgekommen, der wohl einer etwas näheren 
Auseinanderſetzung bedarf. Als der Verfaſſer um die Mitte 
der ſechsziger Jahre ſein Domicil in den Minenlagern von 
Idaho und Oregon aufgeſchlagen, kam ihm eine in der 
„Gartenlaube“ veröffentlichte Erklärung der naſſauiſchen Poli— 
zeibehörde über die Hurdy-Gurdys zu Geſicht, welche ihn ver— 
anlaßte, einen längeren Artikel für jenes Blatt zu ſchreiben, 
worin das ſchmachvolle Treiben dieſer den deutſchen Namen 
auf das Aergſte compromittirenden deutſchen Tanzmädchen 
öffentlich an den Pranger geſtellt wurde. Ich laſſe jenen 
in Nr. 20 des Jahrgangs 1865 der Gartenlaube ver— 
öffentlichten Aufſatz unverändert wieder zum Abdruck kommen, 
da derſelbe ein klares Bild über die Hurdy-Gurdys vor 
Augen ſtellt und zugleich einen Rückblick in die Zeit der 
deutſchen nationalen Zerriſſenheit giebt, welche der Haupt— 
grund zu einem ſchmählichen Menſchenhandel war, den alle 
Beſchönigungen deutſcher kleinſtaatlicher Polizeidirectionen 
nicht wegzuläugnen vermochten. 

„In Nr. 48 des Jahrgangs 1864 der Gartenlaube 
ſteht eine Erklärung der herzoglich naſſauiſchen Polizei— 
direction, als Antwort auf einen in früheren Nummern der 
Gartenlaube unter dem Titel: „Deutſcher Menſchenhandel 
der Neuzeit“ abgedruckten Artikel. 


302 


Ohne auf den Inhalt dieſer polizeilichen Erklärung 
näher einzugehen, erlaubt ſich Unterzeichneter, der Redaction 
der auch in dieſem entlegenen Erdenwinkel vielfach geleſenen 
Gartenlaube ebenfalls eine Erklärung über beſtehende ſociale 
Verhältniſſe, und zwar aus dem nordamerikaniſchen Unions— 
ſtaate Oregon, zur Benutzung zuzuſenden. Die darin an— 
geführten unwiderleglichen Thatſachen werden der Polizei— 
direction des Herzogthums Naſſau den Standpunkt eines 
Theils ihrer Landeskinder im Auslande hoffentlich ſonnen— 
klar machen — nicht nur, wie er „in einer ſeit Decennien 
hinter uns liegenden Vergangenheit geweſen“, ſondern noch 
heutzutage, anno Domini 1865, factiſch iſt. 

Um nun zunächſt dieſe Facta etwas näher zu beleuch— 
ten, ſo muß ich wohl vor Allem erklären, was der Name 
Hurdy⸗Gurdys eigentlich bedeutet. Jahr aus Jahr ein 
möchte ich dies Wort über den halben Erdball hinüberrufen, 
damit Deutſchland zur vollen Erkenntniß dieſes argen Brand— 
mals am deutſchen Namen gelange und die Stimme des 
Volkes wach werde, um die Miſſethäter, wer ſie auch im— 
mer ſein mögen, zur Verantwortung zu zwingen; denn nur 
ſo kann dieſem Schandfleck am deutſchen Namen gründlich 
abgeholfen werden. Ich will es Euch, deutſche Mütter, 
Euch, Töchter des großen, gebildeten Deutſchlands, ganz 
leiſe in's Ohr raunen — wenn auch die Scham ob der 
Entehrung des deutſchen Namens Euch beim Anhören des 
ungern Geſagten die Wangen blutroth färbt — ganz leiſe, 
damit die hochlöbliche Polizei es ja nicht höre und mir 
ſtracks verbiete, den Mund weiter zu öffnen und mehr da— 
von zu reden: Hurdy-Gurdys iſt der verächtliche Name für 
deutſche Tanzmädchen in den zahlreichen Minenſtädten 
von Californien, Nevada, Oregon, Idaho, Waſhington und 
Britiſh Columbia, die wie Waare von grundſatzloſen Menſchen— 
händlern an den Meiſtbietenden verdingt werden, um den 


303 


„biederen Goldgräbern“ das Herz und den Geldbeutel 
leichter zu machen; die jegliches Schamgefühl verlernt zu 
haben ſcheinen und doch mit der Tugend kokettiren und die 
Haupturſache der in beſagten Minenſtädten faſt tagtäglich 
vorfallenden blutigen Schlägereien, Stech- und Schießaffairen 
ſind, welche nicht ſelten Mord und Todtſchlag im Gefolge 
haben, — deutſche Tanzmädchen „aus Naſſau krom the 
Rhine““, wie ich's mit eigenen Augen, ohne Brille, in den 
hieſigen Hötelregiftern in eleganter Originalhandſchrift mehr— 
fach geleſen habe. Was ſagen die Herren von der Naſſauer 
Polizei dazu? Iſt auch das unwahr? 

Wenn nun allerdings das Herzogthum Naſſau auch 
den Löwenantheil an der Ausfuhr von Hurdy-Gurdys beſitzt, 
ſo muß ich zur Beruhigung der dortigen Polizeibehörde doch 
noch erwähnen und der Wahrheit die Ehre geben, daß Darm— 
ſtadt namentlich in letzten Jahren gleichfalls manche ſchmucke 
Hurdys geliefert hat — daß eine Darmſtädter Hurdy-Gurdy— 
Geſellſchaft z. B. gegenwärtig in Dalles in Oregon Gaſt— 
rollen giebt — und der ganze an den Mittelrhein grenzende 
deutſche Kleinſtaatencomplex mehr oder weniger Hurdy— 
Gurdy-Delegaten nach Amerika ſendet. Weder der Ober— 
noch Unterrhein, weder Süd- noch Norddeutſchland liefern 
Hurdy-Gurdys, alle kommen dieſe vom Mittelrhein dem 
geſegnetſten Theile, dem Paradieſe Deutſchlands. 

Das Hauptquartier und Centraldepot ſämmtlicher Hurdy— 
Gurdys iſt in San Francisco, wohin gelegentlich durch ge— 
wiſſenloſe Menſchenhändler neue Recruten, direct „from the 
Rhine““, importirt werden. Den jungen, lebensluſtigen Dir- 
nen am alten Vater Rhein werden von dieſen Seelenverkäufern 
höchſt verführeriſche Bilder von dem freien und ungebundenen 
Leben und den leicht zu erwerbenden Schätzen in den herrlichen 
Goldlanden am ſtillen Meer vorgeſpiegelt, um fie zum Aus— 
wandern zu bewegen, und das Reſultat der Unterhandlung iſt, 


304 


daß beſagte Menſchenhändler es übernehmen, die verführten 
Mädchen frei bis nach San Francisco zu befördern, wogegen 
dieſe ſich contractlich verpflichten, das ihnen vorgeſchoſſene 
Reiſegeld nach Ankunft an den goldenen Geſtaden zurück— 
zuzahlen, d. h. abzutanzen. Dieſe Contracte haben nun 
allerdings weder in Deutſchland noch in Amerika geſetzliche 
Gültigkeit, werden aber trotzdem ohne Ausnahme von den 
in der Fremde ganz verlaſſen daſtehenden Mädchen erfüllt. 

Vom Hauptquartier in San Francisco aus werden die 
Mädchen, welche je nach ihrer Schönheit verſchiedene Preiſe 
haben, an die Hurdy-Gurdys-Salonbeſitzer vermiethet und 
bleiben ſo lange an das Centraldepot gebunden, bis ſie die 
ihnen vorgeſchoſſenen Summen, welche ſich durch Bekleidung, 
Beköſtigung ꝛc. fortwährend vermehren, abverdient, d. h. 
abgetanzt haben. Wenn ſie endlich auf freien Füßen tanzen 
können, ſo reiſen ſie auch wohl in kleinen Tanzgeſchwadern 
von je drei bis ſechs tanzenden Mitgliedern unter dem 
Commando einer im Handwerk ergrauten älteren Hurdy 
— von den Goldgräbern mit dem Namen bell mare be— 
zeichnet, d. h. Glockenſtute, die einen Zug Pferde anführt 
— auf eigene Speculation durch's Land. Zu dieſer Claſſe 
gehören meiſtens die in Oregon und Idaho Gaſtrollen ge— 
benden Hurdy-Gurdys, welche ſich vom Centraldepot in 
San Francisco emancipirt haben. 

Ich habe blutjunge Hurdys geſehen, die kaum zwölf 
Sommer zählten, und andere in der Blüthe der Jung— 
frauenjahre, welche die Roſenzeit ihres Lebens buchſtäblich 
vertanzen und ſpäterhin, wenn die Blüthen verwelken und 
abfallen, auf den Stufen des Laſters ſchnell hinunterſteigen 
in ein Land, von wo keine Rückkehr in ehrliche Geſellſchaft 
mehr iſt, falls es ihnen nicht gelingt, durch Extrakniffe 
ſo einen halbblinden Goldvogel noch bei Zeiten im Ehe— 
netze einzufangen. 


305 


Die Bellmares und Salonbeſitzer holen ab und zu 
friſche Zufuhr von San Francisco, wenn den Goldgräbern 
die veraltete Waare nicht mehr gefällt, wogegen das Haupt- 
depot in San Francisco ſich wieder von Deutſchland aus 
ergänzt, und ſo pflanzt ſich dieſer ſchmachvolle Menſchen— 
handel ungeſtört fort. In San Francisco iſt es den dort 
anſäſſigen zahlreichen Deutſchen gelungen, ein Verbot gegen 
die Hurdy⸗Gurdy⸗Salons in der Stadt — nicht im Staate 
Californien — zu bewirken. Gleichzeitig wurde das Spielen 
mit Tambourins auf den Straßen, welches früher von den 
Mädchen bei Tage als Nebengeſchäft betrieben ward, ſtrenge 
unterſagt und ein Verbot gegen die öffentlichen Spielhöllen 
im Staate Californien durchgeſetzt. Die Folge davon iſt 
geweſen, daß ſich die Hurdys in San Francisco in ſoge— 
nannte „Pretty Waiter Girls“ — hübſche Kellnermädchen, 
wie ſie ſich öffentlich annonciren — verwandelt haben, was 
faſt ſo ſchlimm iſt als ihr früherer Beruf, oder daß die 
vom Geſetze grauſam verfolgten Hurdys nach den angren— 
zenden Staaten ausgewandert ſind, wo öffentliche Spiel— 
höllen und Hurdy-Gurdy-Salons geſetzlich nicht unter— 
ſagt ſind. 

Hier in Oregon bemüht man ſich jetzt, dem Beiſpiele 
San Francisco's zu folgen, namentlich um den Gold— 
gräbern die Gelegenheit zu nehmen, ihr ſchwer erworbenes 
Gold gleichſam zum Fenſter hinauszuwerfen. Ein directes 
Verbot gegen die Hurdy-Gurdy-Salons iſt jedoch bis jetzt 
noch nicht erlaſſen worden, was auch nach hieſigen Ge— 
ſetzen, die gänzliche Gewerbefreiheit garantiren, nicht gut 

möglich iſt. 
Daß das Hurdy-Geſchäft ein ſehr einträgliches ſein 
muß, iſt ſchon aus der enormen Steuer erſichtlich, welche 
die Salonbeſitzer, die ſich natürlich durch die Mädchen wie— 
der ſchadlos halten, ohne beſondere Mühe zu zahlen im 


20 


306 


Stande ſind. Wer jedoch die Extravaganz der hieſigen 
Minenbevölkerung kennt, den wird es ſicherlich nicht wun— 
dern, daß das Hurdy-Geſchäft eine Steuer von hundert 
Dollars und auch wohl die dreifache Summe im Monat 
ſo leicht aufzutreiben vermag, ohne Bankerott machen zu 
müſſen. 

Tauſende von Bergleuten arbeiten jahraus, jahrein 
jede Woche ſechs Tage lang vom frühen Morgen bis zum 
Abend in den Minen, um allnächtlich und namentlich am 
Sonntag ihr ſchwer erworbenes Gold in den Hurdy-Gurdy— 
Häuſern wieder fortzuſchleudern. Die Folge davon iſt, 
daß, obwohl die meiſten dieſer Minenarbeiter verhältniß— 
mäßig reich ſein ſollten, es doch zu einer großen Selten— 
heit gehört, einen unter ihnen zu finden, der ſich eine nur 
einigermaßen anſehnliche Summe erübrigt; eben weil ſie 
ihr Geld in den Hurdy-Gurdy-⸗Salons ſo ſchnell verjubeln, 
wie ſie es verdient haben. 

In enger Verbindung mit den Hurdy-Gurdy-Salons 
ſind Trinkſtände, an denen die Tänzer ihre Schönen nach 
jedem Tanze mit einer Herzſtärkung tractiren, zu einem 
viertel oder halben Dollar den Schluck, wovon das Mäd— 
chen die Hälfte und der Salonbeſitzer die andere Hälfte 
bekommt. Von den Mädchen erhält alſo jede einen viertel 
oder halben Dollar für den Tanz, und außerdem machen ſie 
es ſich zur Regel, den in Glückſeligkeit ſchwimmenden Gold— 
gräbern Ringe, Schmuckſachen und, wo's geht, baares 
Geld abzukoſen, ſo daß ſich das Geſchäft im Allgemeinen 
recht gut lohnt. 

Dann ſind öffentliche Spiellocale in nächſter Nähe, 
wo mit falſchen Würfeln und ſonſtigen ſcharfſinnigen Schwin⸗ 
deleien den vom Tanz und ſchlechten Getränken erhitzten 
Miners der Reſt ihres Klein- und Großgeldes in der Ge— 
ſchwindigkeit abgenommen wird. 


307 


Das Merkwürdigſte bei dieſer Hurdy-Gurdy-Wirth⸗ 
ſchaft iſt, daß ſämmtliche Hurdys „from the Rhine“ find, 
und daß die leichtfertigen Schönen anderer Nationalitäten 
den Naſſauerinnen und Heſſinnen bei dieſem profitablen Ge— 
ſchäftchen nicht in's Handwerk greifen. Aber ſo iſt es in 
der That; und die Töchter von Frankreich, von Irland, 
England, Spanien, Amerika und Mexico und andern Län— 
dern treten beſcheiden zur Seite und bedanken ſich ganz ge— 
horſam für dieſen Ehrenpoſten. 

Man trete einmal hinein in ſolch einen Hurdy-Gurdy⸗ 
Salon und man wird zugeben, daß es dem Nationalſtolze 
anderer Völker zur Ehre gereicht, den Deutſchen in dieſem 
Geſchäfte den Rang nicht ſtreitig zu machen! Halbange— 
trunkene, rohe Goldgräber, theilweiſe in Hemdärmeln und 
mit dem Hute auf dem Kopfe, mit geladenen Revolvern 
und langen Meſſern im Gürtel und die Hoſen meiſt in die 
Stiefelſchäfte geſteckt, zerren die Mädchen im Tanze umher 
und ſtoßen ſich dieſelben mitunter gegenſeitig zu, trinken 
mit ihnen vergiftete Getränke, führen ſchmutzige Reden und 
erlauben ſich alle möglichen handgreiflichen Freiheiten und 
Frechheiten, wofür ſie ja zahlen — zahlen, mit blankem 
Golde! Goldene Schätze rollen ſo den Hurdys in den 
Schooß — ſelbſtverſtändlich zum größten Theil zum Nutzen 
der Seelenverkäufer und Salonbeſitzer. 

Man wird an dieſer ganzen Küſte kaum eine Minen⸗ 
ſtadt — a mining eamp — finden, in der es nicht ein 
oder zwei, oft drei bis vier ſolcher Hurdy-Gurdy-Häuſer 
giebt, — hier in Dalles gegenwärtig drei — was der 
Verfaſſer dieſer wahrheitsgetreuen Schilderung nicht blos 
von Hörenſagen weiß, ſondern mit eigenen Augen geſehen 
hat, da er nicht nur in Oregon, ſondern auch in Califor⸗ 
nien und Nevada ziemlich weit herumgekommen iſt. Wie 
groß die Zahl ſolcher verwahrloſten Mädchen an dieſer 


20 * 


308 


Küſte iſt, läßt ſich ſchwer ermitteln; doch würden die naſſaui⸗ 
ſchen und heſſiſchen Polizeibehörden höchſt wahrſcheinlich 
die Augen vor Erſtaunen weit aufthun, wenn ſie die nackte 
Wahrheit zu hören bekämen! 

Die einzige Möglichkeit, dieſer den deutſchen Namen 
ſchändenden Hurdy-Gurdy-Wirthſchaft zu ſteuern, iſt, die 
neue Zufuhr von Mädchen aus Deutſchland zu 
verhindern. Den Mädchen, die, leider Gottes, einmal hier 
ſind, kann nicht geholfen werden. Man hat es wiederholt 
verſucht, dieſelben als Hausmädchen mit einem Monats— 
lohn von dreißig bis vierzig Dollars zu engagiren; das 
wilde Leben iſt ihnen aber ſo zur andern Natur geworden, 
daß ſie alle derartige Anerbieten rundweg abgeſchlagen haben. 

Die Mitglieder eines Comités in San Francisco, 
welches dieſes zu bezwecken ſuchte, ſind zum Dank für ihre 
menſchenfreundlichen Bemühungen ſogar wiederholt von den 
Seelenverkäufern nächtlicher Weile verfolgt, niedergeſchlagen 
und mißhandelt worden, fo daß man zuletzt alle ferneren 
Schritte zum Wohl der Mädchen, als gänzlich nutzlos, ein— 
geſtellt hat und die Menſchenhändler ihre Schandwirthſchaft 
nach wie vor ungeſtört treiben, mit der ſchon gedachten 
alleinigen Ausnahme, daß die Hurdy-Gurdy-Häuſer in San 
Francisco ſelbſt unterdrückt ſind. 

Da die Tanzmädchen jedoch ſämmtlich in kurzer Friſt 
durch Alter und das allnächtliche Schwärmen abgenutzt ſein 
werden, ſo müßte die ganze Hurdy-Gurdy-Wirthſchaft all⸗ 
mählich von ſelber aufhören, wenn nur der ferneren Zu— 
fuhr von Deutſchland Schloß und Riegel vorgeſchoben wer— 
den könnte. Und dieſes iſt es eben, worauf der Verfaſſer 
dieſer ungeſchminkten Enthüllungen die betreffenden deutſchen 
Regierungen und das deutſche Volk ſelber hinleiten möchte, daß 
ſie nicht die Hände in den Schooß legen und über die Schlech— 
tigkeit der Welt lamentiren, ſondern zur That ſchreiten. 


309 


Hier im goldenen Oregon würde man einen ſolchen 
Seelenhändler, der von hier aus amerikaniſche Mädchen als 
Tanzwaare exportiren wollte, wegen beleidigter Nationalehre 
ganz einfach „lynchen“, theeren und federn, todtſchießen, 
todtſtechen, aufhängen, todtprügeln — je nachdem. Wenn 
dieſe bewährten Mittel nun allerdings für Deutſchland 
nicht zu empfehlen ſind, ſo giebt es doch wohl noch andere, 
um dergleichen Schurken unſchädlich zu machen. 

Genug aber von dieſer Schmach des deutſchen Namens, 
die jedem ehrlichen Deutſchen, den ſein Lebensloos auf dieſe 
Scholle fremder Erde geworfen, die Schamröthe in's Ge— 
ſicht treibt! Möge dieſe wahrheitsgetreue Darſtellung von 
Thatſachen, die wahr bleiben, trotz aller ihnen widerſprechen— 
den „Erklärungen“, endlich den ſie betreffenden deutſchen 
Regierungen die Augen öffnen, damit ſie energiſche Schritte 
thun, dieſem Menſchen- und Seelenhandel ein Ende zu 
machen; denn aufhören wird er und aufhören muß er, oder 
Deutſchland wird die Achtung im Auslande, mit der es 
leider einmal nicht eben glänzend beſtellt iſt — Dank ſei 
es der inneren Zerriſſenheit und der ungenügenden natio— 
nalen Vertretung in fremden Ländern — mit der Zeit noch 
gänzlich verlieren. 

Dalles im Staate Oregon, Ende Februar 1865. 


Theodor Kirchhoff.“ 


+ 5 + 
Soweit jener mein Erftlings-Artifel in der „Garten⸗ 
laube“, der ſeiner Zeit eine gewaltge Aufregung unter den 
Polizeidirectionen deutſcher Kleinſtaaten verurſachte. Für 
mich hatte derſelbe, außer dem zufrieden ſtellenden Bewußt— 
ſein, jenen Ehrenmännern einmal ein recht helles Licht der 
Selbſterkenntniß angeſteckt zu haben, noch das Angenehme 


310 


im Gefolge, daß ich — auf Anregen der verehrlichen Re— 
daction der Gartenlaube — mich bewogen fühlte, auf dem 
einmal eingeſchlagenen Wege zu beharren, meine Muße— 
ſtunden mit literariſchen Arbeiten auszufüllen. Manche Freude 
iſt mir dadurch zu Theil geworden, die mir mein Leben 
in Amerika verſchönert hat! Daß ich dieſes in erſter 
Linie den von mir ſo grauſam verfolgten Hurdy-Gurdys zu 
verdanken habe, iſt einer jener ſeltſamen Zufälle, welche 
oft das Leben und Thun eines Menſchen in ganz neue 
Bahnen lenken. 

Was nun die Hurdy-Gurdys anbelangt, ſo hat die 
neuere Zeit den früher offen getriebenen Menſchenhandel 
durch das erwachte deutſche Nationalbewußtſein von ſelbſt 
unmöglich gemacht. Von einer ſyſtematiſchen Importation 
deutſcher Mädchen nach San Francisco zu den in obigem 
Artikel geſchilderten Zwecken, iſt heute nicht mehr die Rede. 
Allerdings findet man noch in den meiſten Minenlagern an 
dieſer Küſte Hurdy⸗Gurdy⸗Häuſer, und in San Francisco 


trifft man mehr rheinländiſche Polkamädchen in den Keller— 


höhlen, als einem guten Deutſchen lieb iſt — aber die 
meiſten jener Tanzmädchen ſind „veraltete Waare“, ſo zu 
ſagen ein Vermächtniß deutſcher Kleinſtaaterei. 


Bilder aus dem Süden, 


(1866 — 1870.) 


1. Der Nicaragua Tranſit. 


Ehe die Pacifiecbahn gebaut war, gab es drei Reiſe— 
routen von San Francisco nach den „Staaten“: die eine 
Ueberland mit der Stagekutſche und die beiden andern zur 
See, über Panama oder Nicaragua. Als ich im November 
1865 von Californien nach Texas reiſen wollte, wohin 
dringende Geſchäftsangelegenheiten mich riefen, wählte ich, 
da ich oft ſchon von der wundervollen Scenerie von Nica— 
ragua gehört hatte, die Linie der (jetzt eingegangenen) „Nica— 
ragua Tranſit Compagnie“, die ſogenannte „Oppoſitions⸗ 
linie“. Die Agenten der regulären „Panama-Linie“ warn⸗ 
ten allerdings vor den Beſchwerlichkeiten des koſtſpieligen 
Nicaragua Tranſits, auf dem die Paſſagiere ſich ſelbſt be— 
köſtigen müßten, und oft ſchon hatte ich gehört, daß Rei— 
ſende wochenlang dort aufgehalten worden und vielerlei 
Unannehmlichkeiten ausgeſetzt geweſen waren, ehe ſie den 
Tranſit hätten bewerkſtelligen können; — aber ich las in 
den San Francisco Zeitungen, die Compagnie würde für's 
Wohl der Paſſagiere muſterhaft ſorgen, und der San Juan 
Fluß ſei voll von Waſſer, ſo daß unterwegs durchaus gar 
kein Aufenthalt zu befürchten wäre. Innerhalb vierund— 
zwanzig Stunden würde der Tranſit gemacht und — „no 
extra charge for board on the Isthmus (keine Extra— 
Vergütung für Lebensunterhalt auf dem Iſthmus)“. 

Genug, ich dachte, ich könnte die Reiſe über Nicaragua 
ſo gut wie die andern ſiebenhundert Paſſagiere, welche dieſe 


314 


Linie gewählt, riskiren, zahlte der „Central American 
Tranſit⸗Compagnie“ Einhundert und fünfzig Dollars in 
Gold für den beſten Platz auf ihrem beſten Dampfer, der 
„Amerika“, und machte mich reiſefertig. 

Es war am 13. November 1865, als unſer gutes 
Schiff „Amerika“, welches vor der Abfahrt noch von eini— 
gen geldgierigen Gläubigern der ſich faſt fortwährend in 
pecuniären Verlegenheiten befindenden Tranſit-Compagnie 
mit Beſchlag belegt war und nur mit Mühe eine Kleinig— 
keit von neunzehn Tauſend Dollars gezahlt hatte, um freien 
Abzug zu erhalten, — der Goldſtadt ein Lebewohl ſagte 
und unter dem Zuruf der am Miſſion Street Wharf dicht 
gedrängten Zuſchauer langſam in die offene Bai hinaus- 
fuhr. Nachdem ſämmtliche Paſſagiere noch einer genauen 
Billet⸗Reviſion unterworfen worden, bei welcher Gelegen— 
heit, wie dieſes auf den California-Dampfern nichts Sel— 
tenes iſt, mehrere billetloſe Subjecte, welche die Reiſe nach 
den „Staaten“ umſonſt zu machen beabſichtigten, per Schub 
in eines der uns begleitenden Boote transportirt wurden; 
nachdem mehrere an Bord befindliche Poliziſten ſämmtliche 
Paſſagier⸗Phyſiognomieen einer kritiſchen Examination unter- 
worfen hatten, um zu ſehen, ob ſich nicht Galgenkandidaten 
unter uns befänden, welche ſich der ſpeciellen Fürſorge von 
Oncle Sam zu entziehen wünſchten, und nachdem der 
Lootſe uns glücklich durch das ganz in Nebel gehüllte gol— 
dene Thor geleitet; — verließen uns die billetloſen Paſſa⸗ 
giere und Lootſe, und wir brauſ'ten, uns ſelbſt überlaſſen, 
luſtig gen Süden, dem Tropenkreiſe entgegeneilend. 

Da es nicht der Zweck dieſer Skizze iſt, eine Be— 
ſchreibung meiner Reiſe von San Francisco nach Central— 
Amerika zu geben, ſo will ich nur kurz erwähnen, daß dieſelbe 
im Allgemeinen eine recht angenehme, wenn auch ſehr langſame 
war. Letzteres hatte ſeine Urſache darin, daß unſere Dampf⸗ 


315 


keſſel von Altersſchwäche litten und nicht viel Dampfdruck 
aushalten konnten, weshalb wir z. B. gezwungen waren, 
auf der Höhe des Caps Corrientes einen halben Tag ſtille 
zu liegen, damit eine ſchadhafte Stelle an einem der Dampf— 
keſſel ausgebeſſert werden könne. 

Sonſt ſtörte Nichts das Angenehme der Reiſe, deren 
Gemüthlichkeit auf den Poſtdampfern des Stillen Meeres 
ſprichwörtlich geworden iſt. Eine Schauſpielergeſellſchaft, 
die ſich an Bord befand, unterhielt uns mit mimiſchen Vor— 
ſtellungen und Concerten; bei Tage hatten wir das immer 
wechſelnde Schauſpiel der wolkengekrönten Bergkette der 
Cordilleren, welche ſich majeſtätiſch zu unſerer Linken in 
den blauen Aether thürmte; auf dem Hurrican-Deck wurde, 
als wir in wärmere Breiten kamen, faſt jeden Abend beim 
hellen Lichte des Vollmondes getanzt; die lauen Tropen— 
nächte waren himmliſch — Luna ſegelte in ſilberner Pracht 
in den blauen Tiefen des unbewölkten Himmels, und malte 
leuchtende Pfade über die dunklen Fluthen des friedlichen 
Stillen Meeres, das die Flanken unſeres feuerſchnaubenden 
Renners mit goldenen Funken umſpielte, indeß unterirdiſche 
Feuer blitzende Lichter an den fernſten Gipfeln des in 
Dunkel gehüllten mexikaniſchen Hochgebirgs anzündeten. 

Am frühen Morgen des 27. Novembers liefen wir, 
nach einer Fahrt von 2500 Seemeilen, in die kleine und 
offene, von waldgekrönten Felſen umgebene Bucht von 
San Juan (Huan) del Sur ein, und ankerten inmitten 
derſelben. Jedermann an Bord war vor Allem begierig, 
zu erfahren, ob der an der Oſtſeite des Iſthmus erwartete 
Dampfer, der uns von Greytown nach New-York bringen 
ſollte, bereits angelangt ſei; es war jedoch unmöglich, ir— 
gend eine genaue Auskunft hierüber zu erhalten. 

Um das Schiff ſchwärmte eine Menge von Ruderboten, 
worin halb entkleidete Eingeborne uns mit Geſchrei und 


316 


lebhaften Pantominen zu überreden ſuchten, uns für einen 
halben Dollar die Perſon ans Land rudern zu laſſen. Der 
Wunſch, bald einmal wieder den Fuß auf feſten Boden zu 
ſetzen, war zu ſtark, als daß wir den Aufforderungen der 
Eingebornen hätten lange widerſtehen können, obwohl unſer 
Capitän verſicherte, daß die Leichter des Dampfers uns 
binnen Kurzem unentgeltlich an's Land bringen würden. 
Es währte daher nicht lange, bis ein großer Theil der 
Paſſagiere, worunter auch ich, ſich mit ihrem Handgepäck 
an's Ufer rudern ließ, um den unbekannten Hafenort etwas 
näher in Augenſchein zu nehmen. 

San Juan del Sur verdiente kaum den Namen einer 
Stadt, und war weiter nichts als ein Landungs-Depot der 
Tranfit-Compagnie, in deſſen Nähe die Eingebornen eine 
Anzahl von offenen, mit Ochſenfellen bedeckten Buden und 
Baracken, für welche der Name Häuſer zu gut wäre, er- 
richtet hatten, um daſelbſt von den Durchreiſenden für 
Leckereien, Getränke, Cigarren, Kurioſitäten und dergleichen 
mehr möglichſt viele Zehn-Cents-⸗ und Halbdollarſtücke zu 
erhaſchen. Von Amerikanern und Deutſchen waren mehrere 
Höteld und „Stores“ erbaut worden, welche recht gute 
Geſchäfte machten. Wie es möglich ſein kann, in einem 
ſolchen Platze, der nur einmal im Monat eine Verbindung 
mit der äußeren civiliſirten Welt hatte, eine zufriedene 
Exiſtenz zu führen, war mir ein Räthſel. Da den in 
San Juan del Sur wohnenden Yankees und Deutſchen der 
Platz jedoch zu gefallen ſchien und ſie Niemandem etwas 
zu Leide thaten, ſo hatte natürlich auch Niemand ein Recht, 
etwas gegen ihr Hierſein einzuwenden. 

Zur Zeit unſerer Ankunft in San Juan befanden ſich 
nur wenige Eingeborne im Ort. Die Mehrzahl derſelben 
waren mit ihren Mauleſeln und Fuhrwerken nach der zwölf 
engliſche Meilen von San Juan entfernten Stadt Virgin 


317 


Bay gezogen, wo fie auf die Paſſagiere des Nem-Morfer 
Dampfers warteten, um dieſelben über Land nach San 
Juan del Sur zu bringen. 

Die Zeit bis zur Ankunft der Karavane von Virgin 
Bay, welche unſer Capitän per Telegraph nach San Juan 
beordert, verbrachte ich zum größten Theil auf der Veranda 
des „California Houſe“, an deſſen Giebel ein Schild mit 
den Worten „Deutſches Gaſthaus“ paradirte. Unſer Wirth, 
Mr. Green, wie er ſich ſchrieb — wahrſcheinlich ein Herr 
Grün — ſchien ein Univerſalgenie und ein ächter Welt— 
bürger und keineswegs ein Grüner zu ſein. Seit geraumer 
Zeit war er hier anſäſſig, und führte ein einträgliches Ge— 
ſchäft. Zur Zeit der Flibuſtier-Expedition hatte ihm Herr 
Walter faſt all ſein bewegliches Hab und Gut abgenommen 
und dafür Schatzſcheine auf den neu etablirten Nicaragua— 
Sclaven-Staat gegeben. Unſer Landsmann, der Gott 
dankte, damals das nackte Leben gerettet zu haben, ſcheint 
ſeine Flibuſtier-Verluſte durch doppelte Energie ſo ziemlich 
wieder erſetzt zu haben und macht Geld, wie er mir er— 
zählte. Seine Familie lebte zur Zeit in New-York. Er 
hat den Bibelſpruch: „Es iſt nicht gut, daß man allein 
ſei“, jedoch wohl beherzigt, indem er eine pompös aus— 
ſehende Gelbe, mit kohlſchwarzem Haar, hohem Buſen und 
Gluth ſchießenden Augen als Haushälterin genommen, 
welche mit ihm die Einſamkeit theilt und ihm die Trennung 
von ſeiner Familie weniger bitter erſcheinen läßt. 

Die Ausſicht von der Veranda meines Hötels war 
recht romantiſch. Gerade vor mir lag die halbmondförmige 
Bucht von San Juan mit ihren felſigen, waldgekrönten 
Ufern, hinter ihr das Stille Meer, zum tief-blauen Himmel 
gleichſam emporſteigend; inmitten der Bucht unſer gutes 
Schiff „Amerika“ mit dem Sternenbanner am hohen Maſt. 
Leichte Ruderboote fuhren zwiſchen Schiff und Ufer hin und 


318 


her, welches die vom offenen Meer hereinrollenden lang— 
ſchwellenden Wogen jede halbe Minute mit einem Schaum— 
kranze wie mit Silber umgürteten, während das Donnerr 
der Brandung durch die ſtille Luft erzitterte. Am Strande 
hin und her wogte das Getriebe der Paſſagiere und Ein— 
gebornen, und miſchten ſich die Töne fröhlichen Geſanges 
mit dem Donnern der nahen Brandung. 

Während ich, eine Havanna-Cigarre dampfend, au‘ 
der Veranda des Hötels meine Sieſta hielt, ward es an 
Ufer immer lebendiger. Die meiſten unſerer Pafjagier: 
befanden ſich am Lande, und auch unſer Gepäck war au: 
gelangt und in den Schuppen der Compagnie untergebracht 
Bereits ſprengte die Avantgarde der Mauleſel-Karavane 
von Virgin Bay kommend, im geſtreckten Galopp in die 
Stadt und wurde von den Paſſagieren mit jubelnden 
Hurrah begrüßt. 

Auf dem Schiffe waren wir vor dieſen gelblich-brauner 
Mauleſeltreibern gewarnt worden, welche auf alle nur er— 
denkliche Weiſe von den Paſſagieren Geld erpreſſen würden 
Es wurde vor unſerer Abfahrt vom Schiffe bekannt ge 
macht, daß man jedem Paſſagier am Lande ein „Ticket“ 
(Billet) geben würde, welches ihn je nach ſeiner Wahl zi 
einem Platz in einem der Fuhrwerke oder zu einem Rit 
per Eſel oder Roß nach Virgin Bay berechtige. Jede Extra 
Geldforderung ſei Schwindel und dem Vertrage der Tranſit— 
Compagnie mit den Eingebornen zuwider. 

Um mir möglichſt ſchnell einen guten Platz zu ver— 
ſchaffen, begab ich mich nach der „Ticket-Office“, gerade 
als das Gros der Muleteers und Fuhrleute mit dei 
Roß⸗ und Mauleſelarmee in die Stadt rückte. Paſſagiere 
welche bereits von der „Office“ zurückkamen, ſuchten ſich 
die beſten Thiere aus und boten ihre „Tickets“ den Ein: 
geborenen als Zahlung an, welche dieſe mit Verachtung 


319 


zurückwieſen, und einen oder zwei Dollars oder noch mehr 
Zuzahlung verlangten. Der Lärm, das Geſchrei und 
die zornigen Geſtikulationen ſowohl von Muleteers als 
den erboſten Californiern waren ſehr erheiternd. Hin 
und wieder ſprengten Paſſagiere durch's Gedränge, welche 
ſich einen Eſel erobert hatten, der hinten und vorn aus— 
ſchlug, rechts und links nach den Fußgängern ſchnappte 
und mit flach an's Haupt gelegten Ohren äußerſt feind— 
ſelig ausſah. 

Die Eß- und Trinkbuden machten brillante Geſchäfte. 
Neger und Eingeborne beiderlei Geſchlechts — ſowohl Damen 
als Herren, Alle Cigarren rauchend — waren die Beſitzer 
dieſer Reſtaurationen, wo den Paſſagieren für hartes Geld 
die Delicateſſen Central-Amerikas verabreicht wurden, meiſtens 
unnennbare Confitüren, Kaffee, Chocolade, Eier und braune 
Kuchen. Wer Kurioſitäten als Andenken an San Juan zu 
kaufen wünſchte, der hatte die Wahl zwiſchen Kalabaſchen, 
welche mit blumigem Schnitzwerk verziert waren, worauf 
ſich die Induſtrie der Eingebornen zu beſchränken ſchien, 
und bunten Muſcheln. 

Mit großer Mühe arbeitete ich mich durch's Gedränge 
an die „Office“ der Tranſit-Compagnie und verſchaffte mir 
das ziemlich nutzloſe „Ticket“, worauf ich mich nach dem 
Waaren⸗Schuppen begab, um nachzuſehen, ob mein Gepäck 
glücklich angelangt ſei. Da die Compagnie ſich nur für Koffer 
verantwortlich erklärt hatte, bei denen fünfzig Pfund Ge— 
wicht frei befördert wurden, da zehn Cents in klingender 
Münze für jedes Pfund Uebergewicht gezahlt werden muß— 
ten, und Handkoffer, Mantelſäcke und ähnliche kleinere 
Packete ohne Aufſicht im wilden Durcheinander an's Land 
transportirt wurden, ſo war ich begierig, zunächſt das 
Schickſal meines herrenlos umherwandernden Valiſe 
(Handkoffer) zu erfahren. 


320 


Am Waaren-⸗Schuppen ſtand eine Abtheilung von Ni: 
caragua⸗Linientruppen aufmarſchirt, von denen der Flügel- 
mann, eine impoſante Erſcheinung in ſchmutzigen, bis über 
die Kniee aufgerollten Leinwandhoſen, welche die chocolade— 
farbenen Beine in Natura zeigten, in Schwalbenfrack, Hickory— 
hemd und Strohhut und mit dampfender Cigarre im Munde, 
mir mit kühnem Griff das Bayonnet ſeines alten Feuer— 
ſchloßgewehrs entgegenhielt und mich grimmigen Blicks in 
mir unverſtändlichem Spaniſch zurückbeorderte. Die meiſten 
dieſer barfuß wandernden Grenadiere waren ähnlich wie 
mein Flügelmann uniformirt, Jeder nach ſeinem Geſchmack, 
und ein Jeder von ihnen mit der unvermeidlichen langen 
ſchwarzen Nicaragua-Cigarre im Munde. 

Möglichſt ſchnell vor meinem grimmigen Flügel— 
mann retirirend, begab ich mich zwiſchen die Packwagen, in 
deren Nähe ich meines Gepäckes zu meiner Beruhigung 
anſichtig ward. Die in Nicaragua, wie in allen ſpaniſch— 
amerikaniſchen Ländern, gebräuchlichen Packwagen haben 
meiſtentheils Räder von ungeheuren Dimenſionen, an denen 
alles Eiſenwerk fehlt. Das Kreiſchen der Räder auf ihren 
Achſen, wenn ſich die Stiere in Bewegung ſetzten, welche 
von nacktbeinigen, vor den Thieren marſchierenden, laut 
ſchreienden Treibern vermittelſt eiſenbeſchlagener Piken ge— 
leitet wurden, war wahrhaft ohrenzerreißend und gab die 
höheren Discantnoten zu dem uns umrauſchenden Gemenge 
thieriſcher und menſchlicher Töne. Die Langſamkeit, mit 
der das Aufladen des Gepäcks betrieben ward, überſtieg 
alle Begriffe. 

Nicht weit von den Packwagen ſtanden in langer Reihe 
die Paſſagierwagen, ſchwere, unbeholfene Fuhrwerke, mit 
den ſchändlichſten Schindmähren beſpannt, welche je die Rolle 
von Kutſchpferden geſpielt haben. Faſt ein jeder dieſer 
Wagen war gedrängt voll von Paſſagieren, Männern, 


321 


Frauen und Kindern, von denen die Damen nebſt der Ju⸗ 
gend bereits von vier bis zu ſechs Stunden lang dort ge- 
ſeſſen hatten und geduldig auf die Abfahrt warteten. 

Da mir die Eſel und Reitpferde noch weniger als die 
Wagen als Transportmittel zuſagten, jo beſchloß ich zu- 
vörderſt, mein Heil in einem der letzteren zu verſuchen. 
In einem wie mir deuchte ziemlich leichten Fuhrwerk er— 
oberte ich mir einen Platz auf dem Kutſcherbock und war 
froh, als unſer Wagen bereits um drei Uhr Nachmittags 
reiſefertig war. 0 

Mein Kutſcher, deſſen eines Bein um mehrere Zoll 
kürzer als ſein anderes war und der wie alle Nicaraguer 
ein drittehalb Fuß langes, in einer mit Kupferknöpfen 
beſchlagenen Lederſcheide ſteckendes wuchtiges Haumeſſer 
(Machete) am Gürtel hängen hatte, hinkte, eine Cigarre 
dampfend und eine aus dem Urwald geſchnittene Peitſche 
ſchwingend, ein paar Mal um unſere Equipage herum, ſein 
Geſpann mit kritiſchen Blicken muſternd, ehe er auf dem Kut⸗ 
ſcherbock neben mir Platz nahm. Dann ging's, indem er mit 
einem lauten Halloh die Thiere aufmunterte, endlich vorwärts. 

Langſam manöverirte er unſere Karoſſe durch's Ge— 
dränge, und ich ſchätzte mich glücklich, nachdem er in den 
erſten zehn Minuten verſucht, wenigſtens ein halbes Dutzend 
Bäume umzufahren, endlich aus dem Gewirr der Wagen 
und der unter lautem Hurrah auf und ab reitenden Eſel— 
reiter mit heilen Knochen herauszukommen. 

Wir hatten ein Zweigeſpann vor dem Wagen, Eſel 
und Roß, die beide äußerſt niedergeſchlagen ausſahen und 
weder durch Schläge, noch Zureden aus dem Schritt zu 
bringen waren. Auch war es ein abſolutes Ding der Un— 
möglichkeit, die Thiere zu bewegen, gleichzeitig anzuziehen. 
Der Schimmel namentlich zeichnete ſich durch ſeine Störrig— 
keit aus und weigerte ſich entſchieden, anzuziehen, wenn der 


21 


322 


Eſel fein Beſtes that. Ein zweiter Eſel, der hinten am 
Wagen angebunden war, that ſein Möglichſtes, das Fuhr⸗ 
werk mit ſteifem Nacken rückwärts zu ziehen. 

Meine Reiſegeſellſchaft beſtand aus einer Amerikaner⸗ 
Familie, welche aus den Goldlanden nach dem Oſten heim— 
kehrte. Die Frau, eine ſchmächtige Südländerin mit halb 
durchſichtigem Teint, wie er von Amerikanern ſo ſehr be— 
wundert wird, war in tiefe Trauer gekleidet. Zwei Brüder 
waren ihr in den ſüdlichen Armeen in Virginien gefallen. 
Ihr Gemahl, ein Yankee von ächtem Schrot und Korn, 
fragte bereits in den zehn Minuten unſerer Bekanntſchaft 
meine ganze Lebensgeſchichte von mir aus. Meine Schick⸗ 
ſale und Wanderzüge in beiden Hemiſphären ſchienen ihm 
bedeutenden Reſpekt vor mir einzuflößen, und es währte 
keine weitere zehn Minuten, bis auch ich über ſeine Erleb— 
niſſe ziemlich gut unterrichtet war. Er hatte einen Feldzug 
auf der „Peninſula“ unter MecClellan mitgemacht, war 
ſodann Stiefel⸗Lieferant in Waſhington geweſen, ſpeculirte 
in Gold, wobei all ſein mit Stiefeln erworbener Reichthum 
wieder verſchwand, wanderte nach Californien und Waſhoe 
aus, wo er glücklich in claims und Füßen machte und 
ging jetzt wieder heim nach den Staaten. Die beiden 
Buben, Lee und Sherman, aßen Nicaragua-Candy und 
freuten ſich über den Schimmel und Eſel. Bob Sherman 
titulirte ſeinen jüngeren Bruder, der den Schimmel bean— 
ſpruchte, mit Rebell und wollte ihm Candy wegnehmen, 
worauf die Mutter mit dem durchſichtigen Teint den kleinen 
Lee zu ſich auf den Schoß nahm und der Papa dem Bob 
auf die Schultern klopfte. Ich machte den ſtillen Beob- 
achter, wie ſich ſo ein Stückchen Weltgeſchichte neben mir 
abſpann. 

Langſam fuhren wir durch die etwas rückwärts gelegene 
Hauptſtraße von San Juan, wo ſich viele unſerer Paſſa⸗ 


323 


giere verſammelt hatten und ſich theils mit Speiſe und 
Trank zu der bevorſtehenden Reiſe ſtärkten, theils, im 
Schatten eines Cocusbaumes lagernd, den Tönen der Man⸗ 
dolinen lauſchten, welche nebſt heiterm Geſange aus dem 
Innern einer Adobe-Wohnung hervorklangen. Mehrere der 
Häuſer an dieſer Hauptſtraße, wenn eine Reihe von Bretter 
buden mit Blätterdächern und „Adobes“ dieſen Namen ver— 
dient, waren unbewohnt. Thüren und Fenſter waren ver— 
nagelt, und die Straße hatte trotz des Getümmels der 
California-Paſſagiere ein ſehr troſtloſes Ausſehen. Im 
gewöhnlichen Alltagsleben, wenn kein Dampfer im Hafen 
liegt, möchte San Juan del Sur ein beneidenswerthes Afyl 
für einen menſchenfeindlichen Einſiedler abgeben! 

Sobald wir die letzten Häuſer der Stadt hinter uns 
hatten, bog unſer Dreigeſpann in den dunklen Tropenwald 
ein, durch welchen ſich die Tranſit-Straße wie ein heller 
Faden hinſchlängelte. Hin und wieder ſtanden Rohr- und 
Maisfelder am Wege, die von kreuz und quer über ein- 
ander geworfenen rieſigen Baumſtämmen eingefenzt waren, 
und alle paar hundert Schritt kamen wir an Eß- und Trink⸗ 
ſtänden vorbei, wo von den Eingebornen oder von Negern 
den Reiſenden Delicateſſen und Getränke zum Verkauf an⸗ 
geboten wurden. 

Unſer Fuhrmann, der bald rechts, bald links in die 
Büſche hineinfuhr, faſt an jeder der zahlreichen Brücken 
Viertelſtunden lang ſtecken blieb und uns alle Augenblicke 
der Gefahr des Umwerfens ausſetzte, würde einen Waſhoe— 
Stagekutſcher, der ſein ſchnaubendes Sechsgeſpann im ge— 
ſtreckten Galopp über die Sierra peitſcht, zur Verzweiflung 
gebracht haben. Der langſamen Reife herzlich ſatt, ſchlu— 
gen der Yankee und meine Wenigkeit ſich ſeitwärts in die 
Büſche, wo wir uns ein paar tüchtige Dornenknittel als 
Peitſchen abſchnitten, indeß der Gelbe, der neben den Thie— 


* 


324 


ren auf und ab hinkte, dieſelben mit freundlichen Worten 
zum Weitergehen zu überreden ſuchte. 

Ich hatte einen beſonderen Groll auf den Schimmel, der 
bereits in der Stadt, als ich neben ihm ſtand, wiederholt 
nach mir gebiſſen, und der Yankee nahm den Eſel in Arbeit 
— und ehe wir es uns verſahen, ging's in ſchlankem Trab 
vorwärts, indeß unſere Dornenknittel ſchnell in Fetzen zer— 
ſprangen. Ein halbes Dutzend Californier, die wie toll an 
uns vorbei galoppirten, hieben gleichfalls auf unſere Thiere 
ein. Dieſen ſchien jedoch der Spaß ſchlecht zu gefallen. 
Plötzlich bogen ſie, über die ſchändliche Behandlung ent— 
rüſtet, ſcharf in den Wald ein, wo unſer Wagen in ſchiefer 
Stellung an einem Bananabaume Halt machte, während 
der Eſel, welcher hinten am Fuhrwerk angebunden war, 
ſeinen Strick zerriß und langſam zur Stadt zurücktrabte. 

Da die Sonne bereits ſtark im Niedergehen begriffen 
war, und ich befürchtete, falls ich mich länger auf unſere 
Extrapoſt verließe, ſpät in der Nacht nach Virgin Bay zu 
kommen, ſo beſchloß ich, die Strecke nach dem nur noch ein 
paar Meilen entfernten „half way house“ zu Fuß zu= 
rückzulegen und mir dort wo möglich ein gutes Reitpferd 
zu verſchaffen. Das Wetter war herrlich und durchaus 
nicht übermäßig warm. Die Regenzeit, welche erſt ſeit ei— 
nigen Wochen vorüber war, ließ die Vegetation noch im 
herrlichſten Grün prangen, und ein kühler Seewind rauſchte 
durch den dunklen Wald. Die Landſtraße war beſſer als 
ich erwartet, und an Unterhaltung unterwegs fehlte es 
nicht, da ſowohl Eingeborne als Paſſagiere faſt fortwährend 
im wilden Durcheinander bei mir vorbeiſprengten. 

Wie ich, rüſtig vorwärts marſchirend, die Wafler- 
ſcheide zwiſchen dem Stillen Meere und dem See Nicara— 
gua erſtiegen hatte, gewahrte ich plötzlich die gewaltige 
Kegelkuppe des Vulcans Omotepec, der, von der Abend— 


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ſonne beleuchtet, majeſtätiſch über die grünen Baummipfel 
in den blauen Aether ragte. Es war ein herrliches Schau— 
ſpiel, einzig in ſeiner Art, und kam ſo unerwartet, daß ich, 
in Verwunderung verſunken, wohl eine Viertelſtunde lang 
wie angemauert ſtehen blieb. 

Im „Halbweghauſe“ miethete ich mir, nachdem ich 
mich daſelbſt zuvor mit einer Taſſe vorzüglicher Chocolade 
geſtärkt, für anderthalb Dollars eine feurige Rozinante, 
auf der ich bald wohlgemuth weiter ritt. Ganz unerwartet 
überraſchte mich bereits nach einer guten halben Stunde die 
Nacht, welche in dieſem Breitengrade ſehr ſchnell hereinbricht. 

Der Ritt nach Virgin Bay, ganz allein und unbe— 
waffnet wie ich war, in dunkler Nacht und in einem frem— 
den, nur halb civiliſirten Lande, war einer der unklugſten 
Streiche, welche ich mir je in meinem Leben habe zu Schul— 
den kommen laſſen. Oefters begegneten mir Eingeborne, 
die halb betrunken waren und mit ihren drittehalb Fuß 
langen Meſſern ſehr verdächtig ausſahen. Einer derſelben 
machte den Verſuch, meinem Pferde in den Zügel fallen, 
und zog, als ich mit einem gewichtigen Strick, den ich als 
Peitſche benutzte, nach ihm ausholte, drohend ſein Meſſer. 
Doch kam ich mit dem bloßen Schrecken davon, da mein 
Schlachtroß bald im Galopp von meinem Widerſacher fort— 


ſprengte. Zwiſchen den dunklen Büſchen glänzten öfters 


die Lichter von Trinkſtänden, bei denen ich mich jedoch nicht 
aufhielt, ſondern mein Roß unbarmherzig antrieb, um wo 
möglich eine mir etwa vorangegangene Reiſegeſellſchaft ein— 
zuholen. 

Bald darauf traf ich mit einer Geſellſchaft von ſechs 
Californiern zuſammen, welche an einem der Trinkſtände 
Halt gemacht hatten, gewahrte jedoch zu meinem nicht ge— 
ringen Aerger, daß dieſelben in keineswegs nüchternem Zu⸗ 
ſtande waren und alſo ſehr ſchlechte Reiſebegleiter ſein 


326 


würden. Ich ließ mir ein Glas aguardiente reichen und wollte 
allein weiter reiten, als ein von mir nicht bemerkter, drei— 
viertel angetrunkener Meſtize plötzlich dicht vor mir im Graſe 
einen Kriegsgeſang anſtimmte, der meine Rozinante ſo ſehr 
außer Faſſung brachte, daß ſie mit beiden Hinterbeinen auf 
einmal ausſchlug — gerade in den Trinkſtand hinein. Nach 
rechts und nach links, durcheinander hin flogen Gläſer und 
Flaſchen, Orangen, Backwerk, Cocusnüſſe und Bananen, 
und fort ſprengte mein Gaul, von den carachos der ihre 
Meſſer ſchwingenden Eingebornen verfolgt. Von Barm— 
herzigkeit meinerſeits gegen meine Rozinante war natürlich 
keine Rede und ich wundere mich nur, daß ich ſie nicht zu 
Tode geprügelt. 

Bald war ich wieder allein im Finſtern und begegnete 
von jetzt an nur noch einigen Zügen von Muleteers, die 
mit ihren Thieren von Virgin Bay nach San Juan zu— 
rückkehrten. 

Meine Phantaſie bevölkerte die dunklen Büſche rechts 
und links an der Landſtraße mit den Schatten kämpfender 
Flibuſtier, und mancher ſchwankende, nackte Aſt nahm die 
Geſtalt eines rieſigen Reiters an, der ſich mir drohend ent— 
gegenſtellte. Ich ſprengte hier über geſchichtlichen Boden, 
den Walker mit ſeinen wilden Flibuſtiern, Nicaraguer, 
Guatemaler und Coſta Ricaner, ſich wieder und wieder 
ſtreitig gemacht hatten. Dort hinter jener Anhöhe lagen 
vielleicht die verwegenen Scharfſchützen, welche mit ſicherem 
Auge und mit feſter Hand den Tod aus ihren langen 
Büchſen in die Reihen des zehnfach überlegenen Feindes 
ſandten, welche den Krieg aus Luſt zum Abenteuerlichen 
trieben, jenem Manne blindlings gehorchend, der ein neues 
Sclavenreich in Central-Amerika gründen wollte. 

Froh war ich, als ich die Lichter von Virgin Bay vor 
mir erblickte und die Brandung des nahen Sees durch die ſtille 


327 


Nacht zu mir herübertönte. Nachdem ich mein treues Roß 


an den erften beften Baum gebunden und dort feinem Schid- 
ſal überlaſſen, wanderte ich zunächſt durch die mit hell er⸗ 
leuchteten Buden, Stores und Hotels beſetzte und mit lär— 
menden Paſſagieren und Eingebornen angefüllte lange Haupt— 
ſtraße des Orts nach dem See, um mich an Bord des 
Dampfers zu begeben und die Stunde feiner Abfahrt aus— 
zukundſchaften. Am untern Ende eines langen und ftatt- 
lichen Holzquais, an dem der See mit mächtigen Wellen 
hinbrauſ'te, fand ich unſern Dampfer, der jedoch durchaus 
keine Anſtalten zur baldigen Abreiſe zeigte. Vor Tages⸗ 
anbruch war auch offenbar hieran gar nicht zu denken, 
da noch manche Stunde vergehen mußte, bis das zahlreiche 
Gepäck der Paſſagiere anlangen würde. 

Ich begab mich daher bald wieder in die Stadt, um 
die Ankunft der Gepäckwagen abzuwarten. Das lebhafte Ge⸗ 
treibe daſelbſt während der Nacht war ſehr unterhaltend. 
Alle zehn Minuten langte eine neue Geſellſchaft von Paſſa⸗ 
gieren von San Juan an, deren Erſcheinen jedesmal mit 
dem Klingeln unzähliger Glocken und dem betäubenden 
Getöſe der Gongs begrüßt wurde, womit die hungerigen 
Gäſte von den Bewohnern des „Jungfrauen-Hafens“ zum 
Abendmahl eingeladen wurden. An verſchiedenen Plätzen 
hatten ſich Geſellſchaften im Freien gelagert, welche heitere 
Geſänge vortrugen. Eine Abtheilung Deutſcher marſchirte 
die Hauptſtraße des Orts ſingend auf und ab und erntete 
ungemeſſenen Beifall durch ihren kräftigen, vierſtimmigen 
Männergeſang, welcher von dem dumpfen Rauſchen der 
nahen Brandung begleitet wurde. 

An einem Tiſche, wo von dunkeläugigen Nicaragua⸗ 
Schönen Chocolade ausgeſchenkt ward, nahm ich Platz und 
beobachtete das mich umgebende fremdartige Treiben. Die 
feurigen Augen, die regelmäßigen Geſichtszüge und der 


2328 


ſchöne Wuchs der Töchter Nicaraguas, welche faſt ohne 
Ausnahme etwas ſehr Einnehmendes ſowohl in Benehmen 
als Kleidung hatten, intereſſirten mich faſt noch mehr als 
die romantiſch-wilde Umgebung des Ortes. Die ſchönſte 
der Schönen von Virgin Bay verſah an meinem Tiſche ihr 
Amt als Mundſchenk mit ſo viel natürlicher Grazie, daß 
ich mich bewogen fühlte, mehrere Taſſen ganz vorzüglicher 
Chocolade zu trinken, um nur etwas länger in ihrer Nähe 
verweilen zu können. 

Ein infernaliſcher Lärm, der plötzlich aus einer der 
nahen Buden erſcholl, wohin von allen Seiten wie auf ein 
gegebenes Signal eine dichte Menſchenmenge ſtrömte, bewog 
mich jedoch, meine Chocoladen-Spenderin zu verlaſſen und 
mich nach der Urſache deſſelben zu erkundigen. Er kam 
aus einer der vielen Spielbuden, wo) den Paſſagieren mit 
genialem Hazardſpiel ihr überflüſſiges Reiſe-Kleingeld ab- 
genommen wurde. Cin Californier, der ſoeben achthundert 
Dollars verloren hatte, klagte den Bankhalter des Schwin— 
dels an und fluchte wie nur ein biederer Goldgräber zu 
fluchen verſteht, obgleich ſeine Lungenanſtrengung ihm offen— 
bar zu nichts nützte. 

Die auf dem Iſthmus üblichen Hazardſpiele werden 
theils mit Karten, theils mit Fingerhüten geſpielt. 

Zum Kartenſpiel werden drei Karten gebraucht. Der 
Bankhalter legt ſie zuerſt alle drei offen vor ſich hin, miſcht ſie 
alsdann und legt ſie zuletzt verdeckt vor ſich auf den Tiſch, 
und wer Luſt hat, mag wetten, ob er eine der drei Karten 
nennen kann. Der Bankhalter macht mit Vorbedacht wie 
zufällig Merkmale an den Karten, biegt die Ecken um, be— 
zeichnet ſie mit Flecken oder dergleichen, ſo daß die Zu— 
ſchauer, welche dieſe Zeichen bemerkt haben, ſchwören, ſie 
wiſſen ganz genau die Karte, welche ſie nennen ſollen. 
Aber gerade dieſe Zeichen, welche der Spieler geſchickt und 


329 


unbemerkt verändert, find das Verführeriſche beim Spiel, 
und der Bankhalter, der ſo wie ſo immer auf zwei gegen 
eine Karte wettet, gewinnt faſt immer. 

Das Fingerhutſpiel wird nach derſelben Theorie mit 
drei Fingerhüten geſpielt, meiſtens auf einem der Kniee des 
mit der ehrlichſten Miene von der Welt da ſitzenden Finger— 
hut⸗Bankiers. Dieſer rollt ein kleines Kügelchen mit fabel— 
hafter Geſchwindigkeit bald unter den einen, bald unter den 
andern Fingerhut und läßt es zuletzt unter einem derſelben 
liegen. Die meiſten der Zuſchauer nun glauben ganz be— 
ſtimmt, den Fingerhut nennen zu können, unter dem das 
Kügelchen verſchwunden iſt. Es gewinnt aber Niemand, 
außer der Fingerhut-Spieler läßt Jemanden mit Willen ein 
paar Mal den richtigen Fingerhut treffen, um ihn hitzig zu 
machen, auf daß er hoch ſpiele. Es iſt für den Spieler 
ein Leichtes, die Kugel beim Aufheben des Fingerhuts ver- 
ſchwinden zu laſſen, und der Betrug dabei iſt ſo offenbar, 
daß es Wunder nimmt, wie ſich Jemand verleiten laſſen 
kann, ſein Geld ſo fortzuwerfen. Unſer californiſcher Freund, 
der ſeine achthundert Dollars unter dem Fingerhut verloren, 
fuhr fort, ſolch einen Höllenlärm zu machen und dabei einen 
geladenen Revolver, den Finger am Drücker und die Mün- 
dung gegen den Fingerhut-Künſtler gerichtet, fo unvorſichtig 
in der Hand zu halten, daß dieſer es für rathſam fand, 
mit ſeinem Naube auf kurze Zeit vom Schauplatz ſeiner 
Induſtrie in der Dunkelheit zu verſchwinden. Er war je— 
doch bald wieder da, und muß, nach dem Gedränge und 
den Verwünſchungen der Umſtehenden zu urtheilen, noch 
manchen Dollar bis Mitternacht mit ſeinen Fingerhüten ver— 
dient haben. 

Gegen Mitternacht meldeten ſich endlich die Gepäck— 
wagen mit ihren kreiſchenden Rädern, und fuhren langſam 
durch die Stadt nach dem Dampfer. Ich folgte ihnen als— 


330 


bald, um meines Handgepäcks nicht verluftig zu werden. 
Dieſes wurde von den Wagen in wildem Durcheinander auf 
den Quai geworfen, und Jeder mußte für das ſeinige 
ſorgen und Acht geben, daß ihm nichts abhanden komme. 
Da die Tranſit-Compagnie, wie bereits früher bemerkt, ſich 
nicht für kleinere Packete verantwortlich hielt und an Spig- 
buben eben kein Mangel war, ſo hatte ich begründete Ur— 
ſache, für mein herrenlos gewordenes „Valiſe“ beſorgt zu 
ſein. Ich war jedoch ſo glücklich, daſſelbe bald im Ge— 
dränge zu erhaſchen, und war froh, als ich es unverletzt 
an Bord gebracht, wo mehrere meiner Mitreiſenden, denen 
ihre Mantelſäcke entweder aufgeſchnitten oder gar unſichtbar 
geworden waren, laut lamentirten. 

Da bereits alle Schlafſtellen auf dem Dampfer mit 
Beſchlag belegt waren, ſo ſuchte ich mir ein Ruheplätzchen 
auf dem Quarterdeck, wo ich es mir auf den harten Brettern 
den Umſtänden nach bequem machte, um dort das Signal 
zur Abreiſe in Geduld abzuwarten. 

Wie herrlich die laue Tropennacht dort auf dem hohen 
Verdeck des Nicaragua-Dampfers! Dunkel vor mir hob 
ſich die gewaltige Kegelkuppe des Vulcans Omotepec aus 
den Wogen des Sees in die blaue Ferne, und das Kreuz 
des Südens glänzte in Demantpracht in einem Gewirr 
goldener Sterne; aus der Stadt herüber tönten vaterlän— 
diſche Geſänge, und unter mir rauſchte der See mir ein 
Schlummerlied. Wie ich halb träumend in die lichtdäm— 
mernde Ferne hinausblickte, hob ſich im Nordoſt plötzlich eine 
blendend⸗glühende Feuerkugel, deren ſcheinbarer Durchmeſſer 
dem der untergehenden Sonne gleich kam. Langſam erſtieg 
das Meteor den Zenith des ſternenbeſäeten Gewölbes, wo 
es plötzlich erloſch. War es eine irrende Welt, welche, 
aus den unbeſtimmten Tiefen des Himmels kommend, die 
Bahn unſeres Erdballs gekreuzt und, von deſſen Atmoſphäre 


331 


entzündet, plötzlich einen Feuertod gefunden? oder war es 
eine Schöpfung unſerer Erde, eins von jenen unerklärbaren 
electriſchen Phänomenen, welche, wie das Nordlicht an den 
Grenzen unſeres Luftkreiſes, ein kurzes aber blendendes 
Daſein feiern? Mir war es ein leuchtender Himmelsbote, 
welcher mir einen Gruß gebracht über Länder und Meere 
von den Lieben des fernen Vaterlandes. 

Unvermerkt ward ich im Geiſte der Gegenwart ent— 
rückt, und Vaterland und Tropenwelt füllten denſelben mit 
Zauberbildern, bis plötzlich das ſchrille Signal des Dampfers 
mich aus einem kurzen Schlummer aufſchreckte, und als das 
Kreuz des Südens in dämmernder Morgenſtunde erbleichte 
und ſich die Gebirgsufer des Sees deutlicher zeigten, fingen 
die Räder des Dampfers an, ſich brauſend zu drehen; 
hinaus ging's in die wogende Ferne, und neue Bilder ent— 
rollten ſich vor meinen Blicken. 

Der jetzt ausgebrannte Vulcan Omotepec, welchen ich 
bereits Tags zuvor von der Landſtraße zwiſchen San Juan 
und Virgin Bay bewundert hatte, zog nebſt dem neben ihm 
ſtehenden, etwas niedrigeren Madeira mehr als alles An- 
dere meine Aufmerkſamkeit auf ſich. Die regelmäßige Kegel- 
form dieſer Geſchwiſterberge, welche von faſt allen Punkten 
des Iſthmus und ſogar vom Stillen Meere aus deutlich 
geſehen werden, und die ſich direct aus dem Schooße des 
Sees Nicaragua in den blauen Aether erheben, war einzig 
in ihrer Art. Schrecklich ſchön muß das Schauſpiel ge— 
weſen ſein, wenn dieſe Berge, mit glühenden Lavabändern 
geſchmückt und von wildkochenden Wogen umbrauſ't, ihre 
dampfenden Häupter wie zwei zornige Titanenſöhne über 
dem feuerfarbenen See hoch in den finſtern Wolken ſchüttel— 
ten, und mit hölliſchem Athem Aſche und Gluthmaſſen vom 
Stillen Meere bis zur Caraibiſchen See über den zittern— 
den Iſthmus ausſchütteten. Aber jene Zeiten des Schreckens 


332 


liegen in dunkler Vergangenheit. Mit ſeinem Zwillings— 
bruder, dem Madeira, auf dieſelbe Inſel gebaut, liegt der 
Omotepec jetzt friedlich da im Schooße blauer Wellen, 
und nur noch die Wahrzeichen alter Lavaſtröme, welche in 
ſchwarzen Furchen die grünen Abhänge dieſer Kegelbergrieſen 
durchziehen, mahnen an die hölliſchen Feuer, welche unter 
ihren Grundfeſten ſchlummern. 

Die zahlreichen Vulcane, welche ſich am Stillen Meere 
entlang in faſt gerader Linie von Fonſeca bis zu der von 
Nicoya hinziehen, bilden nächſt den großen Inland-Seen 
— Managua und Nicaragua — das Hauptcharakteriſticum 
der Bodenformation des Staates Nicaragua. Seit der 
Zeit der ſpaniſchen Eroberung ſind zahlreiche feuerſpeiende 
Berge dort abwechſelnd mehr oder minder in Thätigkeit 
geweſen; gegenwärtig ſcheinen ſie jedoch, mit Ausnahme der 
Vulcane von Maſaya, Coſeguina, Momotombo und Oroſi, 
ſämmtlich erloſchen zu ſein. 

Zur Zeit der ſpaniſchen Eroberung war der Vulcan 
von Maſaya, damals die Hölle von Maſaya genannt, der 
Schrecken des Landes. Im Jahre 1670 fand ein Ausbruch 
ſtatt, bei dem ein Lavaſtrom durch den nördlichen Abhang 
des Vulcans brach und faſt zwanzig Meilen weit, bis in 
die Nähe des Sees Managua, durch's Land wogte. Ge— 
genwärtig kreuzt die Landſtraße, welche von Granada nach 
Leon führt, dieſes Lavafeld, das mit ſeinen zerriſſenen, 
pechſchwarzen Lavamaſſen, die in rieſigen Tafeln und Blöcken 
regellos über und durch einander daliegen, einen ſchrecklich 
wilden Anblick gewährt, wie die lebhafteſte Phantaſie ihn 
ſich kaum ſchreckhafter ausmalen könnte. Solch eine chao— 
tiſche Lava-Wüſte, gelegen inmitten der reichſten Tropen— 
natur, muß dem Beſchauer ein Bild entſetzlich grauſiger 
Verlaſſenheit in die Seele malen. — Seit der Zeit dieſes 
Ausbruchs iſt der Vulcan öfters in Thätigkeit geweſen, das 


333 


letzte Mal im Jahre 1857, als er ungeheure Maſſen von 
Sand und Aſche aus ſeinem Krater ſchleuderte. n 

Der Ausbruch des Vulans von Coſeguina im Jahre 
1863 war einer der ſchrecklichſten in den Annalen vulcani⸗ 
ſcher Eruptionen. Er begann am 30. Januar und dauerte 
ununterbrochen drei Tage und drei Nächte lang. Solch 
ungeheure Maſſen von Aſche und Sand wurden aus dem 
Krater emporgeſchleudert, der pechſchwarze Rauchwolken 
dämoniſch weit und breit durch die Luft rollte, daß die 
Sonne bis auf eine Entfernung von hundert Meilen gänz— 
lich verfinſtert war. Schauer von Sand fielen auf einem 
Durchmeſſer von fünfzehnhundert Meilen, in Jamaica, Santa 
Fé de Bogota und Mexico, und ein Schiff ſegelte zur ſel— 
ben Zeit eine Strecke von fünfzig Leguas durch ſchwim— 
mende Maſſen von Bimsſtein, welche die Oberfläche des 
Waſſers buchſtäblich bedeckten. Der Donner der Explo— 
ſionen war in einer Entfernung von achthundert Meilen 
deutlich zu hören. Am vierten Tage trat die Ruhe ebenſo 
plötzlich wieder ein, wie der Ausbruch unerwartet gekommen 
war, und ſeit jener Zeit geben nur noch die hin und wie— 
der ſeinen Gipfel umflatternden Rauchwolken ein Zeichen, 
daß der Rieſe nur ſchlummert. | 

Sowohl der Vulcan Momotombo, als der am ſüd— 
lichen Ufer des Sees gelegene, 8650 Fuß hohe Vulcan Hue 
ſind heutzutage in unausgeſetzter Thätigkeit. 

Außer den genannten Vulcanen giebt es Hunderte von 
ausgebrannten Kratern in den Bergen, welche, von ver— 
brannten Felsmaſſen eingeſchloſſen und öfters mit Waſſer 
gefüllt, alsdann kleine Landſeen bilden. Der nicht unbe⸗ 
deutende See von Maſaya iſt einer dieſer Krater-Seen 
Nicaraguas. Kein Land der Erde — die Inſel Island 
etwa ausgenommen — zeigt ſo viele Merkmale vulcaniſcher 
Thätigkeit, wie der ſchmale Landſtreifen in Nicaragua, 


334 


welcher ſich zwiſchen ſeinen Binnenſeen und dem Stillen 
Meere hinzieht. 

Der See Nicaragua, auf dem wir hinfuhren, der 
Cocibolca der Ureinwohner, hat eine Länge von 110 und 
eine Durchſchnittsbreite von 35 engliſchen Meilen. Die 
Waſſer deſſelben nehmen gegen die Ufer hin allmählich an 
Tiefe ab, und nur an wenigen Stellen können größere 
Schiffe landen. Doch iſt ſeine Durchſchnittstiefe für die 
Schifffahrt vollkommen genügend. Vor dem Ausfluß des 
San Juan iſt die Tiefe nur von fünf bis zu zehn Fuß, 
an andern Stellen dagegen vierzig Faden. Es iſt dieſer 
See vielleicht der ſchönſte der Landſeen Amerikas. Die in 
regelmäßiger Kegelform ſich aus feinem Schooße empor- 
hebenden Vulcane Omotepec und Madeira, die mit Wald 
bedeckten Gebirgslande, welche fein ſüdliches Ufer ums 
kränzen, ſowie die an ſeine nördliche Küſte ſich lehnenden 
wellenförmigen grünen Savannen, die Heimath unzähliger 
Rinderheerden, die zahlreichen grünen Inſeln, welche aus 
ſeinem klaren Spiegel emportauchen, und die ſich überall 
bis hart an's Waſſer drängende reiche tropiſche Vegetation 
entzücken das Auge durch ihre mannigfaltigen, maleriſchen 
Gruppirungen. 

Am ſüdlichen Ufer des Sees die ehemals bedeutende, 
von Hernandez de Cordova im 1822 gegründete und auf 
Befehl Walkers im October 1856 zerſtörte Stadt Granada, 
einſt die Haupthandelsſtadt Nicaraguas. Im ſiebzehnten 
Jahrhundert war Granada eine der bedeutendſten Städte des 
ſpaniſchen Amerika. Es führte einen directen Handel mit 
Guatemala, Honduras und San Salvador, mit Peru, Panama, 
Carthagena und Spanien. Ein damals das Land bereiſender 
engliſcher Mönch mit Namen Gage erzählt, daß er an 
einem Tage achtzehnhundert mit Indigo, Cochenille und 
Häuten beladene Mauleſel in die Stadt ziehen ſah, und 


335 


daß zwei Tage darauf wieder neunhundert Packthiere da⸗ 
ſelbſt anlangten, von denen der dritte Theil mit Gold und 
Silber — Tribut des Königs — beladen war. Als Ge- 
neral Henningſen, der unter Walker ein Commando führte, 
die Stadt, welche die Flibuſtier nicht zu halten vermochten, 
zerſtörte, betrug ihre Bevölkerung noch an fünfzehntauſend 
Seelen. Es befanden ſich zu der Zeit unter andern her- 
vorragenden Gebäulichkeiten ſieben Kirchen, ein Hoſpital und 
eine Univerſität in der Stadt. 

An demſelben Ufer mit Granada, aber vierzig Meilen 
davon entfernt, liegt die alte Stadt Rivas, eine der be⸗ 
deutendſten Städte Nicaraguas, welche wie Granada der 
Schauplatz mehrerer der heftigſten Flibuſtier-Kämpfe war. 
In ihren Mauern wurde das Ende des Flibuſtier⸗-Dramas 
geſpielt, als Walker mit dem Reſt ſeiner Mannſchaft an 
den Vereinigten Staaten Flottencommandeur H. Davis 
capitulirte. 

Der Handel Nicaraguas hat ſeit der Vertreibung der 
Spanier an Bedeutung ungeheuer verloren. Daſſelbe 
Schauſpiel hat ſich hier wie in faſt allen ehemalig ſpaniſch⸗ 
amerikaniſchen Colonien wiederholt. Die Bevölkerung — 
zum größten Theil eine Miſchlingsrace — hat ſich, nach— 
dem fie ſich nur einmal im Befreiungskriege ermannt, dar— 
auf wieder ganz der ihr angebornen Trägheit ergeben, und 
die ehemals ſo blühenden Städte dieſer Länder ſind alle⸗ 
ſammt mehr oder minder in Verfall gerathen. Die Haupt⸗ 
ſtadt des Landes, das einſt ſo blühende Leon, zur Zeit 
der ſpaniſchen Herrſchaft eine Stadt von Paläſten, iſt ge⸗ 
genwärtig ein wahres Jammerbild des Verfalls. Revolu⸗ 
tionen, welche Feuersbrünſte und Plünderungen im Gefolge 
hatten, haben den ehemaligen Glanz der Stadt zerſtört. 
Ganze Straßen ſind verlaſſen und mit Sträuchen und 
Unkraut überwachſen, aus denen die Ueberreſte in Staub 


336 


ſinkender Prachtgebäude traurig hervorragen. Innerhalb 
ſtolzer Marmorhöfe ſtehen elende Rohrhütten, und die 
prächtige Kathedrale iſt ringsum von den Ruinen ge 
Paläſte umgeben. 

Die Ergiebigkeit des Bodens von Nicaragua wird 
von keinem Lande der Welt übertroffen und müßte, hätte 
jenes eine arbeitſame, intelligente Bevölkerung, demſelben 
bald eine geachtete Stellung im Weltverkehr ſichern. 

Unter den zahlreichen tropiſchen Landesproducten bringt 
der Cacao dem Anbauer des Bodens den meiſten Nutzen, 
Es iſt allerdings große Sorgfalt nöthig, um die Schößlinge 
und jungen Bäume aufzuziehen, und es erfordert ſowohl 
Capital als Arbeit, um eine Cacaopflanzung anzulegen. 
Iſt eine ſolche jedoch einmal ſicher gegründet, ſo iſt es ein 
Leichtes, dieſelbe durch Anpflanzung neuer Bäume jährlich 
zu vergrößern. Ein Mann iſt im Stande, tauſend Bäume 
in Obhut zu nehmen und ihre Ernte einzuſammeln, wes— 
halb Cacaopflanzungen weit werthvoller ſind als die von 
Zucker, Indigo, Baumwolle oder Cochenille. Der jährliche 
Ertrag einer guten Cacaopflanzung beträgt etwa zwanzig 
Unzen Nüſſe für jeden Baum, was für tauſend Bäume 
zwölfhundert Pfund erzielen würde. Da der Marktpreis 
fünfundzwanzig Dollars pro Quintal (101 Pfund) beträgt, 
ſo beläuft ſich der jährliche Ertrag von tauſend Bäumen 
und einem Arbeiter auf dreihundert Dollars. Der Cacao von 
Nicaragua iſt nächſt dem von Soconusco,* welcher unter 
der ſpaniſchen Herrſchaft ein Monopol der Krone war, der 
vorzüglichſte der Welt, und hat hier zu Lande den drei— 
und vierfachen Werth des von Guayaquil, welche letztge⸗ 
nannte Sorte faſt ausſchließlich nach den Vereinigten Staaten 
exportirt wird. 


* Der ſüdlichſte Staat Mexico's, am Golf von en 
und nördlich von Guatemala gelegen. 


337 


Alle Arten tropiſcher Producte gedeihen in Nicaragua 
auf's Ueppigſte. Zuckerrohr bringt zwei, und wenn der 
Boden bewäſſert wird, drei Ernten im Jahr, und braucht 
nur einmal in zwölf bis vierzehn Jahren friſch gepflanzt zu 
werden. Baumwolle, obgleich bis jetzt nur wenig cultivirt, 
iſt von ausgezeichneter Güte. Reis, Indigo, Taback, Coche— 
nille, Kaffee, ſind werthvolle Landesproducte. Farbehölzer, 
Mahagony- und Roſenholz werden in unerſchöpflichen Quan— 
titäten gefunden. Mais wird drei Mal im Jahr geerntet, 
Gemüſe ſogar ſechsmal. Die Eingebornen verdingen ſich 
für zwanzig Cents pro Tag und Verpflegung, und ſind als 
Farmarbeiter in genügender Anzahl zu finden. | 

Der nördliche, gebirgige Theil des Staates, Nueva 
Segovia, der das Klima und den Baumwuchs der gemäßig— 
ten Zone hat, iſt reich an Gold, Silber und Kupfer. Viele 
der dortigen Ströme führen Gold mit ſich, welches von den 
Indianern in bedeutenden Quantitäten ausgewaſchen wird. 
Von San Francisco aus, wo man hiervon unterrichtet iſt, 
ſind ſchon mehrere Compagnieen von Bergleuten in dieſe 
Minendiſtricte gezogen. Auch auf unferm Schiffe befand 
ſich eine Geſellſchaft von Deutſchen, welche von Virgin Bay 
aus dorthin wandern wollten. Obgleich die Production 
edler Metalle ſeit der ſpaniſchen Herrſchaft ſehr abgenommen 
hat, ſo iſt dieſelbe, namentlich die des Silbers, immer 
noch beträchtlich. Die Bearbeitung der Silberminen wird 
jedoch ſehr nachläſſig betrieben, und von neueren Maſchinen, 
wie ſie in Californien, Nevada und andern Minenländern 
angewendet werden, weiß man hier gar nichts. 

Die Eingebornen dringen höchſtens bis zu fünfundvierzig 
Fuß tief in die Erzgänge und wühlen, ſo zu ſagen, wie Maul— 
würfe darin herum. Auf eingekerbten Baumſtämmen klettern 
ſie, Laſten von hundert bis zu hundert und zwanzig Pfund 
Erz in einem über die Stirn gehängten Lederſack tragend, 


22 


338 


die Löcher hinauf, welche fie in die Erde gewühlt haben 
und die nicht den Namen Schachte verdienen. In den 
Minen ſitzen die Arbeiter nackt auf dem ſteinigen Grunde 
und hauen das Erz beim Lichte eines über ihnen im Felſen 
ſteckenden Talglichts aus der Erde los. Waſſerpumpen, 
um die Tiefgänge trocken zu legen, ſind ihnen gänzlich 
unbekannt. Das aus den Minen herausgeſchaffte Erz wird 
mit ungeheuren, tauſend bis fünfzehnhundert Pfund ſchweren 
Steinen, die wie ein Wagenrad im Kreiſe umherlaufen, auf 
der bloßen Erde zermahlen. Das Silber wird alsdann ent— 
weder durch Feuer aus der zerriebenen Maſſe herausge— 
ſchmolzen, oder dieſe nach einer koſtſpieligen Methode mit 
Queckſilber amalgamirt, aus dem dann das Silber durch 
Verdünſtung gewonnen wird. Welchen Aufſchwung dieſe 
Minen, deren Reichthum unerſchöpflich iſt, durch Anwendung 
neuerer Maſchinen nehmen könnten, iſt unberechenbar. 

Das Klima des Staates Nicaragua iſt an ſeinen Seen 
und in den weſtlich gelegenen Landſtrichen, beſonders aber 
in ſeinen nördlichen Minendiſtricten, der weißen Race im 
Allgemeinen ſehr zuträglich. Dagegen ſollten die dem Ca— 
raibiſchen Meere zugewendeten Küſtenſtriche, welche wärmer 
und feuchter als die weſtlichen ſind und häufig Fieber ver— 
urſachen, von weißen Caloniſten möglichſt vermieden werden. 
Die im Oſten gelegenen Landestheile ſind ihres ungeſunden 
Klimas halber auch weit ſpärlicher bevölkert, als die im 
Innern des Landes und am Stillen Meere liegenden. 

Im großen Centralbecken von Nicaragua iſt das Klima 
bedeutend gemäßigter als in andern unter demſelben Breiten— 
grade liegenden Ländern der tropiſchen Zone. Die ausge— 
dehnten Landſeen in ſeinem Innern geben den durch Berg— 
ketten ungehindert vom Atlantiſchen Meere über den Iſthmus 
ſtreichenden Paſſatwinden freien Spielraum, um die Luft 
abzukühlen und von ſchädlichen Dünſten zu reinigen. 


339 


Die Jahreszeiten zerfallen in die trockene und in die 
Regenzeit, von denen die erſte Sommer und die letzte 
Winter genannt wird. 

Die Regenzeit beginnt im Mai und dauert bis zum 
November, während welcher Zeit, namentlich zu Anfang 
und Ende derſelben, es häufig Tage lang regnet, oft jedoch 
Wochen lang kein Wölkchen am Himmel zu ſehen iſt. Regen— 
ſchauer ſind häufig, meiſtens am Nachmittage und während 
der Nacht. Wälder und Felder kleiden ſich mit dem üppig— 
ſten Grün, und die Temperatur wechſelt zwiſchen 78 und 88 
Grad Fahrenheit. Mitunter, aber ſelten, kühlt ſich während 
der Nacht die Luft bis zu 70 Grad ab, und erhitzt ſich 
Nachmittags bis zu 90 Grad Fahrenheit. 

Während der trockenen Jahreszeit, welche vom Decem— 
ber bis gegen das Ende des Monats April dauert, iſt die 
Temperatur bedeutend kühler. Namentlich des Nachts tritt 
ſie alsdann mitunter mit fröſtelnder Kälte auf. Der Him— 
mel iſt wolkenleer, und nur ſelten fallen Regenſchauer auf 
das ausgedörrte Land. Die Vegetation auf den Feldern 
wird von der Sonne verſengt, das Vieh zieht ſich in die 
feuchteren Gründe, an die Seen und Flußläufe, und der 
umherfliegende Staub iſt in den Städten faſt unerträglich. 
Er dringt durch die glasloſen, offenen Fenſter und durch 
die Ziegeldächer maſſenweiſe in die Häuſer, findet einen 
Eingang durch die kleinſten Spalten in Schränke und Ver— 
ſchläge, und zieht wie Höhenrauch durch die Straßen. Dieſe 
Jahreszeit, obgleich unangenehm, iſt die geſundeſte und hat 
auf die Pflanzennatur den Einfluß eines nordiſchen Winters, 
indem ſie die zu üppige Vegetation beſchränkt, welche z. B. 
in dem nur wenige Grade weiter ſüdlich gelegenen Panama, 
wo die Regenſchauer heftiger und zu allen Jahreszeiten 
[häufig find, undurchdringliche Dickichte, die Heimath giftiger 
Fieber, bildet. 


22 * 


340 


Die Zukunft dieſes von der Natur ſo außerordentlich 
bevorzugten Landes, welches dazu vermittelſt eines Canals 
oder durch Schienenwege Ausſicht hat, dereinſt eine der 
Hauptverbindungsſtraßen zwiſchen zwei Oceanen durch ſein 
Inneres zu führen, berechtigt zu den kühnſten Hoffnungen. 
Wenn der Rückſchritt, den daſſelbe in Folge der Flibuſtier— 
Expeditionen erlitten hat, überwunden ſein, und vermehrte 
Einwanderung einer thatkräftigen Bevölkerung die jetzt das 
Land bewohnenden Miſchlingsracen regeneriren und dem 
Handel einen neuen Aufſchwung geben wird — was ſicher— 
lich nur eine Frage der Zeit iſt — ſo werden wenige 
Jahre daſelbſt Wunder bewirken. 

Die Perle des Landes, welche ihm eine gütige Vor— 
ſehung geſchenkt, iſt ein herrliches, 300 Meilen langes und 
150 Meilen breites Centralbecken, ein Thal, das zum 
größten Theil in ausgedehnten und überaus fruchtbaren 
Ebenen beſteht, in deren Mitte die Seen Managua und 
Nicaragua liegen, welche die von allen Seiten ihnen zu— 
ſtrömenden Gewäſſer des Staates durch einen einzigen Aus— 
fluß, den Rio San Juan, in die Caraibiſche See ergießen 
Ein Blick auf die Landkarte genügt, um den Eifer zu er— 
klären, mit dem man ſeit Jahrhunderten die Ausführung 
eines die beiden Oceane durch das Innere Nicaraguas ver 
bindenden Canals als ein der geſammten civiliſirten Wel! 
unberechenbare Vortheile bringendes Unternehmen erkannt hat 
Verſchiedene Canal-Nivellements find ſeit der Zeit der Er 
oberung des Landes durch die Spanier ſowohl von euro— 
päiſchen als nordamerikaniſchen Ingenieuren gemacht wor 
den, welche ſämmtlich mehr oder minder günſtige Reſultat' 
geliefert haben. Zu einer Ausführung eines ſolchen Pro 
jects wurde wohl deshalb bis jetzt nicht geſchritten, weil ei 
immer noch nicht unbedingt erwieſen worden, daß die Nica 
ragua Canalroute die günſtigſte iſt, und der Koſtenpun! 
ein ganz enormer ſein würde. — | 


341 


| Unter dem köſtlichſten Wetter durchkreuzte unſer Dampfer 
mit feiner lebendigen Fracht von über ſiebenhundert Paſſa⸗— 
gieren den herrlichen See. Von den heftigen Windſtößen, 
welche auf dieſen Gewäſſern mitunter mit ſolcher Stärke 
auftreten, daß die Dampfer genöthigt ſind, hinter einer der 
hohen Berginſeln Schutz zu ſuchen, blieben wir gottlob ver— 
ſchont, obſchon unſer Capitän einmal einen ſolchen prophe— 
zeihte, der die Waſſer des Sees wie Meereswogen im 
Sturm aufrühren ſollte. 

Dieſe Windſtöße, Papagayos genannt, ſind die atlan— 
tiſchen Paſſatwinde, welche hier, von Bergzügen ungehindert, 
über die ganze Breite des Iſthmus ſtreifen und, die ent— 
gegengeſetzten Luftſtrömungen vom Stillen Meere treffend, 
mitunter äußerſt widerwärtige Wirbelwinde verurſachen. 
In der Regel wehen ſie heftig am Abend aus Nordoſt 
und legen ſich gegen Morgen, ſo daß die Gewäſſer des 
Sees, von ihnen emporgetrieben, ſich an ſeiner Südküſte 
abwechſelnd zu heben und zu ſenken ſcheinen, und das 
niedrigere Land dort häufig überfließen. In früheren Zeiten 
glaubte man, daß der See wie das Meer regelmäßig Ebbe 
und Fluth zeige, oder daß ein unterirdiſcher Abzugscanal 
ihn mit dem Stillen Meere in Verbindung ſetze, was 
Alles jedoch nur auf der von den Papagayos verurſachten 
Täuſchung beruhte. 

Die Kegelkuppen der Vulcane Omotepec und Madeira 
weit hinter uns laſſend, näherten wir uns, als die Sonne 
höher ſtieg, allmählig dem öſtlichen Ende des Sees, welchem 
der Rio San Juan entſpringt. Die Ufer rechter Hand 
wurden niedriger, und Inſeln, mit dunkelgrünen Waldungen 
geſchmückt, lagen hier und da traulich in den klaren Fluthen. 
Auf mehreren derſelben gewahrte ich Wohnungen und an— 
gebautes Land. Faſt beneidete ich die glücklichen Beſitzer 
dieſer Eilande, welche in dem herrlichſten Klima der Welt, 


— 


. ˙ — —— K 


3 9 


342 


umgeben von den Reizen einer tropiſchen Natur, dort in 
ſorgenloſer Abgeſchiedenheit lebten und dabei von ihrer 


Thürſchwelle die brauſenden Boten der neueren Civiliſation 


begrüßen konnten. 

Die Paſſagiere unſeres Dampfers befanden ſich in der 
beſten Stimmung und bewunderten das herrliche Landſchafts— 
gemälde. Jedermann ſchien die ſchlechten Transportmittel 
der Tranfit-Compagnie zwiſchen San Juan del Sur und 
Virgin Bay vergeſſen zu haben und erwartete die Einfahrt 
in den San Juan Fluß. Die ſocialen Genies thaten ihr 
Beſtes, die Reiſegeſellſchaft zu erheitern, und Geſang und 
Scherz erſchallten aus mancher Gruppe, die im ſüßen Nichts— 
thun auf dem Verdeck lagerte. 

Gegen Mittag jedoch, als ſich bei der Mehrzahl der 
Paſſagiere, welche von der Zeit an, als wir den Dampfer 
„Amerika“ verließen, bis jetzt auf eigene Unkoſten gelebt 
und ſeit dem frühen Morgen keinen Biſſen zu ſich ge— 
nommen hatten, eine Sehnſucht nach leiblicher Speiſe ein— 
ſtellte, verlor die romantiſche Scenerie des Sees alle Reize, 
und es bemächtigte ſich eine unverkennbare Unruhe aller 
Gemüther. 

Die Tranſit-Compagnie hatte allerdings in den San 
Francisco-Zeitungen bekannt gemacht: „No extra charge 
for board on the Isthmus“, aber — wo blieb das 
Mittagsmahl? von dem Frühſtück oder Lunch gar nicht zu 
reden, welches die Compagnie in dem Wirrwarr der Ein— 
ſchiffung wahrſcheinlich aufzutiſchen vergeſſen hatte. Selbſt 
die feinſten Riechorgane konnten keine Spur von werdenden 
Beefſteaks, Trüffeln, Pfannekuchen, Torten oder dergleichen 
Erfriſchungen entdecken. 

Endlich erſchien ein Chimborazo der elendeſten „Sand— 
wiches“ (belegtes Butterbrot), welche je einen civiliſirten 
Menſchen beleidigt, und dazu etwas ſchmutzig⸗gelber Kaffee, 


343 


der wie ein Abguß von geröfteten Linſen ſchmeckte und ohne 
Kaffeelöffel in ohrenloſen Taſſen verabreicht ward, ſo daß 
man gezwungen war, Bleiſtifte und Zahnſtocher als Löffel 
zu improviſiren, um ein diminutives Quantum von Zucker 
in der Kaffee ſein ſollenden Flüſſigkeit aufzulöſen. Dieſes 
barbariſche Kaffeegebräu — das mich lebhaft an den texaniſch⸗ 
conföderirten Kaffee von 1862 erinnerte — hier im Vater⸗ 
lande des Kaffee's, der vor unſern Augen auf's Ueppigſte 
am nahen Ufer wuchs, war ein entſetzlicher Hohn der 
tyranniſchen Tranfit-Compagnie auf unſere rebelliſchen Mä- 
gen; und wenn ſchon wegen der „Sandwiches“, auf denen 
die Butter wie hingehaucht erſchien und der Schinken an 
Hungersnoth mahnte, derſelben von ſiebenhundert Paſſagieren 
wenigſtens ſiebenhundert Flüche entgegengeſchleudert worden 
waren, ſo waren die Verwünſchungen wegen des Kaffees 
wahrhaft furchtbar. 

Glücklicher Weiſe hatte ich mich in Virgin Bay mit 
einem gebratenen Hühnchen und einem halben Schock hart— 
geſottener Eier verproviantirt, da ich mich auf die Aus— 
legung des Orakelſpruchs der Tranſit-Compagnie nicht gern 
verlaſſen wollte. Wo nichts gegeben wird, da wird auch 
keine Zahlung verlangt; das ſchien mir jetzt die Meinung 
der Zeitungsanzeige der Tranſit-Compagnie zu ſein, welche 
uns aus purer Menſchenliebe die famoſen „Sandwiches“ 
und den Pſeudo-Kaffee verabreichen ließ. 

In keineswegs gehobener Stimmung liefen wir um 
ein Uhr Mittags in den San Juan Fluß ein, woſelbſt uns 
ein kleinerer Dampfer erwartete, der uns zunächſt nach 
Caſtillo bringen ſollte. Südlich von dem Ausfluß des San 
Juan, dem Fort San Carlos ſchräg gegenüber, ergießt ſich 
Rio Frio in den See Nicaragua, ein nicht unbedeutender 
Fluß, der an dem 11,400 Fuß hohen Vulcan Cartago in 
Coſta Rica entſpringt. 


344 


Das vom Rio Frio durchſtrömte, ſchwer zugängliche 
Thal iſt die Heimath der Guatuſo-Indianer, welche ſowohl 
den Spaniern als den heutigen Regierungen Central— 
Amerikas gegenüber ihre Unabhängigkeit ſtets bewahrt, 
und jegliche Verſuche, ſowohl von Reiſenden als Militär— 
abtheilungen, in ihr Gebiet einzudringen und ſich mit ihnen 
bekannt zu machen, blutig zurückgewieſen haben. Die Ver— 
muthungen über ihren Urſprung, in ſo weit dieſelben durch 
Sprachverwandſchaften Wahrſcheinlichkeit erhalten, ſcheinen 
ſich dahin zu vereinigen, daß die Guatuſo-Indianer zu der— 
ſelben Aztec-Race gehören, welche zur Zeit der ſpaniſchen 
Eroberung im Thale von Anahuac in Mexico und im 
jetzigen Staate San Salvador wohnte. Wahrſcheinlich be— 
wohnte fie, als Gil Gonzalez d' Avila im Jahre 1522 das 
jetzige Nicaragua der ſpaniſchen Krone unterwarf, die Ufer 
des Sees Cocibolca (Nicaragua), von wo aus ſie vor den 
Spaniern die Thalengen des Rio Frio hinauf flüchteten, in 
denen ſie, wie bereits erwähnt, bis auf den heutigen Tag 
ihre Abgeſchloſſenheit und Unabhängigkeit gegen alle Ein— 
dringlinge bewahrt haben. 

Linker Hand auf einem hohen Bluff, nahe dem Aus— 
fluſſe des Rio San Juan, ſtand das alte Fort San Carlos 
mit einigen elenden Strohhütten im Innern deſſelben, welche, 
durch eine einzige wohlgezielte Bombe in Brand geſchoſſen, 
die Beſatzung ſchnell ausräuchern würden. Ein paar alte 
Kanonen, auf maſſiven Lafetten ruhend, beherrſchten die 
Flußmündung, und nicht weit davon lagen die Ueberreſte 
eines untergegangenen Dampfers, ein Monument der 
Flibuſtier⸗Expedition, deren geſetzloſem Treiben von den 
Coſta Ricanern unter dem Befehl des braven Spencer im 
December 1856 und zu Anfang des Jahres 1857 auf dem 
San Juan Fluſſe ein Ziel geſetzt ward. Die ganze Tranſit— 
Route iſt übrigens ſo mit Walker identificirt, der ſeinen 


345 


Namen an derſelben überall mit blutigem Griffel einge- 
graben hat, daß man ſich unwillkührlich in jene Zeit zurück 
verſetzt, als er mit einer Handvoll Abenteurer in dieſem 
Lande ein neues Reich zu gründen verſuchte, und noch heute 
ſeinen Kriegszügen mit unvermindertem Intereſſe folgt. 

Bald war unſere geſammte Reiſegeſellſchaft auf das mit 
zwei Rädern am Stern verſehene Dampfboot „City of Leon“ 
verſetzt, wo wir es uns auf dem ringsum offenen oberen 
Verdeck auf Bänken und Stühlen bequem machten. Ein 
über die ganze Länge und Breite des Verdecks geſpanntes 
Leindwandtuch gab Schutz gegen die Sonnenſtrahlen, und 
die Ausſicht nach allen Seiten war durch nichts gehindert. 

Der Rio San Juan, welcher bei einer Breite von 
hundert bis abwechſelnd zu vierhundert Yards mit ſeinen 
Windungen eine Länge von 128 engliſchen Meilen hat, iſt, 
wie bereits früher erwähnt, der einzige Ausfluß der Nica— 
ragua Binnenſeen. Die Vortheile, welche er einem zu 
ſchaffenden Canal bietet, ſind jedoch ſehr überſchätzt worden, 
da ſeine Tiefe zu Zeiten ſehr gering iſt und in der trockenen 
Jahreszeit ſtellenweiſe kaum zwei Fuß erreicht. Die zahl— 
reichen Stromſchnellen und Untiefen bilden alsdann für 
die Schifffahrt faſt unüberſteigliche Barrieren. Während 
der Regenzeit oder kurz nach derſelben — wie zur Zeit 
meiner Reiſe der Fall war — iſt jedoch die Maſſe des 
Waſſers in ihm ſehr bedeutend. 

Von dem Dampfer, der uns von Grey Town nach 
New⸗York bringen ſollte, war immer noch nichts zu hören. 
Auf's Gerathewohl und über das Schickſal des New-Yorker— 
Dampfers gänzlich im Dunkeln, fuhren wir den San Juan 
Fluß hinunter, mit der unwillkommenen Ausſicht, in dem 
ungeſunden Grey Town wenigſtens auf eine Woche Quar— 
tier beziehen und dort die Ankunft des erſehnten See— 
Steamers abwarten zu müſſen. Da es ſchon öfters vor— 


346 


gekommen, daß die Paſſagiere auf dieſer Linie wochenlang 
auf eigene Unkoſten auf dem Iſthmus verweilen mußten, 
ehe die Dampfer von San Francisco oder New-York an— 
langten, welche ſie weiter befördern ſollten, ſo verſetzte das 
Ausbleiben der Nachrichten vom New-Yorker Steamer uns 
Alle in eine keineswegs heitere Stimmung, welche ſich bei 
minder reſignirten Geiſtern in ungezählten Verwünſchungen 
auf die Tranſit⸗Compagnie Luft machte. Sobald wir je— 
doch den San Juan hinabfuhren und ſich rechts und links 
vor unſern Blicken die herrlichſte Tropen-Vegetation ent— 
faltete, verſchwanden Mißmuth und Feindſeligkeit. Jeder 
ſuchte die Gegenwart zu genießen, und überließ es der 
Zukunft, für unſer Schickſal zu ſorgen. 

Die Ufer, welche zuerſt ſumpfig waren, wurden feſter 
je weiter wir kamen. Binſen und Schilfrohr machten den 
ſchön geformten Bäumen der Tropennatur Platz, während 
das ſaftig⸗dunkelgrüne Laubwerk unzähliger, unſerer nordi— 
ſchen Pflanzenwelt verwandter Baumarten den Rahmen des 
Gemäldes bildeten. Cocos- und Bananenbäume mit ihren 
in dichten Büſcheln von den Kronen hängenden Rieſenblättern, 
unter denen ihre Früchte einladend hingen, drängten ſich 
abwechſelnd in langen Reihen an die nahen Ufer; wie 
Mauern ſtanden die durch unzählige Schlingpflanzen — 
Lianen — mit einander verwobenen Bäume und Sträucher 
in langen Fagaden auf beiden Ufern da; überall reichte die 
üppigſte Vegetation bis hart an's Waſſer und ſogar bis in 
daſſelbe hinein, als ob die Mutter Natur kein Fleckchen 
Erde unbenutzt laſſen wolle, um den Ausfluß des ſchönſten 
der Seen Amerika's mit dem Schmucke tropiſcher Rieſen— 
guirlanden zu kränzen. 

Je weiter wir kamen, um ſo großartiger zeigte ſich 
uns die Tropennatur, ſo daß das Auge zuletzt faſt er— 
müdete, die Pracht derſelben zu faſſen. Auch die Thier— 


347 


welt, die Beſitzerin dieſer herrlichen Wildniſſe, fing an, ſich 
hier zu regen, ſchien jedoch das in ihr Heiligthum ein— 
dringende, Feuer ſchnaubende, ſchwimmende Ungeheuer des 
Menſchen mit keineswegs freundlichen Augen zu betrachten. 
Große, langgeſchwänzte Papageyen, mit feuerrothem Ge— 
fieder, flogen ſchreiend über den dunklen Wald, oder ſaßen, 
unwillig ihre Federn ſpreizend, auf nackten Aeſten da; 
ſchneeweiße, langbeinige Reiher und andere, mir unbekannte 
Waſſervögel ſtanden am nahen Ufer und ſtreckten ihre lan— 
gen Hälſe mißtrauiſch zu uns herüber; mit einem wahren 
Freudengeſchrei wurden die erſten Affen begrüßt, die ſich, 
an den hohen Aeſten eines mächtigen Cibeba-Baumes mit 
ihren Schwänzen hängend, gemüthlich hin und her ſchaukel— 
ten und uns Grimaſſen zuſchnitten. 

Auf einmal bemächtigte ſich, ob des augenſcheinlichen 
Hohns dieſer das menſchliche Antlitz lächerlich machenden 
Zweibeinsthiere, kriegeriſche Wuth faſt ſämmtlicher Paſſa— 
giere. An fünfhundert Piſtolenkugeln ſauſ'ten mit einer 
knatternden Salve den Affen an den Ohren vorbei, und 
die Flucht derſelben, wie ſie ſich mit ihren Schwänzen von 
Aſt zu Aſt ſchwangen und laut aufſchreiend in's Dickicht 
eilten, wurde von uns mit Siegesgejauchze gefeiert und mit 
donnerndem Hurrah begleitet, als ob wir ſoeben eine Bri— 
gade feindlicher Reiter in die Flucht gejagt hätten. 

Von jetzt an war nichts Lebendiges mehr vor unſern 
Piſtolenkugeln ſicher. Papageyen, Reiher, Vögel aller Art, 
Affen — Alles mußte vor unſern Salven flüchten, welche 
öfters wie Pelotonfeuer ein donnerndes Echo in den nahen 
Wäldern wachriefen. Alligators jedoch, von welchen der 
Fluß wimmeln ſoll, die wir weit lieber als jene friedlichen 
Thiere zur Zielſcheibe unſerer Kugeln genommen hätten, 
zeigten ſich an dieſem Tage nirgends, da die Luft bedeckt 
war und ſie nur im Sonnenſcheine an's Ufer kommen. 


348 


Hin und wieder ſahen wir Indianerhütten am Strande, 
deren ſpitze Dächer mit getrockneten Rieſenblättern gedeckt 
waren, und ein paar Mal begegneten uns Bungos, große, 
flachgebaute Kähne, welche von Indianern durch lange Ruder 
fortbewegt wurden. Mit donnerndem Zuruf wurden die 
nackten braunen Geſtalten begrüßt, welche ſich, von unſerm 
Hurrah begeiſtert, nach jedem Ruderſchlage ſämmtlich auf— 
recht hinſtellten und mit der ganzen Schwere ihrer Körper 
auf die Ruder fielen, um uns einen guten Begriff von ihrer 
Fertigkeit im Rudern zu geben. 

Nachdem wir vor Abend die gefährlichen Toro-Rapids 
paſſirt, langten wir nach Dunkelwerden bei dem alten Fort 
Caſtillo, vierzig Meilen von San Carlos, an, wo das 
Fahrwaſſer abermals durch Stromſchnellen unterbrochen wird, 
woran dieſer Fluß ganz beſonders reich iſt und welche in 
dieſem Falle zu bedeutend waren, um eine Ueberfahrt mit 
unſerm Dampfer wagen zu dürfen. Die Waſſer des Fluſſes 
fallen daſelbſt in der trockenen Jahreszeit faſt acht Fuß 
über eine Felſenbank in einer Strecke von kaum zehn Ellen; 
und ſelbſt bei hohem Waſſer, wie wir es hatten, ſind die 
in Stromſchnellen verwandelten Fälle für Dampfer nicht 
paſſirbar. 

Hier wurden wir auf zwei kleinere, unterhalb der Fälle 
liegende Dampfboote verſetzt, wobei ein Jeder gezwungen war, 
ſein Handgepäck ein paar hundert Schritt weit von Boot 
zu Boot zu ſchleppen, indeß die Koffer auf einem Schienen- 
wege in Handwagen transportirt wurden. Da wir an Bord 
derſelben bis zum nächſten Morgen verweilen ſollten, ſo 
mußten wir die Nacht verbringen ſo gut es ging. 


Am Ufer ſtand wieder eine Reihe von Indianerhütten 
und Eß⸗ und Trinkbuden — die Stadt Caſtillo —, wo wir 


Gelegenheit hatten, uns für den folgenden Tag zu ver— 
proviantiren, was die Mehrzahl der Paſſagiere auch ſofort 


349 


that, da die Ausſicht auf eine Wiederholung der famoſen 
„Sandwiches“ und des Tranſit-Kaffees durchaus nicht ein- 
ladend war. Kaum waren wir angelangt, ſo hatte ein 
wiſſenſchaftlich gebildeter Jünger des Merkur ſeine drei 
Fingerhüte ſchon wieder in Bewegung geſetzt, um den ſpiel— 
ſüchtigen Californiern die Zeit zu vertreiben. Nach den 
häufigen Verwünſchungen der ihn umgebenden Menge zu 
urtheilen, muß der Fingerhut-Spieler mit den Geſchäften 
in Caſtillo, womit er die ganze Nacht über anhielt, ſehr 
zufrieden geweſen ſein. 

Da für Schlafſtellen an Bord der Dampfer faſt gar 
nicht geſorgt war, ſo ſtreckten ſich die meiſten Paſſagiere, 
ſo gut es ging, auf Wolldecken oder Ueberröcken auf's 
ringsum offene Verdeck, um ein paar Stunden Schlaf zu 
erhaſchen. Mehrere der mitreiſenden Damen kamen dabei 
in das Dilemma, an der Seite fremder Männer im trau— 
lichen Durcheinander ruhen zu müſſen, was mancher blöden 
Schönen keineswegs angenehm zu ſein ſchien. Ich hatte 
das beneidenswerthe Loos, einer neuvermählten Jüdin einen 
Zipfel meiner Wollendecke als Schutz gegen die feuchte 
Tropennacht anbieten zu dürfen. Meine holde Nachbarin, 
ein poetiſcher Charakter mit ſchmachtenden, dunklen Augen, 
Römernaſe, ſchwarzem, üppigem Haar und milchweißem 
Teint, die gern Heine'ſche Verſe recitirte und auf der Reiſe 
ihre Flitterwochen feierte, war erſt nach langem Zureden 
von ihrem gefühlloſen Gemahl zu bewegen, neben mir 
Platz zu nehmen. Sie vertraute mir unter Thränen an, 
daß ſie dieſe Nacht zeitlebens nicht vergeſſen werde. Als 
Flitterwochen-Tour möchte ich auch die Reiſe über den 
Iſthmus von Nicaragua keiner meiner Landsmänninnen — 
einerlei weß Glaubens — anempfehlen, da das Poetiſche 
derſelben zu ſehr an praktiſche Wirklichkeit ſtößt, um zarten 
Naturen beſonders angenehm zu ſein. 


350 


Trotz des Lärmens und Singens am Lande, wo eine 
geräuſchvolle Tanzmuſik die Vergnügungsſüchtigen zu einem 
Fandango mit dunkeläugigen Signoritas aufforderte verſank 
ich bald in einen tiefen Schlummer, aus dem ich nicht eher 
erwachte, als bis ein ſchrilles Dampfſignal den Herumlun- 
gerern und Tanz- und Spielſüchtigen am Strande die be— 
vorſtehende Weiterreiſe kurz vor Tagesanbruch kundthat. Es 
befanden ſich etwa vierhundert Paſſagiere auf unſerm kleinen 
Dampfer, welche den Platz ſo ſehr beengten, daß eine freie 
Bewegung außer Frage ſtand und man ſich nur langſam 
von einer Seite des Boots nach der andern bewegen konnte. 
Im Toilettenzimmerchen hatte die Tranſit-Compagnie groß— 
müthig für eine zinnerne Waſchſchüſſel und ein etwa zwei 
Fuß langes Handtuch geſorgt, damit wir vierhundert Paſſa— 
giere uns damit den Schlaf aus den Augen wüſchen, auf 
daß wir die großartige Tropennatur mit klaren Blicken be— 
trachten könnten. Die delikaten „Sandwiches“ und der 
ſuperbe Mocca fehlten zum Frühſtück natürlich auch nicht. 
Ich nahm jedoch nicht Theil am Feſtmahl der Tranſit— 
Compagnie, ſondern ſpeiſ'te bei einer freundlichen Signorita 
in Caſtillo. f 

Sobald es Tag geworden, konnte ich die romantiſche 
Umgebung unſeres Nachtlagers deutlicher als am Abend 
zuvor im Halbdunkel erkennen. Hoch auf einem ſteilen, 
mit grünem Raſen bedeckten Berge lag am rechten Strom— 
ufer das alte Fort Caſtillo, ein ſteinerner Bau mit runden, 
vorſpringenden Eckthürmen, zinnen-gekrönten Baſtionen und 
innerer Citadelle, welche den Fluß ſowohl unterhalb als 
oberhalb beherrſchte und den Anſchein großer Stärke hatte, 
obwohl ein weiter rückwärts gelegener Bergrücken, Nelſon's 
Hügel genannt, einer angreifenden Truppenmacht eine 
dominirende Stellung zu geben ſchien. Von hier aus war 
auch das Fort im Jahre 1780 von Lord Nelſon, damals 


351 


Flottencapitain an Bord des britiſchen Kriegsſchiffes Hinchin— 
broof, mit Sturm genommen worden. Von zweihundert 
Mann, mit denen er zum Angriff ausrückte, brachte er nur 
zehn wieder nach der Flotte zurück, pflanzte aber das St. 
Georgs-Kreuz ſiegreich auf die alte Veſte. Weniger glück— 
lich waren Walkers Myrmidonen, welche unter ihrem Führer 
Titus — einem gewaltigen Maulhelden, der in Kanſas 
Buſchklepper-Commandeur geweſen war — das Fort den 
unter dem Befehl des kühnen Spencer es vertheidigenden 
Coſta⸗Ricanern wieder zu entreißen ſuchten, vor dem drohen— 
den Anblick der Veſte aber ſo ſehr in Furcht geriethen, 
daß ſie, ohne den Verſuch zum Sturm zu wagen, ſchimpf- 
licher Weiſe wieder nach Grey Town zurückkehrten, wohin 
ſie unter Anführung eines gewiſſen Lockridge von New— 
Orleans ausgezogen waren, um die Coſta-Ricaner wieder 
vom San Juan zu vertreiben. 

Ich nahm diesmal meinen Platz auf einer Bank ganz 
vorn auf dem Schiffe, um einen beſſeren Ueberblick auf 
beide Stromufer zu gewinnen. Bald ſetzte ſich unſer Dampf— 
boot, das den ſtolzen Namen „City of Rivas“ führte und 
dem ein anderer Dampfer mit dem Reſt der Paſſagiere auf 
eine halbe Stunde vorangeeilt war, in Bewegung und fuhr 
langſam ſtromabwärts. Eine Abtheilung nacktbeiniger Ein— 
gebornen, die am Bug poſtirt waren, ſondirte mit langen 
Stangen den Fluß, der hier ſehr viele Untiefen hatte, und 
war öfters genöthigt, das Schiff von Sandbänken loszu— 
ſtoßen. Bei niedrigem Waſſer ſoll die Schifffahrt auf dem 
untern Stromlaufe ſehr gefährlich ſein. Die Tranſit-Com⸗ 
pagnie hat ſchon manches Boot daſelbſt verloren, trotzdem 
dieſe ſehr flach gebaut ſind und kaum zwei Fuß Tiefgang 
haben. Sogar bei hohem Waſſer, wie wir es hatten, 
war das Anrennen des Schiffes an verborgene Sandbänke 
nichts Seltenes. 


352 


Nachdem wir die Wracks mehrerer Dampfer, Dent- 
mäler Walkers, paſſirt hatten, verloren wir bei einer Bie- 
gung des Stromes das Fort von Caſtillo aus den Augen 
und fuhren, wie am Tage zuvor, zwiſchen den grünen 
Waldmauern hin, die ſich majeſtätiſch, in immer wechſelnden 
Formen, rechts und links am Ufer hinzogen. 

Der Rio San Juan, der ein ſo ſchlammiges Waſſer 
wie der Vater der Flüſſe hat, das der unverwöhnteſte 
Alligator ſich nicht gemüthlicher wünſchen könnte, ſchlängelte 
ſich in einer Breite von etwa vierhundert Ellen durch die 
Urwildniß, welche faſt ununterbrochen überraſchend ſchöne 
Anſichten zeigte. Ueberall waren die Bäume von einem 
undurchdringlichen Gewirr üppig wuchernder Schlingpflanzen 
durchflochten, die maleriſch von den hohen Aeſten herabhin— 
gen und darunter eine grüne Fläche, einem dicht überrankten 
Rieſen-Gitterwerke ähnlich, bildeten, welche hin und wieder 
von Portalen, Säulengängen und reizenden Lauben unter— 
brochen ward. Mitunter ſtand eine Indianerhütte, mit ge— 
trockneten Blättern gedeckt, im Dickicht, und ein paar Mal 
begegneten uns Bungos, die am Ufer hinfuhren, und deren 
nackte Ruderer jedesmal mit Jubel begrüßt wurden. Die 
meiſten Paſſagiere ſtanden ſchußfertig mit ihren Revolvern 
an der Brüſtung des Dampfers und ſchoſſen auf jegliches 
Lebende, das ſich am Waldesſaum rührte. 

Bei den in der trockenen Jahreszeit für die Schifffahrt 
ſehr gefährlichen Machuca-Stromſchnellen, auf denen das 
Wrack eines untergegangenen Dampfers, von einer dichten 
Pflanzenmaſſe überwachſen, eine kleine Inſel mitten im 
Strome gebildet, landeten wir, um einen neuen Vorrath 
von Holz als Feuerungsmaterial für den Dampfer ein— 
zunehmen. 

Bald befand ſich die Mehrzahl der Paſſagiere am 
Lande und durchſtreifte den Urwald nach allen Richtungen, 


353 


um Kurioſitäten einzuſammeln, unbeforgt um Taranteln und 
Schlangen, rieſige Ameiſen und giftige Kräuter, vor denen der 
Capitän uns gewarnt hatte. Um eine mächtige Ceder, auf der 
ſich auf einem der höchſten Zweige eine faſt vier Fuß lange, 
bläulich ſchimmernde Eidechſe, Iguana genannt, ſonnte, hatte 
ſich bald eine Schaar von Scharfſchützen verſammelt, welche 
nach mehreren Salven das fremdartige, ganz unſchuldige Ge— 
ſchöpf erlegten und im Triumph auf's Schiff brachten. Ich 
war ſo glücklich, einer allerliebſten, blau- und weiß-roth ge= 
ſtreiften Schlange, barber's pole genannt, zu begegnen 
und ihr mit dem Knittel das Garaus zu machen. Unſer 
Capitän behauptete, daß ſie eine der giftigſten Schlangen dieſer 
Wälder ſei, deren Biß faſt plötzlichen Tod verurſache. 

Als der Dampfer das Signal zur Weiterreiſe gab, 
eilte die im Walde umherſtreifende Menge, mit rieſigen 
Blättern, welche mit dolchartigen, einen halben Fuß langen 
Stacheln beſetzt waren, mit Sträuchern und Blumen be— 
laden, wie Macbeth's wandelnder Wald, wieder an's Schiff, 
wo die Damen ſich während unſerer Abweſenheit damit 
unterhalten hatten, eine Legion kleiner und größerer Fiſche, 
die das Schiff umſchwärmten, mit Brodkrumen zu füttern. 

Um die Mitte des Tages paſſirten wir die Mündungen 
der Flüſſe Carlos und Serapiqui, die bedeutendſten Ne— 
benflüſſe des Rio San Juan, welche in den Hochgebit⸗ 
gen von Coſta-Rica entſpringen. 

Bald darauf, als das Wetter ſich gänzlich aufgeklärt, 
bemerkten wir zum erſten Male einen rieſigen Alligator, der, 
von der Sonne warm beſchienen, am nahen Strande ſchlum— 
merte. Ein paar hundert Piſtolenkugeln, die ihm ganz un— 
erwartet auf den Schuppenpanzer raſſelten, ſtörten den Be- 
herrſcher dieſer Gewäſſer aus ſeinem Mittagsſchläfchen und 
bewogen ihn, ſo ſchnell ſeine kurzen Beine es erlaubten, 
in die feuchte Tiefe zu watſcheln. Von jetzt an mehrten ſich 


23 


354 


dieſe rieſigen Amphibien, welche öfters die Länge von fünf- 
zehn Fuß hatten, ſo ſehr, daß wir kaum Zeit fanden, unſere 
Piſtolen zu laden, um ihnen beim Vorbeifahren, wenn ſie 
ſich wohlbehaglich am nahen Ufer oder auf Sandbänken 
im Fluſſe ſonnten, einen Freundſchaftsgruß in Geſtalt 
bleierner Kugeln zuzuſenden. Ob wir welchen derſelben 
wehe gethan, iſt wohl ſehr fraglich, da nur ein Schuß 
in's Auge oder hinter das Schulterblatt, welches meiſtens 
unterm Waſſer liegt, ihnen tödtlich ſein ſoll. 

Der Jubel der Paſſagiere war grenzenlos und das 
Geſchrei: „„Shoot him!“ — „Hit him: — „Give it 
to him! ete.‘‘, wenn die rieſigen Thiere unbeholfen vor 
unſern Kugeln flüchteten, wollte gar kein Ende nehmen. 
Affen, Papageyen und die zahlreich uns umflatternden 
großen und kleinen Vögel waren jetzt ſicher vor unſern 
Geſchoſſen, welche nur die gehaßten Amphibien ſuchten. 
Oefters wurden dieſe von mehreren Kugeln getroffen, ohne 
daß ſie ſich nur gerührt hätten; aber ein halbes Dutzend 
oder mehr blauer Bohnen, die ihnen an den Schädel raſſel— 
ten, bewogen ſie jedesmal zum ſchleunigen Rückzuge. Das 
Knallen und Hurrahrufen behandelten ſie mit ſtiller Ver— 
achtung, und ſelbſt der nur fünfzig Schritte vor ihnen vor— 
beirauſchende Dampfer wurde von ihnen gänzlich ignorirt. 

Nachmittags paſſirten wir mehrere niedliche Wohnungen, 
welche in reizenden Bananenhainen lagen, mit ſauberen 
Gärten dabei, voll von tropiſchen Gewächſen und ſchim— 
mernden Blumen. Männer, Frauen und Kinder ſtanden 
unter den von Lianen überrankten Verandas und grüßten 
uns mit flatternden Tüchern. Dann ſangen Vögel im Wald 
fremde Lieder, und die bunten Farben großer Papageien 
ſchimmerten im dunklen Grün der Palmenkronen; vom 
obern Deck des Dampfers ertönten die frohen Klänge eines 
Waldhorns, dem ein Schweizer herrliche Töne entlockte, 


355 


und welche das Echo jauchzend von fernen Waldmauern 
zurückrief. Im Hintergrunde der Landſtraße zeigte ſich 
höheres Land, auf dem der Wald fein dunkelgrünes Laub— 
dach wellenförmig emporſteigend in den blauen Aether ge— 
baut —, und dabei ein himmliſches Wetter, wie es nicht 
ſchöner zu denken war, eine Luft, geſchwängert mit dem 
erfriſchenden Dufte der vom geſtrigen Regen noch feuchten 
tropiſchen Rieſenwaldungen — wahrlich eine Reiſe, die mir 
ewig unvergeßlich bleiben wird! 

Leider ſollte unſere Feſtfahrt noch kurz vor ihrem 
Ende durch einen Schreckensunfall unterbrochen werden, 
der alle Heiterkeit hinwegſcheuchte. Als wir gegen Abend 
eine Anzahl von Inſeln und Stromverzweigungen, worunter 
den rechter Hand abfließenden, den Eldorado, paſſirt 
hatten und in der Dämmerſtunde nur noch eine Meile von 
Grey Town entfernt waren, erſcholl plötzlich der Schreckens— 
ruf: „Ein Mann über Bord!“ — Kaum hatten wir den 
Unglücklichen geſehen, wie er mit den dunklen Wogen kämpfte, 
als ſchon fein Todesſchrei über die Waſſerfläche tönte. 
Ein rieſiger Alligator riß ihn vor unſern Augen in die 
finftere Tiefe. Das Opfer des ſchrecklichen Todes war 
einer der Zwiſchendecks-Paſſagiere, ein Franzoſe, der aus 
Unachtſamkeit dem ganz freien Bootrande zu nahe gekommen 
und über Bord gefallen war. 

Der Name und die Heimath deſſelben konnten leider 
nicht ermittelt werden, da der Capitän es nicht der Mühe werth 
erachtete, ſämmtliche Reiſende nach der Paſſagierliſte aufzu— 
rufen, blos um einen Zwiſchendeck-Paſſagier, und zwar nur 
einen Franzoſen, zu identificiren. Jahre lang vielleicht hatte 
dieſer den unzähligen Gefahren und Mühſeligkeiten des Le— 
bens in den californiſchen Goldminen getrotzt, um die Noth 
der Seinen zu erleichtern, kehrte nun heim nach dem ge— 
liebten Frankreich mit ſeinen Erſparniſſen, und reiſ'te, wie 


23 * 


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356 


ſo viele Andere, im Zwiſchendeck, um möglichſt viel von 
ſeinem Erworbenen mit in die Heimath zu bringen. Daheim 
erwarteten ihn vielleicht Eltern und Geſchwiſter. Eine Gattin 
mit blühenden Kindern zählte vielleicht die Stunden und 
Tage, welche noch vergehen mußten, ehe ſie den ſo lange 
von ihr Getrennten wieder an die klopfende Bruſt preſſen 
konnte. Ach! die Stunden und Tage werden ſich in Monde 
und Jahre dehnen; die Gattin wird gramgebrochen ſterben, 
und die blonden Locken der Kinder wird der Schnee des 
Alters bleichen, wenn die Hoffnung, den lang Erſehnten 
wiederzuſchauen, ſchon längſt zu Grabe getragen worden iſt. 
Nicht trauernde Liebe weinte an der Stätte, wo die ewige 
Nacht ihn ereilte; nur der Tropenſtrom rauſchte zwiſchen 
finftern Urwaldsmauern ihm ein Todtenlied. 

Etwas nach Dunkelwerden landeten wir, durch den 
ſoeben ſtattgehabten Schreckensfall ſämmtlich in nieder— 
geſchlagener Stimmung nach einer Fahrt von 83 engliſchen 
Meilen, ſeit wir am Morgen Caſtillo verlaſſen, an dem 
Quai von Grey Town, auch San Juan de Nicaragua 
genannt. Der von New-York erwartete Dampfer war 
noch nicht angelangt, und die Tranſit-Compagnie weigerte 
ſich, uns in der Stadt Freiquartiere zu geben, was einen 
Sturm der Entrüſtung hervorrief. Nach längerem, zornigem 
Debattiren gab die Geſellſchaft zuletzt in ſo weit nach, daß 
den Paſſagieren der erſten Cajüte Freibillette nach den ver— 
ſchiedenen Hötels der Stadt gegeben wurden, während die 
der zweiten Cajüte und die Zwiſchendecks-Paſſagiere nach 
wie vor auf die delicaten „Sandwiches“ und den Tranſit— 
Kaffee angewieſen waren, oder auch ſich ſelbſt in der Stadt 
beköſtigen durften, und entweder am Ufer in offenen Scheunen 
oder auf dem Verdeck der Fluß-Dampfer auf Unkoſten der 
Compagnie, oder auch für's eigene Geld in beliebigen Hötels 
ſchlafen durften. 


357 


Nach einem beſchwerlichen Marſche von faſt einer 
Meile, in finſterer Nacht und in einer mir uubekannten 
Stadt, in der die faſt häuſerloſen Straßen mitunter durch 
Buſchwerk und ſumpfige Wieſen führten, und wobei ich ge— 
zwungen war, meinen vierzig Pfund ſchweren Handkoffer 
ſelber zu tragen, langte ich endlich tranſit-ſatt in meinem 
erſehnten Quartier, dem „Weſtern Hötel“, an, wo mein 
Wirth, ein höflicher Africaner, mir ein trauliches Zimmer— 
chen von etwa acht Fuß im Geviert als Boudoir anwies, 
welches außer einem maſſiven Bett nur noch einen mit 
himmelblauem Damaſt überzogenen Lehnſtuhl innerhalb ſeiner 
vier Wände als Mobiliar enthielt. An dem himmelblauen 
Lehnſtuhl fehlte ein Bein, was ich leider nicht eher entdeckte, 
als bis ich arglos in ihm Platz nahm und in einer ſehr 
unpoetiſchen Stellung plötzlich ſeitwärts auf den Boden 
glitt. Nachdem ich mein keineswegs mit ſchneeiger Lein— 
wand überzogenes Bett erſt gehörig recognoscirt und einen 
giftigen Tauſendfüßler, der es ſich unter meinem Kopfkiſſen 
bequem gemacht, ermordet, begab ich mich zur Ruhe und 
entſchlummerte bald, trotz biſſiger Ameiſen und brummen— 
der Musquitos, und träumte von Tropenwäldern, Alli— 
gatoren und ertrinkenden Franzoſen, bis der neue Tag durch 
mein ſcheibenloſes Gitterfenſter dämmerte. 

Unſer Aufenthalt in Grey Town hatte wenig An— 
ziehendes. Die Stadt, welche ſehr weitläufig gebaut iſt, 
liegt in einer ſumpfigen, von Wald umgebenen Niederung, 
deren eine Seite an das Meer ſtößt, und ſoll für nicht 
Acclimatiſirte ſehr ungeſund ſein. Einem Fremden hat 
dieſelbe nichts zu bieten, wodurch ihm ein längerer Aufent— 
halt in ihren Mauern angenehm gemacht werden könnte. 
Die in ihren Mauern zerſtreut daſtehenden Cocos-, Palm⸗, 
Brotfrucht⸗, Bananen- und andere tropiſche Bäume verlieren 
das Intereſſe, ſobald die Neuheit vorüber iſt. Das Wetter 


358 


bei Tage war ſchwül und regneriſch, und Musquitos und 
Ameiſen thaten ihr Möglichſtes, Einem die Nächte gründ— 
lich zu verleiden. 

Etwas Unterhaltung gewährte am zweiten Abende un— 
ſeres Aufenthaltes eine blutige Schlägerei zwiſchen Einge— 
bornen und Jamaica-Negern, welche letztgenannte, von der 
Inſel Jamaica eingewanderte Menſchenklaſſe ſowohl auf 
dem Iſthmus von Nicaragua als in Panama ſehr zahlreich 
vertreten iſt und durch ihre grenzenloſe Frechheit, Faul— 
heit und Unſauberkeit allen Reiſenden den widerwärtigſten 
Eindruck hinterläßt. Das Gejammer und Zetergeſchrei 
von den mit fliegenden Haaren und händeringend auf und 
ab rennenden ſchwarzen und braunen Frauen, das Fluchen 
in Spaniſch und Engliſch von den ihre langen Meſſer 
ſchwingenden, halb betrunkenen Männern — dieſer Bedlams— 
ſkandal in halbdunkler Nacht übertraf an Wildheit und Roh— 
heit Alles, was ich noch je in dieſer Art geſehen hatte. 

Froh waren wir, als nach zwei Tagen der ſtattliche 
Seedampfer „Santiago de Cuba“ auf der Rhede anlangte, 
und ſämmtliche Paſſagiere auf kleineren Dampfſchiffen nach 
einer vor dem Hafen gelegenen Sandbank, Punta Arenas, 
gebracht und von dort in Brandungsbooten zum Ocean— 
dampfer gerudert wurden. Die Fahrt durch die Brandung 
war der Schlußakt des Tranſits, der in unſerm Fall ohne 
Unglück bewerkſtelligt wurde, bei ſtürmiſchem Wetter jedoch 
ſehr gefährlich ſein ſoll. Das Waſſer der Bai wimmelt 
nämlich von Alligators und Haifiſchen, welche die Rettung 
über Bord Fallender ſchlechterdings unmöglich machen, da 
dieſe von den Ungeheuern ſchneller fortgeſchnappt werden, 
als man eine helfende Hand nach ihnen ausſtrecken kann. 
Im Jahre vor meiner Reiſe ſchlug ein mit engliſchen Ma— 
troſen bemanntes Boot im Hafen um, deſſen Inhaber ſämmt— 
lich, ſo zu ſagen im Handumdrehen, aufgefreſſen wurden. 


359 


Ich poftirte mich, hiervon unterrichtet, wohlweislich bei der 
Ueberfahrt inmitten des ganz bedenklich wackelnden Bran— 
dungsboots, und war froh, als ich das ſichere Verdeck des 
„Heiligen Jago“ betrat. 

Die Zeit des Tranſits, welcher nach dem Verſprechen 
der Compagnie in höchſtens vierundzwanzig Stunden be— 
werkſtelligt werden ſollte, betrug von der Landung in San 
Juan del Sur bis wir an Bord des Dampfers „Santiago“ 
ſtiegen, gerade fünf Tage und fünf Stunden, könnte je— 
doch mit beſſeren Verbindungsmitteln leicht in zwei Mal 
vierundzwanzig Stunden bewerkſtelligt werden. Was die 
Bekanntmachung von der „freien Beköſtigung auf dem Iſth⸗ 
mus“ anbelangt, ſo war dieſelbe von der Tranſit-Compagnie 
wohl nur als unſchuldiger Scherz gemeint, der Niemandem 
beſonders wehe thun würde. Die auf einer ſolchen Reiſe 
gehabten Widerwärtigkeiten vergißt man ja ſo wie ſo bald! 
Ich meinestheils werde das ſchöne Nicaragua, den Garten 
von Central-Amerika, in wohlwollendem Andenken behalten, 
und fühle mich durch das Abenteuerliche des Tranſits und 
durch die reiche Tropenwelt, welche ich dort geſchaut, tau— 
ſendfach für alle Unannehmlichkeiten der Reiſe entſchädigt. 


2, Eine Dampferfahrt auf dem Ned- River, 


Unter allen zahlreichen Strömen Nordamerika's zeichnet 
ſich der Red-River, der Rothe Fluß, von den Indianern 
nach feiner Farbe Ke-che-a-que-ho-no, der Strom der 
blutigen Waſſer benannt — nicht zu verwechſeln mit dem 
in Minneſota entſpringenden und nördlich ſtrömenden, in 
den Winipeg-See ſich ergießenden Red-River of The North 
— durch ein ganz beſonders gefährliches den Dampfſchiffen 
unheilbringendes Fahrwaſſer aus. Gingen doch binnen 
10 Monaten ſeit der Wiederaufnahme des Handelsverkehrs 
nach dem großen Bürgerkriege auf ſeinem untern Strom— 
laufe, zwiſchen Shreveport und ſeiner Mündung in den 
Miſſiſſippi, 34 — ſage vierunddreißig — Dampfboote 
darauf zu Grunde! Und doch iſt die Dampfſchifffahrt 
auf dieſem ſeinem untern Stromlauf im Vergleich zum 
obern nur Kinderſpiel. 

Auf den ausgedehnten „Salzebenen“ im äußerſten Nord— 
weſten des Staates Texas und weſtlich von den Höhenzügen 
der Waſhita⸗Berge, in einer Entfernung von 2100 engliſchen 
Meilen von feiner Mündung in den Miſſiſſippi, liegen die 
Quellen des blutrothen Ke-che-a-que-ho-no. Scheinbar 
grenzenloſe Ebenen, blendend weiß, wie mit friſch gefallenem 
Schnee bedeckt, lehnen ſich zu beiden Seiten an die Ufer 
des jugendlichen Stromes. 

Das dieſe Ebenen bedeckende Salz hat ſeinen Urſprung 
in unzähligen Salzquellen, die aus dem Boden empor— 


361 


ſprudelu, deren Waſſer ſich auf der Fläche ausbreitet und 
ſchnell in der brennenden Sonne verdunſtet. Das Salz 
bildet ſtellenweiſe eine tiefe Kruſte, ſo daß man es buch— 
ſtäblich aufſchaufeln kann, und würde, wenn der Transport 
deſſelben nicht ſo koſtſpielig wäre und ein Schienenweg 
dieſe entlegenen Gegenden mit der civiliſirten Welt ver— 
bände, bald einen bedeutenden Ausfuhrartikel des nördlichen 
Texas bilden und dem gegenwärtig von Liverpool aus nach 
New-Orleans und andern Häfen des Südens in großen 
Quantitäten eingeführten Grobſalz eine nicht zu verachtende 
Concurrenz machen. 

In Folge des Urſprungs des Red-River auf dieſen 
Salzebenen hat ſein Waſſer einen eigenthümlich brackigen 
Geſchmack. Für die Dampfboote iſt das im Innern der 
Dampfkeſſel ſich anſetzende Salz ganz beſonders läſtig. Da 
ſie keine Deſtillirapparate, wie die Seedampfer mit ſich 
führen — was auch nicht nöthig iſt, weil der Salzgehalt 
des Red-River-Waſſers, namentlich im untern Stromlaufe, 
nur gering iſt — ſo iſt ein häufiges Reinigen der Dampf— 
keſſel nicht zu vermeiden, was dem Red-River ſchon manchen 
ungalanten Fluch ſeitens der ihn gelegentlich beſuchenden 
Miſſiſſippi⸗Dampfbootfahrer eingetragen hat. 

Die Salzebenen hinter ſich laſſend, durchzieht der Red— 
River weite Prairien, die Wohnung zahlloſer Biſons, welche, 
von der unaufhaltſam nach Weſten vorwärts ſchreitenden 
Civiliſation aus ihrer alten Heimath, vom Colorado, Brazos 
und Trinity, verdrängt, dort einen zeitweiligen Znfluchts— 
ort gefunden haben. Aus der Ebene tretend, ſtrömt er, 
bis zu ſeiner Mündung zwiſchen dicht bewaldeten Ufern 
hinbrauſend, am ſüdlichen Fuße der Waſhita-Berge hin, bis 
er am öſtlichen Endpunkte der Ausläufer derſelben den ihm 
an Größe gleichen Waſhita-Fluß aufnimmt, der am nörd— 
lichen Fuße der Waſhita-Berge hinfließt und dieſe mit 
dem Rothen Fluſſe gleichſam eingekeilt hat. 


362 


Die Waſſermenge des Red-River ift an dieſem Punkt, 
etwa 500 engliſche Meilen von feinen Ouellen, wo das 
Städtchen Preſton ſteht, nur unbedeutend. Die von ihm 
durchſtrömten Prairien find ſehr waſſerarm und die Waſhita— 
Berge nicht bedeutend genug, um einen Fluß von der Länge 
des Red-River das ganze Jahr hindurch gleichmäßig mit 
Waſſer zu ſpeiſen, was ſich bis nach Shreveport hinunter be— 
merklich macht. Durch plötzliche Regengüſſe und das gleich— 
zeitige Schmelzen des Schnees auf den Waſhita-Bergen 
nimmt ſein Waſſergehalt jedoch mitunter dermaßen zu, daß 
er für Dampfboote bis auf eine Entfernung von 1200 
engliſchen Meilen von ſeiner Mündung, bis an den Einfluß 
des Kiamitia (Kei⸗a⸗miſch), namentlich in den Frühlings- 
monaten, zugänglich wird. Einzelne Dampfer haben bei 
beſonders hohem Waſſerſtand ſogar ſchon das Städtchen 
Preſton erreicht. 

Durch das plötzliche Schwellen ſeiner Gewäſſer richtet 
der Red⸗River mitunter ungeheure Verheerungen an. Am 
gefürchtetſten iſt das ſogenannte Juni-Hochwaſſer, welches 
durch das Schmelzen der auf den Waſhita-Bergen lagern— 
den Schneemaſſen verurſacht wird. Oft iſt das obere Strom— 
bett halbe Jahre lang ſo waſſerarm, daß Mann und Roß 
mit Leichtigkeit hinüber paſſiren können; die Dampfſchifffahrt 
iſt gänzlich unterbrochen, und der Handel leidet großen Scha— 
den. Plötzlich jedoch kommen gewaltige Waſſermaſſen das 
gewundene Thalbett herabgebrauſ't. Die Gewäſſer ſcheinen 
gleichſam lebendig zu ſein von ſchwimmenden Baumſtämmen, 
die ſich oft ineinander feſtklemmen und natürliche Flöße oder 
halbverwitterte, unbeſchreiblich wüſt ausſehende Baumſtamm⸗ 
barricaden, namentlich an den Uferſtrömungen, bilden. 

Man male ſich ein Bild von ſolch einer verheerenden 
Fluth, wie z. B. die vom Jahre 1843, der ſchrecklichſten 
der Ueberſchwemmungen, welche ſeit Menſchengedenken das 


363 

Red⸗River⸗Thal verwüſtet haben, als der Fluß 40 Fuß in 
dreizehn Stunden ſtieg, das Land und die reichen Pflan— 
zungen auf beiden Ufern meilenweit überfluthend, Baum⸗ 
ſtämme wie Mauerbrecher durch die Häuſer ſchleudernd, 
Zäune und alles nicht Niet- und Nagelfeſte mit ſich fort- 
führend, und denke ſich dabei Dutzende von Dampfern, 
welche, das hohe Waſſer benutzend, ſich durch die ſchwim— 
menden Baumſtamm-Maſſen ſtromaufwärts arbeiten und 
ſchwarze Rauchwolken über die Wälder rollen; man ſtelle 
ſich vor das dumpfe Brauſen der ſeitwärts durch die Wal— 
dungen hinſtürzenden Gewäſſer, untermiſcht mit dem klagen 
den Gebrüll ertrinkender Rinder, und man wird mit mir 
übereinſtimmen, daß der blutige nordamerikaniſche Südweſt— 
ſtrom in entfeſſelter Kraft ein recht unbändiger Sohn der 
Wildniß iſt. 

Glücklicherweiſe ſind ſolche Fluthen, wie ſie beſonders 
in den Jahren 1843, 1844 und 1849 ſich ereigneten, eine 
Seltenheit, und nur in ſolchen Ausnahmefällen werden die 
Pflanzungen überſchwemmt, da die Ufer an 30 Fuß überm 
niedrigen Waſſerſtand erhaben ſind; aber Fluthen von 15 
bis zu 25 Fuß Höhe gibt's in jedem Jahre, die, ſtatt 
Schrecken einzuflößen, mit Freuden begrüßt werden. Das 
Hochwaſſer giebt nämlich den Dampfern die Möglichkeit, 
den Fluß hinaufzufahren und die an ſeinen Ufern auf Trans⸗ 
port wartenden Baumwollenballen ſtromabwärts nach New- 
Orleans zu bringen. 

Da das Hochwaſſer jedoch faſt eben ſo ſchnell wieder 
fällt als es geſtiegen iſt, ſo iſt es keine Seltenheit, daß 
einer oder der andere Dampfer, ehe er wieder ſtromab— 
fahren kann, auf einer Sandbank feſtſitzen bleibt und dort mit 
ſeiner reichen Ladung auf das nächſte Hochwaſſer warten muß. 

Seinen Namen verdankt der Fluß, wie ſchon bemerkt, 
ſeiner braun⸗rothen Farbe, die er vom Boden, welchen er 


364 


durchſtrömt, einer röthlichen Thonerde, annimmt, die für 
den Ackerbau ganz beſonders ergiebig iſt. Fruchtbareren 
Alluvialboden, als den am Red-River, gibt es wohl nirgends 
in der Welt, ſelbſt die Niederungen des Nil und die 
Miſſiſſippi⸗Bottoms nicht ausgenommen. Dreiviertel bis 
zu einem Ballen Baumwolle (der Ballen zu 500 Pfund, 
gereinigt, gerechnet = 1750 Pfund gepflückt) auf den Acker 
iſt der gewöhnliche Ertrag des Bodens, der ſich in einzel— 
nen Fällen bis auf 3000 Pfund geſteigert hat. 

Wegen ſeiner beſtändigen Krümmungen gleicht der Red— 
River dem Mäander der Alten. Wer je auf ſeinen Ge— 
wäſſern eine Vergnügungs- oder Geſchäftsreiſe gemacht hat, 
der hat ſich ſicherlich darüber geärgert, daß es ein Ding 
der Unmöglichkeit iſt, bei Tag auch nur ein halbes Stünd— 
chen gemüthlich auf dem Dampferdeck oder in ſeiner Koje 
im Schatten zu ſchlummern. Bald ſcheint die Sonne von 
rechts her, bald von links, bald brennt ſie einem den Rücken 
und bald blendet ſie die Augen, gerade als ob ſie um einen 
herumliefe. Auf einer Stelle macht der Strom eine Bie— 
gung von 27 Meilen* und kommt dem Halſe der Krümmung 
wieder auf anderthalb Meilen nahe, ehe er in gänzlich plan— 
loſer Weiſe weiter fließt. Doch ſind die Krümmungen 
meiſtens nur kurz. Die Entfernung von Shreveport nach 
Rowland am obern Red-River, die in gerader Linie etwa 
hundert Meilen beträgt, iſt auf dem Fluß über ſechshundert 
Meilen lang. 

Alle jene Widerwärtigkeiten der Schifffahrt auf dem 
Red⸗River kommen jedoch nicht in Betracht gegen die— 
jenigen, welche durch die unzähligen ſchwimmenden oder 
im Strombett feſtſitzenden Baumſtämme verurſacht werden. 


*) Unter Meilen ſind allemal engliſche Meilen zu verſtehen. 
Eine engliſche Meile = 1760 Yards. 8100 Pards find 1 deutſche 
Meile. 1 


365 


An den vielen kurzen Biegungen ſetzen ſich dieſe nament— 
lich leicht feſt. Oft ſieht man ſie im wildeſten Chaos dort 
aufgethürmt und in großen Strecken in einander verflochten, 
oder auch vereinzelt ſtromab treiben. Bei niedrigem Waſſer— 
ſtand rennen ſich viele dieſer ſchwimmenden Stämme mit 
ihren das Waſſer einſaugenden und ſchwereren Wurzeln 
im Grunde feſt. Der Stamm, von dem Aeſte und Rinde 
bald von andern vorbeiſchwimmenden Baumkoloſſen abge— 
riſſen werden, wendet ſich mit der oberen Spitze ſtromab 
und ſteht wie eine Palliſade im Waſſer da. Steigt das 
Waſſer, ſo wird der Stamm von demſelben ganz oder theil— 
weiſe verdeckt, und der „Snag“ iſt fertig, der Todfeind 
aller, insbeſondere der Red-River-Dampfer. 

Ein nur ſchwach vom Waſſer bedeckter Snag, der ſich 
mitunter leiſe aus der dunklen Fluth hebt, die ſein Haupt 
kräuſelnd umſpielt, iſt ein ſehr ungemüthliches Schauſpiel 
für den Reiſenden, namentlich wenn der Dampfer ſcheinbar 
gerade auf ihn losjagt, und der Pilot zum Spaß verſucht, 
wie nahe er wohl an ihm vorbeifahren könne, ohne das 
Schiff aufzuſpießen. Bei einer Schnelligkeit von zehn oder 
zwölf Meilen in der Stunde auf einen Snag zu rennen, 
kann einem Red⸗River-⸗Dampfer jede Minute widerfahren. 
Den Erfolg, wenn jener durch die Planken in den untern 
Raum des Dampfers bricht, kann ſich der Leſer wohl leicht 
vorſtellen. 

Oberhalb Shreveport, wo der Fluß nur wenig Gefäll 
hat, haben ſich Millionen von Stämmen in einander ge— 
ſchoben, und eine feſte Maſſe, das weit bekannte und be— 
rüchtigte ſogenannte „Red-River-Raft“, gebildet. Die Ober- 
fläche des Fluſſes iſt dort von feſt in einander geſchobenen 
Baumſtämmen überdacht. Büſche und große Cotton-Wood⸗ 
Bäume (Populus Canadensis) wachſen mitten auf dem 
Raft; Rehe gehen wie auf einer Brücke hinüber. 


366 


Ehedem erftredte ſich daſſelbe 150 Meilen bis nach 
Loggy Bayou, 110 Meilen unterhalb Shreveport. Ein ge⸗ 
wiſſer Shreve, der Gründer der Stadt Shreveport, ſchaffte 
den größten Theil des Raft im Jahre 1841 fort, indem 
er die Stämme einzeln in Stücke ſägen und vom untern 
Ende deſſelben ſtromab ſchwimmen ließ. Der obere Theil 
des Raft wurde nie ganz fortgeſchafft. Shreve that es 
nur theilweiſe, indem er einen Canal, der Mitte entlang, 
hindurchſägen ließ, der aber bald wieder von neuem Treib— 
holz verſchloſſen ward. Im Jahre 1856 unternahm es ein 
gewiſſer Fullner, ein Kentuckier, dem die Staaten Louiſiana, 
Arkanſas und Texas dazu die Summe von 150,000 Dollars 
vorſchoſſen, zum zweitenmal. Er hatte nur eine kurze 
Strecke des Raft fortgeſchafft, als ein Hochwaſſer die ge— 
öffnete Stelle wieder mit loſen Stämmen füllte, worauf 
er, mehr auf den Vortheil ſeiner Taſche als auf den 
Nutzen des Landes bedacht, mit dem Unternehmen auf— 
hörte, das ihm, beiläufig ſei's bemerkt, die Kleinigkeit von 
140,000 Dollars eingetragen haben ſoll — alſo ein gutes 
Geſchäft war. Vor einigen Jahren, als bei außer— 
gewöhnlich trockenem Sommer der Waſſerſtand im obern 
Red-River ganz beſonders niedrig war, ſprach man in 
Texas allen Ernſtes davon, das einer Brücke ähnliche Raft 
auszubrennen; aber es blieb beim Wollen, da der Krieg 
dort zu Lande die Gemüther zu ſehr beſchäftigte, als daß 
das Volk ſich hätte entſchließen können, dieſes Werk frei— 
willig zu unternehmen. 

Daß das Raft weggeſchafft werden kann, unterliegt 
keinem Zweifel. Der Vortheil, welchen die Schifffahrt auf 
dem obern Red-River dadurch gewinnen würde, wäre ein 
ungeheurer. Die aller Berechnung ſpottenden Ueberſchwem— 
mungen würden aufhören, oder ſich doch bedeutend ver— 
ringern, da das Waſſer alsdann einen regelmäßigen Abfluß 


367 


hätte, und Damfboote könnten faſt das ganze Jahr hin- 
durch den Fluß bis auf eine Entfernung von etwa 1200 
Meilen von ſeiner Mündung hinauf befahren. Auch würde 
ein bedeutender Landſtrich außerordentlich fruchtbaren Bo— 
dens, der gegenwärtig von flachen Seen bedeckt iſt, durch 
Wegſchaffung des Raft trocken gelegt und dem Anbau zu- 
gänglich gemacht, was allein ſchon alle Koſten des Unter- 
nehmens zehnfach einbringen würde. Gegenwärtig exiſtiren 
noch etwa 30 Meilen vom Raft. Es ſind aber viele Stellen 
offenen Waſſers darin, und die längſte feſte Strecke beträgt 
nur ſieben und eine halbe Meile, das Hauptquartier der 
unzähligen Alligators vom Red-River. 

Die Dampfboote, welche den obern Fluß befahren, 
umgehen das Raft vermittelſt einer Kette von Seen und 
Bayous, welche man durch Canalbauten der Schifffahrt 
mehr zugänglich gemacht hat. Sie bedecken das Land an 
dieſer Stelle meilenweit, und ohne ſie wäre der obere Red— 
River durch das Raft gegen die Schifffahrt ſtreng ver— 
ſchloſſen. Nach rechts hin dehnen ſich die in einander ver— 
ſchlungenen Seen und Bayous 50 Meilen weit bis nach 
der Stadt Jefferſon aus, dem Stapelplatz der reichen Counties 
am obern Red-River, welche, wenn die Schifffahrt auf dem 
obern Fluß unterbrochen iſt, von hier aus mit Shreveport 
und New⸗Orleans in Verbindung treten. 

Von Shreveport aus, das ſich zu einer blühenden 
Handelsſtadt emporgeſchwungen hat,“ der bedeutendſten am 


* Die Stadt Shreveport hat als der öſtliche Terminus der gegen- 
wärtig im Bau begriffenen Texas Pacific-Eiſenbahn, deren weſtlicher 
Ausgangspunkt der Seehafen St. Diego im ſüdlichen Californien 
werden ſoll, erhöhte Bedeutung erlangt. Durch die furchtbare 
Gelbesfieber-Epidemie, welche die Stadt im Jahre 1873 heim— 
ſuchte, iſt ihr Aufſchwung nur zeitweilig gehemmt worden und eine 
bedeutende Zukunft ſteht ihr ohne Frage in Ausſicht. 


368 


Red⸗River, mit der nach ſüdlichen Begriffen nicht unbedeu— 
tenden Einwohnerzahl von 5000 Seelen, welche jedoch 
den Handel einer deutſchen Binnenſtadt von wenigſtens 
ſechsfacher Bevölkerung vertreten, iſt die Schifffahrt bis zur 
Mündung des Fluſſes, eine Strecke von 500 Meilen, das 
ganze Jahr hindurch offen. Nur die Jahre 1853 — 1855 
bildeten eine Ausnahme, in denen das Waſſer ſo niedrig 
war, daß Dampfer nur bis nach Alexandria gelangen 
konnten. 

Unter den Stromſchnellen ſind die ſogenannten Falls 
(Fälle), eine Meile oberhalb der Stadt Alexandria und 
150 Meilen von der Strommündung gelegen, die bedeu— 
tendſten, und erſchweren bei niedrigem Waſſerſtande die 
Dampfſchifffahrt ganz außerordentlich. Bei hohem Waſſer 
dagegen ſind dieſe Fälle kaum bemerkbar. Dort ſtehen 
die Ueberreſte des vom Admiral Porter im April des Jahres 
1864 gebauten Damms, durch den er das Waſſer des 
Fluſſes künſtlich aufſtaute, um ſeiner Kanonenboot-Flottille 
nach General Banks’ unglücklichem Feldzuge gegen Shreve— 
port einen Ausweg nach dem Miſſiſſippi zu verſchaffen. 
Das Waſſer im Red-River war nämlich plötzlich dermaßen 
gefallen, daß die Kriegsſchiffe auf Sandbänken feſtſaßen und 
nicht mehr über die Fälle, auf denen nur anderthalb Fuß 
Waſſer ſtand, zurück konnten. In wenigen Tagen wurde 
dieſes Rieſenwerk, wozu das Material von den aus Ziegeln 
erbauten in der Nähe liegenden Zuckerſiedereien genommen 
wurde, ein Denkmal der Energie der Yankees, geſchaffen; 
und als das Waſſer genügend geſtiegen war, ſchoſſen die 
von den Rebellen bereits als gute Beute angeſehenen 
Panzerboote, vom aufgeſtauten Waſſer emporgehoben, durch 
die am einen Ende des Damms nahe am Lande geöffnete 
Schleuſe auf wildſchäumenden Wogen ſtromab und waren 
gerettet. 


369 


Im Januar 1867, als ich bei ſehr niedrigem Waſſer— 
ſtande den Red-River nach Shreveport hinaufreiſ'te, ver— 
brachte ich einen ſehr intereſſanten Tag an dieſer Stelle. 
Es nahm unſerm Dampfer zehn Stunden Zeit in Anſpruch, 
um ſich über die Fälle und durch Porter's Damm zu 
arbeiten. An gewaltigen, oberhalb der Fälle am Ufer be— 
feſtigten Stricken zog der Dampfer unſer Schiff langſam 
mit Titanenkraft gegen die wilden Waſſerſtröme aufwärts. 
Zoll um Zoll eroberte der Dampf ſich das ihm von der 
Strömung ſtreitig gemachte Terrain. Die in der Ferne 
liegenden Ruinen von Alexandria, welche Stadt von Ge— 
neral Banks auf ſeinem eilfertigen Rückzug im Frühjahr 
1864 zerſtört ward, ein vor unſern Augen und ganz in 
der Nähe ſo eben verſunkener Dampfer, der ſeine Baum— 
wollenladung auf eine Sandbank zu retten verſuchte, zwei 
Sandforts am Strande, aus deren Schießſcharten ein paar 
Kanonenmündungen finſter zu uns herüberſchauten, und unſer 
gegen die blutrothen Waſſer mühevoll ankämpfender Dampfer 
gewährten ein mir unvergeßliches wild-romantiſches Bild. 

Um dem Leſer eine Fahrt auf dem oberen Red-River, 
ſowohl bei niedrigem als bei hohem Waſſerſtand, recht zu 
veranſchaulichen, laſſe ich jetzt die getreue Darſtellung einer 
Reiſe folgen, welche ich in den Monaten April und Mai 
1867 von Rowlaud nach Shreveport zurücklegte. 

Es war am Scheidetag des Monats März, als die 
willkommene Nachricht in Clarksville, meinem zeitweiligen 
Aufenthaltsort im nordöſtlichen Texas, anlangte, daß ein Hoch— 
waſſer den ſeit mehr als acht Monaten faſt ausgetrockneten 
Red⸗River anſchwelle und daß mehrere Dampfer, denſelben 
benutzend auf ihm ſtromaufwärts nach Rowland fahren. 

Ein jeder, der ſich im Beſitz von Baumwolle wußte, 
worunter auch ich, hörte dieſe Nachricht mit Freuden, und 
ich war keiner der letzten, die ſich hoch zu Roß von Clarks— 


24 


870 


ville nach dem etwa 15 Meilen entfernten Rowland in 
Bewegung ſetzten. 

Daſelbſt angelangt fand ich den zwerghaften Dampfer 
„George“ an dem etwa 30 Fuß ſteil abfallenden Ufer 
liegen, ſo daß kaum die Kronen ſeiner Schornſteine vom 
Lande aus zu ſehen waren. Das Hochwaſſer war alſo 
keineswegs ein bedeutendes zu nennen. Da der George 
jedoch nur zwei und einen halben Fuß Tiefgang hatte, ſo 
wagte ich es doch ihm eine Partie meiner Baumwolle an— 
zuvertrauen, in der Hoffnung, daß ein friſcher Waſſerzufluß 
ihn über die zahlloſen Sandbänke und Untiefen hinüber— 
tragen werde. 

Der Morgen des 1. April dämmerte kaum, als das 
ſchrille Signal unſers Dampfers das Echo in den finſtern 
Wäldern am jenſeitigen Ufer, der Heimath der halb civi— 
liſirten indianiſchen Nationen wachrief. Die Aprilſonne be— 
mühte ſich ſcheinbar vergebens, die graue Nebeldecke von 
den blutrothen Wellen des Fluſſes zu lüften, auf dem wir 
langſam ſtromabwärts fuhren. Es war ſehr unangenehm 
kühl, ſo daß ich froh war, mich in meine warme Decke 
hüllen zu können. Die friſche Temperatur am heutigen 
Morgen erinnerte an ein nördliches Klima, das mancher, 
dem die Witterungsverhältniſſe dieſes Landes fremd ſind, 
in dieſem Breitengrade wohl nicht erwarten möchte. 

Allmählich gewannen die Sonnenſtrahlen über die mit 
ihnen ſtreitenden Nebelbänke die Herrſchaft. Dieſe hoben 
ſich von den Wellen und glitten von beiden Seiten des 
Fluſſes über die Waldungen und Plantage-Felder nach den 
nächſten Hügeln, wo ſie ſich lagerten und nach und nach 
verſchwanden. Dieſe Nebel ſind die Urſache giftiger Wechſel— 
fieber, welche an den Ufern des Red-River zu Hauſe ſind. 
Alte Pflanzer, die mit der Natur dieſer Fieber vertraut 
ſind, bauen ihre Wohnungen am liebſten in der Nähe des 


371 


Flußufers, wo vom Fieber weniger zu befürchten iſt 
als weiter landeinwärts, wo die Nebel ſich bei Tage 
ablagern. 

Als es der Sonne gelungen war, die Nebel vom Fluſſe 
zu verjagen, begann ich dieſen mit kritiſchen Augen zu be— 
trachten, um etwaige verborgene Sandbänke und Snags zu 
entdecken. Die waldgekrönten Uferbänke ragten zu beiden 
Seiten 25 bis 30 Fuß über den Waſſerſpiegel empor, 
weßhalb ich, um eine Ausſicht in die Landſchaft zu ge— 
winnen, in dem nach Bauart aller amerikaniſchen Fluß— 
dampfer ganz oben überm obern Cajütendeck des Dampfers 
angebrachten Steuerhauſe Platz nahm. Dort hatte ich 
Gelegenheit, mit dem Piloten eine Bekanntſchaft anzu— 
knüpfen und von ihm manche intereſſante Aufſchlüſſe über 
den Red-River und deſſen Umgebung zu erhalten. 

Der Pilot eines amerikaniſchen Flußdampfers iſt ſo zu 
ſagen die Seele des Schiffs, und hat unter allen Officieren, 
den Capitain nicht ausgenommen, die verantwortlichſte 
Stellung auf demſelben. Auf dem Fluſſe gleichſam geboren, 
iſt er mit allen Tücken deſſelben vertraut, ſo daß ſeine 
Dienſte, auf einem Strom mit ſo gefährlichem Fahrwaſſer 
wie der Red-River es iſt, gleichſam mit Gold aufgewogen 
werden. 

Nach dem Schluſſe des Bürgerkrieges und der Wieder— 
aufnahme des Handelsverkehrs im Süden hatten die Lootſen 
des Red-Rivers goldene Tage. In den erſten ſechs Mo— 
naten belief ſich ihr Monatsgehalt auf 1500 Dollars, 
wurde aber alsdann etwas heruntergeſetzt; der unſrige er— 
hielt nur noch 1000 Dollars, worüber er ſich bitter be— 
klagte. Der Gehalt der Lootſen, welcher ſich vor dem Kriege 
nur auf ein paar 100 Dollars monatlich belief, ſtieg ſo 
hoch, einestheils, weil zuverläſſige Piloten nur noch ſelten zu 
finden waren, anderntheils, weil die ſo lange unterbrochene 


24 * 


372 


Dampfſchifffahrt durch unzählige neue Snags und Sand— 
bänke außerordentlich erſchwert wurde und von Seiten des 
Piloten verdoppelte Aufmerkſamkeit verlangte. 

Ein ungewöhnliches Schwanken des Dampfers und ein 
ſeltſam knarrendes und ſchabendes Geräuſch unter uns er— 
regte plötzlich meine Aufmerkſamkeit. Der Pilot trieb das 
Fahrzeug mit einigen energiſchen Glockenzügen ſofort zu 
verdoppelter Eile an, und erwiederte auf meine Frage: was 
es gebe? „only a bar“ (nur eine Sandbank), über welche 
der flach gebaute Dampfer mit dem Boden hinkratzte. 
Der Dampf war jedoch nicht im Stande, unſer Schiff ſo 
leicht über die Barre hinüberzutreiben wie der Pilot es er— 
wartet hatte; die Strömung faßte den Dampfer ſeitwärts, 
der plötzlich eine Schwenkung machte und ſich quer über 
den Fluß legte. 

Ein Boot auszuſetzen, — ein Kabel an einem feſten 
Baum am Ufer zu befeſtigen, womit der Dampf unſer 
Schiff vermittelſt der auf dem Vordertheil des Fahrzeugs 
angebrachten Dampfwinde wieder herumzog, — ſich mit 
dem Rad rückwärts von der Sandbank loszuarbeiten, das 
war die Sorge des Capitains, der Officiere und der ganzen 
Negermannſchaft, wobei es an grimmigen Redensarten und 
ſataniſchen Flüchen, namentlich ſeitens des Mate (der erſte 
Officier, welcher die Mannſchaft commandirt), gegen die 
Schwarzen nicht fehlte. 

Sobald das Schiff wieder flott war, übernahm der Pilot 
das Commando auf's Neue, leitete den Dampfer rückwärts 
eine Strecke ſtromauf und nahm alsdann einen tüchtigen 
Anlauf mit aller disponiblen Dampfkraft, vermittelſt deſſen 
der Dampfer ſo zu ſagen über die Sandbank hinüberſetzte. 
Dieſes Manöver bezeichnete der Pilot mit dem Kunſtaus— 
druck „jumping a bar“ (über eine Sandbank ſpringen); doch 
kann ich nicht ſagen, daß dieſer Kraftſprung des Dampfers, 


373 


der dabei in allen Fugen knackte, indeß Gläſer, Teller und 
Flaſchen in der Küche, und Tiſche und Stühle in der Cajüte 
klirrten und umhertanzten, mir beſonders behagte. 

Der Red-River bildete hier die Grenze zwiſchen dem 
Staate Texas und der „Nation“, wie das verſchiedenen 
halb civiliſirten Indianerſtämmen von den Vereinigten 
Staaten angewieſene Gebiet genannt wird. Die an den 
Red⸗River grenzenden Counties des nördlichen Texas find 
ganz beſonders productiv, ſowohl an Baumwolle, als an 
den verſchiedenen Kornarten, beſonders Mais und Weizen, 
und die Viehzucht, namentlich von Schafen und Rindern, 
in ihnen iſt bedeutend. 1500 Pfund gepflückter Baumwolle, 
40 Buſhels Mais und 20 Buſhels Weizen ſind der Durch— 
ſchnittsertrag auf den Acker. Saftigere Melonen und Pfir— 
ſiche giebt's nirgends in der Welt. Ich habe Melonen 
geſehen, die 60 Pfund wogen. Die einheimiſche Rebe 
wächſt hier auf's üppigſte wild. 

Ein reicher ſchwarzer Boden durchzieht dieſe Counties 
in ausgedehnten Flächen, „the black lands““, das ſchwarze 
Land, benannt, zum Unterſchiede von den meiſtens am Red— 
River belegenen „red lands“ (rother Alluvialboden) und 
den „sandy lands“ (mit Sand gemiſchter Boden) der Pine— 
und Poſt⸗Oak⸗Landſtriche — und ruht auf einer von zwei 
bis zu zehn Fuß unter ihm lagernden Kalkſteinformation, 
die öfters zu Tage tritt. 

Das ſchwarze Land, welches ſo reich iſt, daß es bei dem 
in den Wintermonaten häufigen Regenwetter ſich fettartig 
anfaßt und in ſchweren Klumpen an die ſich darüber hin- 
bewegenden Wagenräder hängt, dehnt ſich von Red-River⸗ 


County incl. in einer Länge von etwa 130 Meilen von 


Oſt nach Weſt aus. Seine Durchſchnittsbreite, die im öſt— 
lichen Theile von 10 bis zu 15 Meilen ſchwankt, erweitert 
ſich mit vielen Ausläufern im Weſten bis auf 100 Meilen. 


374 


In den Sommermonaten bildet dieſer ſchwarze Boden, 
namentlich in den Prairien, die beſten Landſtraßen, die 
man ſich nur denken kann. Es iſt eine Freude, in den 
Monaten Mai und Juui, wenn die Prairie ihr buntes Feſt— 
kleid angelegt, im leichten Wagen über den glatten Boden 
hinzurollen, rechts und links ſanft wogende, von Wal— 
dungen begrenzte Savanen, die mit ſchmucken Pflanzungen 
und hin und wieder mit Gehölzen wie überſäet ſind 

Trotz aller natürlichen Bevorzugung dieſes Landes 
leben die Leute hier ſchlechter als ich es irgend ſonſtwo in 
Amerika gefunden habe. Allerdings giebt es Ausnahmen; 
doch ſind dieſe ſelten. Farmers, die Hunderte von Stücken 
Vieh beſitzen, haben oft kaum Milch genug für ihren Kaffee; 
Obſt und Gemüſegärten find fromme Wünſche; an Wein- 
bau denkt Niemand. Jedermann iſt auf den Anbau von 
Baumwolle bedacht, obgleich auch bei dieſem auf jedem 
Acker etliche 100 Pfund von der Ernte verloren gehen, 
die aus Nachläſſigkeit nicht ausgepflückt werden. 

Vor dem Kriege legten die Pflanzer den größten Theil 
ihres Erwerbs in Negern und Mauleſeln an; ihre Frauen 
und Töchter kauften allenfalls Hundert-Dollars-Seidenroben 
und Fünfhundert⸗Dollars⸗Pianos auf Credit. Die Pflanzer 
borgten was ſie brauchten von den Kaufleuten auf zwölf 
Monate Zahlungszeit und liquidirten in der Regel erſt nach 
vierundzwanzig oder dreißig Monaten. 

Die Folgen des Krieges, namentlich die Emancipation 
der Schwarzen haben jedoch in allen bürgerlichen Verhält— 
niſſen eine gänzliche Umwälzung hervorgebracht. Das Cre— 
ditſyſtem iſt verpönt, und die Pflanzer, die, nachdem die 
alten Schulden abbezahlt ſind, nicht mehr Neger kaufen 
können wie ehedem, und nicht wiſſen, was ſie mit ihrem 
Geldüberſchuß anfangen ſollen, beginnen nach und nach ſich 
das Leben bequem zu machen — to live like white folks 


375 


(leben wie es Weißen geziemt) wie man ſich hier zu Lande 
auszudrücken pflegt.“ 

Das Klima des nördlichen Texas iſt ein eigenthümliches 
und ganz außerordentlich veränderliches. Die Luft erhitzt 
ſich in den Sommermonaten durchſchnittlich bis auf 90 Grad 
Fahrenheit. Im Sommer 1860 ſtieg die Hitze während 
mehrerer Wochen bis auf 110 Grad; in anderen Jahren 
erreicht ſie kaum die mittlere Höhe. Im Winter ſteht der 
Thermometer durchſchnittlich auf 60 Grad, mitunter jedoch 
fällt er bis unter den Gefrierpunkt; der Schnee liegt bis 
zu 6 Zoll tief und Eis bildet ſich 5 bis 6 Zoll dick. 
Dieß ſind aber Ausnahmsfälle. Die Jahre wechſeln faſt 
regelmäßig mit naſſen und trockenen; der Boden verträgt 
aber ſowohl anhaltende Dürre als große Feuchtigkeit in 
ungewöhnlichem Maße, ſo daß die Ernten nicht ſehr dar— 
unter leiden. 

Nicht zu verwechſeln mit den aus dem Norden über 
die großen Prairien aus den untern Luftchichten kommenden 
Schneeniederſchlägen ſind die mit Recht berüchtigten 
„Northers“, Sendboten der oberen eifigen Luftregionen 
unſers Planeten, die auf Texas und das öſtliche Mexiko 
beſchränkt ſind. Sie ſind meiſtens trockene Winde, nur 
ſelten von Regenſchauern begleitet. 


* Durch die Vollendung der Eiſenbahnen, welche das nördliche 
Texas ſowohl mit St. Louis, als mit Galveſton und Shreveport 
in directe Verbindung gebracht haben, entwickeln ſich jetzt jene Ge— 
genden rieſig ſchnell. Eine maſſenhafte Immigration beſiedelt das 
Land und bringt ſeine reichen Hülfsquellen zur vollen Geltung. 
Wer nach einer Abweſenheit von nur zehn Jahren das nördliche 
Texas wieder beſucht, der wird in allen Verhältniſſen dort einen 
Unterſchied finden, als ſähe er ſich aus dem Zeitalter der Diligencen 
von Großvaters Zeit plötzlich in das der Eiſenbahnen und Tele— 
graphen verſetzt. 


376 


Einige Stunden vor dem Erſcheinen eines Norther 
lullt der Südweſtwind, und die Luft iſt ſchwül und 
drückend. Von Norden herauf ſteigt eine finſtere Wolke und 
ſobald dieſe den Zenith erreicht hat, bricht der Norther 
los. Mitunter iſt er anfangs von Regengüſſen begleitet. 
Dieſe ſind aber nur von kurzer Dauer, da der aus den 
oberen Luftſchichten kommende kalt⸗trockene Wind ſchnell 
alle Feuchtigkeit aufſaugt, die er findet. 

Wenn der Norther beginnt, ſtellt ſich bei Menſchen 
und Thieren heftiger Durſt ein, und die Haut, welche ſich 
ſchnell ihrer Feuchtigkeit entledigt, brennt und kitzelt. Der 
Fall der Temperatur iſt tief und außerordentlich plötzlich, 
oft von 75 bis zu 40 und 30 Grad F. innerhalb weniger 
Minuten, und iſt wegen der ihn begleitenden Trockenheit 
für die Haut um ſo empfindlicher. An den Grenzen des 
Territoriums Waſhington habe ich bei mehr als 20 Grad F. 
unter Null nicht halb ſo gefroren als bei manchem Nor— 
ther auf den Prairien von Texas. 

Wehe dem unbeſchützten Wanderer, den ein Norther 
auf offener Prairie überraſcht! Bei dem erſten kalten Luft— 
hauche wird der mit den klimatiſchen Verhältniſſen des 
Landes Vertraute ſeinem Roſſe ſofort die Sporen in die 
Weichen drücken und nach dem nächſtgelegenen Hauſe 
galoppiren. Sich von dort entfernen, ehe der Norther 
vorübergezogen, wäre Tollheit und wird auch Niemandem 
ſo leicht in den Sinn kommen. Alle Bewohner hocken mit 
klappernden Zähnen vor rieſigen Kaminfeuern, indeß draußen 
der Sturm heult. Sobald der Norther ſich empfohlen, 
giebt's vielleicht wieder das herrlichſte Wetter, als ob man 
urplötzlich von Labrador nach Nicaragua verſetzt wäre; Alt 
und Jung wirft Mäntel und Decken beiſeite und begiebt 
ſich luftathmend in's Freie; das Feuer in den Kaminen 
erliſcht und der Winter iſt vergeſſen. 


377 


Wenden wir jetzt unſere Blicke zum linken Stromufer, 
nach der „Nation“. Dort wohnt der Stamm der Choc- 
taws, der vor dem Kriege über 12,000 Köpfe zählte, 
welche jetzt auf weniger als 8000 geſunken ſind. Die 
Choctaws ſind gute Nachbarn der Texaner. Im letzten 
Kriege ſtanden ſie dem Süden ohne Ausnahme zur Seite. 
Sie treiben Ackerbau und Viehzucht und es giebt unter 
den 4 = oder 3 — Weißen in der Nation viele reiche 
Pflanzer, welche vor dem Kriege Hunderte von Negerſclaven 
beſaßen. Von den Pflanzern am gegenüber liegenden Texas— 
Ufer des Red-River werden die Choctaws im Herbſt und 
Winter mit großem Nutzen beim Auspflücken der Baum— 
wolle verwendet, worin ſie die Neger bei weitem an Sau— 
berkeit übertreffen. Den erworbenen Lohn vertrinken ſie 
ſofort in „Feuerwaſſer“, deſſen Einfuhr in die Nation bei 
ſtrenger Strafe unterſagt iſt. Von den Vereinigten Staa— 
ten werden den verſchiedenen Stämmen jährliche Subſidien 
gezahlt; auch ſind Agenten unter ihnen angeſtellt um „den 
großen Vater“, nämlich den Präſidenten in Waſhington, 
würdig zu vertreten. Ihre innern Angelegenheiten leiten 
ſie ſelber durch eigens erwählte Häuptlinge. 

Mit gierigen Augen betrachten die Bewohner der an— 
gränzenden Staaten Arkanſas und Texas die Nation, deren 
Gebiet einen außerordentlich fruchtbaren Boden beſitzt, Me— 
talle, Petroleum und Kohlen enthält und von zahlreichen, 
immer gefüllten Bächen durchzogen wird, welche Fabriken 
eine unerſchöpfliche Waſſerkraft zur Bewegung von Ma— 
ſchinen geben würden. Aber es iſt den Weißen ſtreng 
unterſagt, ſich dort niederzulaſſen, und nur Indianern und 
Miſchlingen und ſolchen die, wenn auch nur ein paar Tropfen, 
indianiſches Blut in ihren Adern haben, oder ſich mit 
Squaws verheirathen, oder auch beſondere Erlaubniß vom 
Häuptling erlangen, iſt der Eintritt geſtattet, und erlaubt, 
Handel und Ackerbau dort zu betreiben. 


378 


Nach dieſer kleinen Abſchweifung, die ich machen mußte 
um den Leſer mit unſerer Umgebung etwas vertraut zu 
machen, wollen wir uns wieder mit dem „George“ auf die 
Reiſe begeben. 

Schon wieder höre ich das ſchabende Geräuſch unter 
uns! Zwei der weißen Matroſen werfen alle Viertel— 
Minuten, jeder an einer Seite des Schiffs, das Loth aus 
und rufen die Tiefe ab, die von 33 bis zu 22 Fuß ſchwankt, 
und ihre ſchwarzen Collegen ſtehen mit langen Stangen 
bereit, um den Bug des Dampfers, ſabald e er eine Sand— 
bank berührt, ſeitwärts zu ſchieben. 

Da ſitzt der „George“ ſchon wieder feſt und macht 
dieſelbe Querſchwenkung wie früher. Trotz eines zweimaligen 
verzweifelten Anlaufs will es ihm nicht gelingen, über die 
Sandbank hinüberzukommen, da das Waſſer auf derſelben 
nur 28 Zoll tief iſt. Man muß alſo zu andern Mitteln 
greifen. Das Kabel wird nach vorne gebracht und an einer 
ſtarken Sycamore am Strand befeſtigt, der Dampf wird 
angeſpannt und zieht das Schiff langſam mit dem Capſtan 
über die Barre. Rechter Hand liegt eine ſtattliche Pflanzung, 
auf der etliche 30 Neger eifrig beim Pflügen beſchäftigt ſind; 
links ſitzt eine Geſellſchaft liederlich gekleideter Choctaws am 
hohen Ufer und blickt mitleidig auf uns herab. Endlich, 
nach Verlauf von anderthalb Stunden und nachdem das 
Kabel zweimal geriſſen, ſind wir glücklich über die Bank und 
reiſen weiter. 

Die nahen Ufer ſind meiſtens öde und wild und mit 
dichten Waldungen bewachſen. Unter den Bäumen ſind die 
Cotton⸗Wood⸗Bäume, eine Pappelart, vorherrſchend. Den 
Namen führen ſie nach ihren der Baumwolle ähnlichen 
Blüthen⸗Capſeln, deren ſchneeweiße Faſerchen im Frühjahr 
in ſolcher Menge vom leiſeſten Winde fortgeführt werden, 
daß die Luft oft ganz lebendig von ihnen zu ſein ſcheint. 


379 


Mitunter erfreuen ftattlihe Pflanzungen das Auge, ſowohl 
am Texasufer als an dem der Nation; weniger in letzterer, 
wo ſie mehr landeinwärts liegen. 

Durchſchnittlich ſitzt der „George“ in jeder Stunde 
einmal feſt und muß alsdann die gewöhnlichen Tanzmanöver 
ausführen, welche jedoch mit der Zeit für den Reiſenden 
ſehr langweilig werden. Mitunter tanzt der Dampfer einen 
förmlichen Walzer im Fluß. Mit dem Bug an eine Sand— 
bank ſtoßend, ſchwingt er den Stern ganz herum, treibt 
eine Strecke ſtromab, und führt, einer geſchickten Steuer— 
bewegung des Lootſen gehorchend, nochmals eine Halbſchwen— 
kung aus, worauf er wieder reglementmäßig weiter fährt. 
Bei ſehr ſcharfen Uferbiegungen und reißender Strömung 
führt der Pilot dieſes Manöver mitunter mit Willen aus, 
und ſchwingt den Dampfer mit graziöſer Schwenkung um 
die Ecke. Fuhr der Dampfer mitunter auf längere Strecken, 
ohne daß Sandbänke und Snags ſeinen Lauf gefährdeten, 
gemüthlich ſtromab, ſo ergaben ſich die Neger ſofort ganz 
ihrer ihnen angeborenen Heiterkeit. Es war eine Freude, 
ihren Capriolen zuzuſchauen, wenn ſie ſich balgten und mit 
den eiſenharten Köpfen wie Ziegenböcke zum Spaß gegen 
einander rannten. Andere ſangen im Chor ihre monotonen 
Geſänge oder ein luſtiges Liedlein, z. B.: „Molly is a 
good girl and a bad girl too!“ — um deſſen originelle 
Melodieen ſie ein Schubert ſchwerlich beneidet hätte. 

Am folgenden Tage kamen wir an eine Sandbank, auf 
der das Waſſer kaum zwei Fuß tief war. Hier nutzten 
ſowohl Springübungen, als Dampfwinde nichts; die 
Baumwolle mußte ausgeladen werden, um das Schiff zu 
erleichtern, ein paar hundert Schritt am Ufer entlang 
gerollt und alsdann wieder eingeladen werden. Zu meiner 
Freude lag am untern Ende der Sandbank ein anderer 
Dampfer „Hoyle“, dem es nach zweitägiger Arbeit gelun- 


380 


gen war, ſich über die Barre hinüberzuarbeiten, und der 
gerade ſeine Baumwolle wieder eingeladen hatte, und im 
Begriff ſtand, weiter ſtromab zu fahren. Da ich keine Luſt 
verſpürte, zwei Tage lang an dieſer Stelle zu verweilen 
und dem Aus- und Einladen der Baunwollenballen zuzu— 
ſehen, ſo ſagte ich dem „George“ Lebewohl, und begab 
mich an Bord des „Hoyle“, um auf ihm meine Reiſe fort— 
zuſetzen. 

Auf dem „Hoyle“ wiederholten ſich die Einzelheiten 
der Fahrt des „George“ in erhöhtem Maßſtabe. Der Fluß 
war fortwährend im Fallen begriffen, ſo daß wir in der 
nächſten Woche kaum 150 Meilen vorwärts kamen, mitunter 
keine 15 Meilen in 24 Stunden. Das Flußbett war ftellen- 
weiſe fo voll von Snags, daß ſich unſer Dampfer nur mit 
großer Mühe und äußerſter Vorſicht zwiſchen denſelben hin— 
durcharbeiten konnte. 

Endlich langten wir an den ſogenannten „White-Oak— 
Shoals“ (Silbereichen-Untiefen) an, auf denen wir zu unſerm 
Schrecken nur 18 Zoll Waſſer fanden. Hier mußte alle 
Baumwolle ausgeladen werden, und alsdann koſtete es der 
Dampfwinde noch einen vollen Tag unausgeſetzter Arbeit, 
um den leeren Dampfer über die an 200 Yards ſich aus— 
dehnenden Untiefen hinüber zu bugſiren. 

Wir waren bis in die Nähe des Städtchens Fulton in 
Arkanſas gelangt. Die Sonne ſenkte ſich hinter die Cotton— 
Wood⸗Wälder am hohen Ufer, welche bereits lange Schatten 
über die bräunlichen Fluthen warfen. Der Tag war 
außerordentlich ſchwül geweſen, und Jedermann freute ſich 
auf die Kühle der Nacht. Plötzlich leuchtete es im Nord— 
weſt über den dunkelnden Wäldern, und ein heller Licht— 
ſtreifen zog ſich ſcharf in derſelben Himmelsgegend über 
dem Horizont hin. Das Schiff unter Schutz an die nächſte 
von Bäumen freie nördliche Uferbank zu legen und mit 


381 


mächtigen Kabeln an entfernter ſtehenden dicken Bäumen 
zu befeſtigen, war die nächſte Sorge unſers Capitäns, indeß 
der Dampfer den Koch zur Eile antrieb, die Oefen in der 
Cajüte mit Kohlen vollzupacken und dieſe ſofort in Brand 
zu ſetzen. 

Kaum waren wir ſo gerüſtet, den Feind zu empfangen, 
als der electriſche Nordſturm, in dieſem Fall ein Ver— 
wandter vom „Norther“, ſchon grimmig über die rau— 
ſchenden Waldwipfel von Arkanſas herüberbrauſ'te, und 
als erſte Begrüßung einen wahren Sündfluthregen, kalt 
wie Eiswaſſer, über das Verdeck ſchüttete. Ich habe früher 
ſchon in den Tropen Regengüſſe erlebt, die ſich ſehen laſſen 
konnten; aber im Vergleich mit dieſem konnte ich jene nur 
als plätſchernde Frühlingsſchauer bezeichnen. Die ganze 
Nacht hindurch leerte Jupiter Pluvius nicht Eimer, ſondern 
Tonnen voll Waſſer über uns arme Menſchenkinder aus, 
ſo daß bald kein trockenes Plätzchen mehr in unſerer 
ſchwimmenden Behauſung zu finden war. Dabei blitzte es 
unabläſſig, als ob der ganze Himmel in Brand ſtände. 
Der Donner rollte und krachte in den nahen Wäldern, 
Schloſſen wie zackige Eisſtücke raſſelten auf's Cajütendeck, 
und der Sturm heulte durch den ächzenden Urwald, als ob 
er ihn mit den Wurzeln aus ſeinen Grundveſten heraus— 
reißen wolle. 

Glücklicherweiſe blieb es beim Regen und Hagel, und 
die Kälte war erträglich; bei dem glühenden Ofen in der 
Cajüte fühlten wir uns ſogar ſehr behaglich. Der Sturm 
(Storm, wie dieſe Naturerſcheinungen hier zu Lande 
kurzweg genannt werden) war augenſcheinlich eine Art 
Zwitterding zwiſchen einem Snowſtorm und einem 
Norther. Ueber die Oſtgrenze der letztern waren wir 
hinaus und für einen regulären Schneeſturm war die 
Jahreszeit zu weit vorgerückt. Ich kam zu der Ueber— 


382 


zeugung, daß es eben gar keine Regeln für das Klima in 
dieſer Gegend giebt. 

Eine traurige Nacht war es, die ich verbrachte! Durch 
das Cajütendeck drang der kalte Regen wie durch ein Sieb 
in meine Coje, und ſammelte ſich zutraulich in kleinen 
Lachen auf meiner Decke, die ich vorſichtshalber über mein 
Bett gelegt hatte. In nichts weniger als liebenswürdiger 
Stimmung verließ ich mein feuchtes Nachtquartier und 
ſetzte mich in der Cajüte in der Nähe des glühend rothen 
Ofens nieder, wo ich zu meinem goldgelben Meerſchaum 
als Sorgentröſter Zuflucht nahm. 

Am folgenden Morgen hatte ſich gottlob die Wuth 
des Wetters gelegt, und die Sonne ſchmückte das ſaftige 
Laub der hohen Cedern und Cotton-Wood-Bäume mit 
Millionen diamantener Tropfen. Strichweiſe ſchwammen 
ſchmutzig-weißer Schaum, halb verwitterte Baumſtämme, 
Aeſte und vegetabiliſche Ueberreſte des Urwalds auf der 
Oberfläche des Stroms; ein untrügliches Zeichen, daß ein 
Hochwaſſer den Fluß anſchwelle, was mit allſeitigem Jubel 
begrüßt wurde, da wir fortan weniger von Sandbänken 
zu befürchten hatten. An vielen Stellen lagen entwurzelte 
Bäume im Fluſſe, die der Sturm vom hohen Ufer herab— 
geſchleudert hatte. An einer Stelle ſperrte eine rieſige 
Lebenseiche, die quer über den Fluß gefallen war, das 
Fahrwaſſer, ſo daß dieſelbe erſt mit Aexten auseinander 
geſchlagen werden mußte, ehe wir weiter fahren konnten. 
Jetzt begriff ich, warum unſer Capitän das Schiff Nachts 
zuvor ſo ſorgſam an eine baumloſe Uferbank gelegt hatte. 
Wie leicht hätte der Sturm ſonſt einen der Baumkoloſſe 
auf unſer Schiff ſchleudern und argen Schaden anrichten 
können. f 
Ohne weitern Aufenthalt durchkreuzten wir die ſüd— 
weſtliche Ecke des Staats Arkanſas, der hier beide Fluß— 


383 


ufer bildet, und befanden uns bereits am folgenden Mor— 
gen an der Grenze des Staats Louiſiana. Das allein 
Sehenswerthe in Arkanſas war eine Familie ſchwarzer 
Bären, die gemüthlich am hohen Ufer umher wandelten. 
Ein paar wohlgezielte Piſtolenkugeln veranlaßten den Papa 
Braun zum ſchleunigen Rückzug in den dichten Wald, 
indeß die Mama ihre beiden Jungen, denen das Schießen 
Spaß zu machen ſchien, in derſelben Richtung die der 
Gemahl genommen, ängſtlich zur Eile antrieb. 

An der Grenze des Staats Louiſiana begrüßten uns 
die Vorläufer des Raft in großen wüſten Baumſtamm— 
feldern, die ſich hie und da dem Ufer entlang gelagert 
hatten, und bald darauf, 150 Meilen unterhalb des 
Städtchens Fulton, liefen wir links in den ſogenannten 
Moores⸗-Canal ein, um das den Red-River ſperrende Raft 
zu umgehen. 

Die Umſchiffung des Raft vermittelſt der bereits an 
einem früheren Ort in dieſer Skizze erwähnten Kette von 
Seen und Bayous war im höchſten Grad intereſſant; der 
Canal durch den wir fuhren jedoch weiter nichts als eine 
künſtliche Verbindung derſelben. Für die Benutzung des 
Canals iſt eine geringe Abgabe von 25 Cents auf jeden 
durchpaſſirenden Ballen Baumwolle und eine ähnliche auf 
Waarengüter gelegt worden. 

Bald befanden wir uns in einem Landſee oder, beſſer 
geſagt, mitten in einem überſchwemmten offenen Walde, 
wo wir mühſam zwiſchen den Bäumen uns durchwanden, 
und bald mit dem Stern bald mit dem Bug des Schiffs 
an Baumſtumpfen anrannten. Als Wegweiſer durch dieſes 
Baum⸗Labyrinth, und um die Waſſerſtraße zu bezeichnen, 
hatte man hie und da etwas loſe Baumwolle zwiſchen die 
Zweige geſteckt oder an den Baumſtämmen befeſtigt. 


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384 


Dann ging es durch krumme Bayous weiter, in denen 
die Strömung außerordentlich ſtark war, ſo daß wir uns 
nur mit äußerſter Vorſicht vorwärts bewegten, um nicht 
bei einer der vielen Biegungen ſeitwärts in den Wald zu 
laufen. Fortwährend fuhr uns ein leichtes Ruderboot 
voran, deſſen Mannſchaft den Bug des Dampfers jeden 
Augenblick mit einem Kabel an einen Baum binden mußte, 
damit das Schiff eine kurze Schwenkung ausführen konnte. 
Büſche und Baumzweige guckten in die Cajüte, drängten 
ſich zwiſchen die Schornſteine und praſſelten über das Ca— 
jütendeck, als ob alles am Dampfer kurz und klein brechen 
müſſe. Dies war jedoch nur der Anfang. Bald ſollte 
es beſſer kommen! 

Nachdem wir bereits mehrfach Seitenblicke auf das 
Raft gehabt, wie wir, zwiſchen den Bäumen hin, den 
Fluß zur Rechten, uns durch dieſe reizende Landſchaft 
bewegten, machte unſer Dampfer plötzlich eine ſcharfe 
Schwenkung nach rechts und durchkreuzte langſam den Red— 
River an einer vom Raft offenen Stelle nach der gegen— 
überliegenden Red-Bayou. Uns zu beiden Seiten lag das 
Raft, ein Chaos wild durcheinander geſchüttelter nackter 
Baumſtämme, hie und da mit großen Bäumen und Büſchen 
bewachſen, eine doppelte Brücke auf dem Red-River bildend. 

Viel hätte ich um eine gute photographiſche Darſtellung 
des Raft gegeben, um dem Leſer ein treues Bild von 
dieſem Naturwunder vorzuführen. Wenn man ſich vor— 
ſtellt, daß ein ganzer durch Millionen von Blitzſtrahlen 
verdorrter und zerſchmetterter Urwald plötzlich vom Himmel 
herabgefallen ſei, gerade in den Red-River, und dort ſtecken 
geblieben, ſo würde das Bild nicht übertrieben ſein. 

Sobald wir die Red-Bayou erreicht, ging's wieder 
munter vorwärts. Die Strömung war ſehr ſtark und die 
Bayou nichts weniger als nach dem Lineal ausgelegt, und 


385 


jo enge, daß der Dampfer zu beiden Seiten faſt die Büſche 
berührte. An dieſen hingen mehr oder weniger weiße 
Baumwollenflocken, welche aus den Cottonballen vorüber— 
fahrender Dampfboote von den Zweigen herausgeriſſen 
worden waren. Ein leichtes Ruderboot fuhr wie früher 
uns fortwährend voran, um dem Dampfer mit einem Tau 
um die Ecken zu helfen. 

Ich begab mich aufs obere Deck und beobachtete die 
intereſſante Fahrt. Oft ging es mit Blitzesſchnelle eine 
lange, ſo zu ſagen mit Waſſer gefüllte, Baum Allee hinab; 
rechts und links krachten, kratzten und klapperten Büſche 
und Zweige zwiſchen den Gallerien, die theilweiſe ganz zer— 
ſchlagen wurden, ſtießen die Fenſter entzwei, zerbrachen 
an den Schornſteinen und raſchelten über das Cajütendeck. 
Auf die größeren Aeſte, welche gelegentlich mit Donnerge— 
polter über das Deck fegten, hatte ich ein ganz beſonderes 
Augenmerk, und mehrfach mußte ich hinter das Pilot— 
haus flüchten, wenn mir ein dicker Aſt zwiſchen die Beine 
fahren wollte. 

An einer Stelle waren die Bäume zu beiden Seiten 
der Bayou abgebrannt und theilweiſe verkohlt. Hier ver— 
brannte im vorigen Sommer der Dampfer „Stare“ mit 
einer Ladung von 500 Ballen Baumwolle. Die Paſſa— 

giere, worunter mehrere Damen, retteten ſich in die Bäume, 

wo ſie ſo lange ſitzen blieben, bis der nächſte vorüber: 
fahrende Dampfer ſie erlöſ'te. Das brennende Wrack trieb 
eine Strecke von faſt zwei Meilen ſtromab, wo es ſank, 
und die Bayou fo verengte, daß die Dampfboote jetzt kaum 
vorbeifahren können. 

Die Nacht überraſchte uns, ehe wir noch aus der Red 
Bayou heraus waren. Da es Tollheit geweſen wäre, in 
einem ſo gefährlichen Waſſer bei Nacht zu fahren, ſo 
legten wir bei und erwarteten das Tageslicht. 


25 


386 


Am nächſten Tage hatten wir eine verbeſſerte Auflage 
der geſtrigen Fahrt, dießmal durch die ſogenannte „Black 
Bayou,“ die gefährlichſte aller dieſer verſchlungenen Waſſer— 
ſtraßen. Freilich war ſie etwas breiter als die Red Bayou, 
dafür aber auch doppelt ſo reißend und hier und dort mit 
Snags gewürzt. Seitwärts rauſchte das Waſſer zwiſchen 
den Büſchen und durch den Wald wie ein Mühlſtrom in 
allen nur möglichen Richtungen; wirbelnde Wellen drehten 
den „Hoyle“ mitunter ganz herum, ſo daß er bald rückwärts, 
bald vorwärts fuhr und an beſonders gefährlichen Stellen 
ſicherheitshalber an Seilen, die an ſtarken Bäumen befeſtigt 
wurden, ſtromabwärts gelaſſen werden mußte. 

An einer Stelle, wo die Bayou ſehr enge war, rannte 
das Schiff, das die Strömung plötzlich von der Seite packte, 
gegen einen ſtarken Eichenaſt, der einen Schornftein in der 
Mitte abbrach, was einen unbeſchreiblichen Wirrwarr ver— 
urſachte. Ich wähnte, der Dampfer ſei auf einen Snag 
gerannt, und wußte, daß er in dieſem Falle binnen wenigen 
Minuten ſinken würde; doch kamen wir mit dem bloßen 
Schrecken davon! 

Endlich hatten wir die Black Bayou hinter uns und 
begrüßten froh den romantiſchen „Clear Lake“ mit ſeinen 
im Frühlingsſchmuck prangenden hellgrünen Waldufern und 
zahlreichen Cypreſſenbäumen, deren maleriſche Gruppen 
ſich in ſeinem klaren Waſſer abſpiegeln. 

Alle das Red River-Raft umkränzenden Seen ſind 
auf dieſe Weiſe mit Bäumen und Büſchen ſo zu ſagen be— 
pflanzt. Die meiſten der letzteren ſind die ſogenannten 
Cypress knees (Cypreſſen-Kniee), deren Laubkronen nur 
eben über den Waſſerſpiegel emporragen. 

Die Weiterfahrt von hier bis nach Shreveport, wo— 
ſelbſt wir am folgenden Morgen glücklich anlangten, bot 
nichts beſonders bemerkenswerthes dar. Die verſchiedenen 


387 


Seen und Bayous fehen fi) alle ſo ziemlich gleich — die 
Seen voll von Bäumen und Cypreſſen-Knieen, die Bayous 
eng und reißend. 

In Shreveport traf ich den Dampfpalaſt „National“, 
gegen den die elenden Hinterrad-Dampfer des obern Red— 
River wie Nußſchalen ausſehen, und auf dem ich ſofort 
einen Platz nach New-Orleans nahm. Nach einer Abweſen— 
heit von faſt einem Monat langte ich wieder in Shreveport 
an, um den Red-River noch einmal ſtromauf zu befahren, 
und zwar nahm ich einen Platz nach Rowland auf dem 
nicht unanſehnlichen Dampfer „Pioneer Era“ und befand 
mich bald auf's Neue in dem Gewirr der Seen und Bayous, 
welche das Raft umkränzen. 

Je weiter wir kamen, um ſo höher ward das Waſſer, 
das fortwährend im Steigen begriffen war und uns eine 
Ueberſchwemmung befürchten ließ. Bald zeigte ſich dieſe im 
ſchrecklichſten Umfange. Der Red-River hatte die Ufer— 
bänke weit und breit überfluthet und brauſ'te mit Gewalt 
durch die Wälder, ein Bild ſchrecklicher Zerſtörung. Alle 
Pflanzungen, ohne Ausnahme, waren überſchwemmt, die 
Baumwollen-Anpflanzungen gänzlich verwüſtet, der Schaden 
unberechenbar. 

Der Strom war gleichſam lebendig von ſchwimmenden 
Bäumen, abgeriſſenen Aeſten, dickem, gelblich weißem 
Schaum und Schmutz aller Art; ertränktes Vieh, Acker— 
baugeräthſchaften, Wagengeſtelle, Betten und Möbel, 
Bretter, alles trieb in unbeſchreiblicher Verwirrung ſtromab. 
Das Vieh hatte ſich auf die höhern Erdſchollen gerettet, 
und ſtand oft ängſtlich brüllend bis an den Leib im 
Waſſer, wo es unfehlbar umkommen mußte, ſobald die 
Glieder ihm erſtarrten. An Rettung desſelben war nicht 
zu denken, da faſt nirgends ein trockener Fleck Bodens 
zu ſehen war. 


25 * 


388 


Die meiften der Häuſer ſtanden im Waſſer, und die 
Bewohner blickten aus ihren Gefängniſſen traurig zu uns 
herüber, als wir langſam vorbeifuhren. Tag und Nacht 
arbeitete der Dampfer, ſchwarze Rauchſäulen emporſtoßend, 
mit Titanenkraft gegen die reißende Strömung an, ohne 
daß der Pilot ſich viel um Snags und Sandbänke beküm— 
mert hätte, von denen bei ſo hohem Waſſer nur wenig 
zu befürchten war. Nur einmal — die Paſſagiere waren 
eben beim Mittagsmahl verſammelt — rannte das Schiff 
ganz unerwartet gegen eine Sandbank. Der Stoß war 
ſo gewaltig, daß die meiſten der Eſſer — worunter auch 
ich — ſich plötzlich unter den Tiſch verſetzt ſahen, indeß 
Schüſſel und Teller, Hammelsſchnitten und Schweins— 
rippen, Salat und Obſt vom Tiſch auf die Stühle 
herabtanzten. 

Die diesjährige Ueberſchwemmung übertraf alle vorher— 
gehenden des Red-River ſeit dem Jahre 1843. Das 
Waſſer war in unglaublich kurzer Zeit 35 Fuß geſtiegen, 
ſo plötzlich, daß ſich Niemand darauf hatte vorbereiten 
können. In der Stadt Jefferſon riß die Fluth ſogar feſte 
Steinhäuſer fort; der daſelbſt angerichtete Schaden belief 
ſich auf 300,000 Dollars. 

An drei Stellen zwiſchen dem Raft und Nowland 
hatte der Red-River ſeine Biegungen verkürzt. An einer 
Stelle, im County von Bowie in Texas, war eine Pflan— 
zung von der Fluth mitten durchgeſchnitten, und wo vor 
wenigen Tagen eine blühende Baumwollenpflanzung ge— 
ſtanden, peitſchte jetzt unſer Dampfer auf 40 Fuß tiefem 
Waſſer in einem über eine halbe Meile breiten Strome 
die blutrothen Wogen des Red-River. Die Verkürzungen 
des Flußbettes in jenen drei Abſchnitten beliefen ſich auf 
dreißig Meilen; oberhalb Rowland hatten ſich noch zwei 
andere bedeutende Durchbrüche gebildet. Durch dieſe 


389 


Verkürzungen des Flußbettes war die Strömung außer— 
ordentlich verſtärkt worden, ſo daß zwei mit ſchwächeren 
Maſchinen ausgerüſtete Dampfer, die wir überholten, nicht 
mehr vorwärts kommen konnten, ſondern an den Bäumen 
befeſtigt lagen, bis die Gewalt der Fluthen etwas nach— 
laſſen würde. 

Da alle Holzlager fortgeſchwemmt und es unmöglich 
war im überflutheten Walde Holz zu ſchlagen, ſo nahmen 
wir Fenzriegel als Feuerungsmaterial, wo wir derſelben 
habhaft werden konnten. Die Neger, welche dieſelben an 
Bord holen mußten, waren genöthigt dabei bis an die 
Hüften durchs Waſſer zu waten, was ihnen unbeſchreibliche 
Freude zu machen ſchien. Sie lachten dabei wie eben nur 
Neger lachen können. Wenn wir, wie mehrere Male 
vorkam, in ſtockfinſterer Nacht uns mit Brennholz verſehen 
mußten, und die Neger, im Waſſer hinter einander her— 
ſchreitend, bei rieſigen im düſtern Urwald hochauflodernden 
Feuern die auf ihre Schultern gehäuften Fenzriegel an 
Bord trugen, ſo gab dies ein überaus romantiſches Bild. 

Doch wir nähern uns dem Ende unſerer Reiſe! Vor 
uns liegen die Baumwollſpeicher des jetzt überſchwemmten 
Rowland, wo wir den tapfern „Pionier“ verlaſſen wollen, 
der luſtig weiter brauſ't, wo möglich noch ein paar hundert 
Meilen weiter, bis nach Preſton hinauf. 


3. Auf dem Caddo⸗See. 


Am mittleren Laufe des Red River und einen Theil 

ſeines Stromgebiets bildend, liegt, wo die Staaten Loui— 
ſiana und Texas aneinander grenzen, eine Reihe von Seen, 
die neueren Urſprungs ſind. Dieſe Landſeen, unter denen 
der Caddo⸗See der bedeutendſte iſt, find vielfach verzweigt 
und durch natürliche Canäle (Bayous) miteinander verbun⸗ 
den; ſie haben zuſammen eine Ausdehnung von etwa fünf— 
zig engliſchen Meilen Länge bei ſieben Meilen durchſchnitts— 
mäßiger Breite. 
Vor dreißig Jahren war der Landſtrich, in dem jene 
Seen gelegen ſind, eine waldreiche Niederung, die von dem 
„großen Cypreſſenfluſſe“ (Big Cypreß), einem Nebenfluſſe 
des Red River, durchſtrömt wurde. Große Baumwollen— 
pflanzungen mit anſehnlichen Gebäuden und reiche Lände— 
reien lagen dort, die jetzt ganz vom Waſſer bedeckt ſind. 
Von den Landſeen exiſtirte nur der De Soto-See, jetzt 
einer der bedeutenderen unter den Zweigſeen des Caddo, 
damals jedoch ein unbedeutendes Gewäſſer, das im Sommer 
beinahe austrocknete. Der Caddo-See führt ſeinen Namen 
nach dem in früheren Zeiten in dieſer Gegend anſäſſigen 
mächtigen Stamme der Caddo-Indianer, nach denen auch 
das an Texas grenzende Caddo-Pariſh im Staate Louiſiana 
benannt worden iſt. Die Caddo-Indianer ſind jetzt ganz 
von dort verſchwunden. 


391 


Der Caddo-See mit ſeinen Verzweigungen hat große 
Waldungen überſchwemmt und theilweiſe zerſtört. Zahl⸗ 
loſe von der Zeit und den Elementen halbzertrümmerte 
Baumffelette, meiſtens den Species von Eichen und Fichten 
angehörend, welche im Waſſer bald ausſterben, ſtehen zer— 
ſtreut inmitten der weiten Waſſerfläche. Viele von dieſen 
ſind angebrannt und halb verkohlt, wie man dergleichen 
Baumreſte auf faſt allen angebauten Ländereien in Amerika 
vorfindet. Dieſe abgeſtorbenen Bäume wurzeln auf ehe— 
maligen Baumwollenfeldern, tief unter der wogenden Fluth. 

Noch zahlreicher als die Ueberreſte der Eichen und Fichten 
ſind die im Waſſer ſtehenden Cypreſſenbäume, die nur theil— 
weiſe abgeſtorben ſind und von denen ſich viele im Som— 
mer mit grünen Laubkronen ſchmücken. Dieſe Bäume haben 
die Geſtalt von rieſigen Keulen und erheben ſich bis zur 
Höhe von etlichen 20 Fuß über die Waſſerfläche. Die 
breit aus dem Waſſer emporſchießenden und wie abge— 
ſchnitzelt nach oben ſpitz zulaufenden Stämme, die einen 
Zbweigbüſchel als Krone tragen, ſehen recht ſeltſam aus. 
Außer jenen Bäumen und Baumreſten ſtehen unzählige 
ſogenannte Cypreſſenkniee (eypress knees) im Waſſer, 
eine verkrüppelte Art von Cypreſſen, die ſich, wie ihr 
Name andeutet, knieartig nur wenig über die Oberfläche 
des Waſſers erheben. Dieſelben wachſen im Waſſer und 
ſproſſen aus Wurzeln, nicht aus Samen empor, und ſind 
im Sommer belaubt. 

Die Urſache des Entſtehens vom Caddo-See und 
ſeinen Verzweigungen iſt das dem Leſer aus meiner Schil— 
derung des Red River bereits bekannte Red River-Raft. 
Das durch daſſelbe aufgeſtaute Waſſer mußte ſich neue 
Abzugscanäle ſuchen. So entſtanden ſeitwärts von dem 
alten Flußbette des Red River zahlreiche Bayous; am 
Big Cypreß wurden die Niederungen durch die Rück⸗ 


392 


ſtrömungen des aufgeſtauten Waſſers weithin überſchwemmt, 
und es bildeten ſich dort permanente Landſeen. Die im 
Waſſer ſtehenden Eichen und Fichten ſtarben bald ab, während 
das Wachsthum der Cypreſſen wenig oder gar nicht gehin— 
dert wurde. 

In der Configuration des Landes fand durch das Ent— 
ſtehen jener Landſeen eine vollſtändige Veränderung ſtatt; 
neue natürliche Verkehrswege waren geſchaffen worden, 
und wurden bald vom Handel und von der Schifffahrt 
aufgeſucht, trotzdem die überflutheten Waldungen, durch 
welche die neuen Waſſerſtraßen führten, einem freien Ver— 
kehr große Schwierigkeiten boten. Am oberen Ende der 
Seen entſtand am Big Cypreß die ſchnell emporblühende 
Stadt Jefferſon, bald das Handelsemporium des producten— 
reichen nordöſtlichen Texas. Flotten von Dampfſchiffen 
durchkreuzen jetzt dieſe Seen und natürlichen Canäle, 
bringen Waarengüter von New-Orleans nach Jefferſon, 
und führen die Landesproducte des nordöſtlichen Texas, 
darunter einen jährlichen Bodenertrag von mehr als hun— 
derttauſend Ballen Baumwolle, auf die Weltmärkte. Wo 
vor einem kurzen Menſchenalter ein winziges Flüßchen 
durch eine waldige Niederung floß, in der reiche Plan— 
tagen zerſtreut lagen, brauſen jetzt ſchwerbeladene Dampf— 
ſchiffe über weite Waſſerflächen, und ſuchen mühevoll ihren 
Weg zwiſchen abgeſtorbenen Baumſtämmen und einem 
wahren Gewirr von Waſſercypreſſen und Cypreſſenknieen. 
Bei niedrigem Waſſerſtand iſt die Schifffahrt auf den 
Seen aber mitunter ganz unterbrochen, oder ſie beſchränkt 
ſich doch auf ſehr kleine Dampfſchiffe. 

Im Monat April 1870 fuhr ich über den Caddo-See 
auf einem Dampfer von Shreveport nach Jefferſon. Zum 
Erſtaunen war die Geſchicklichkeit, womit unſer Pilot den 
Weg durch das Gewirr von abgeſtorbenen Bäumen, Waſſer⸗ 


393 


cypreſſen und Cypreſſenknieen fand, wo ich auch nicht das 
geringſte Merkzeichen einer Waſſerſtraße gewahr werden 
konnte. Trotz aller Umſicht deſſelben rannte unſer Schiff 
mehreremal auf einen unter dem Waſſer verborgenen 
Baumſtumpf. Dann wurde ein mächtiges Kabeltau an 
einer paſſend daſtehenden ſtarken Cypreſſe befeſtigt, und 
das Dampfſchiff Zoll bei Zoll mit der Dampfwinde wieder 
in tieferes Fahrwaſſer gezogen, um vielleicht in den nächſten 
Minuten auf einen andern Baumſtumpf aufzulaufen, wo 
daſſelbe Kunſtſtück wiederholt werden mußte. Ein Ruder— 
boot war in ſteter Bewegung, um ſtarke Taue bald nach 
rechts bald nach links hin vom Dampfer nach einer Cypreſſe 
zu tragen und dort zu befeſtigen, damit unſer Schiff mit 
deſſen Hilfe die fortwährenden kurzen Schwenkungen und 
Biegungen zwiſchen den Bäumen und Knieen ausführen 
konnte. Stellenweiſe hatte das Fahrwaſſer nur eine Tiefe 
von 28 Zoll, und unſer Dampfer mußte vermittelſt der 
Dampfwinde an gewaltigen Kabeln buchſtäblich über die 
Untiefen geſchleift werden. 

Oft ſitzen die flachgebauten Dampfer, welche dieſe 
Seen befahren, ſtunden-, ja halbtagelang auf einem Baum— 
ſtumpf feſt, und es zerſpringen bei der Arbeit, wieder flott 
zu werden, die rieſigen zweiundeinhalb bis drei Zoll ſtarken 
Kabeltaue von der gewaltigen Kraft der an ihnen ziehenden 
Dampfwinde, während das Schiff knarrt und knackt, als 
ob alles daran kurz und klein brechen müßte. Wenn auf 
einem mit Baumwolle beladenen Dampfer auf dem Caddo— 
See Feuer ausbricht, was faſt in jedem Jahre einem oder 
dem anderen Schiffe paffirt, fo gehen in der Regel viele 
Menſchenleben dabei verloren; die nächſten Ufer ſind oft 
meilenweit entfernt und die einzige Möglichkeit der Rettung 
iſt die, daß die Mannſchaft und die Paſſagiere des dem 
Untergange geweihten Schiffes ſich an einem Baumſtumpf 


394 


im Waſſer anklammern oder auf einen Baum im See 
klettern, bis Hilfe kommt. Wir paffirten auf unſerer 
Fahrt mehrere ſolcher Wracks, die Schreckensmonumente 
der Schifffahrt auf dem Caddo-See. Bei Hochwaſſer, das 
mitunter bis zu zweiundzwanzig Fuß ſteigt, iſt die Schiff— 
fahrt in dieſen Seen weniger gefährlich. Die Dampfer 
nehmen alsdann einen graden Cours quer zwiſchen den 
Baumwipfeln hin, ohne ſich der Gefahr des Auflaufens 
auszuſetzen. 

Die Bayous, welche die verſchiedenen Seen mit ein— 
ander verbinden und eigentlich nichts weiter ſind als das 
urſprüngliche Bett des Big Cypreß, haben meiſtens einen 
ſehr gewundenen Lauf. Wilde Sumpfwaldungen, in denen 
die mit langem zottigen Moos behängten knorrigen Eichen 
und hin und wieder die hohen glatten weißſtämmigen 
Sycamoren das Auge beſonders anziehen, liegen an den 
Ufern und an den vielen Verzweigungen des trüben Ge— 
wäſſers, der Heimath zahlreicher Alligatoren, eine urwüſte 
Gegend, deren panoramenartig vorbeiziehendes Bild, vom 
hohen Bord eines Hinterrad-Dampfers betrachtet, auf der 
abenteuerlichen Fahrt durch die Bayous und über die 
Seen, durch die halbzerſtörten Waldungen und gleichſam 
mit Cypreſſen bepflanzten weiten Fluthen für den Reiſenden 
einen eigenthümlichen Reiz der Neuheit hat. 


4. Eine Eiſenbahnfahrt in Texas. 


Die Eiſenbahn, welche die Städte Shreveport in Louiſiana 
und Marſhall in Texas verbindet, die ſogenannte „Southern 
Pacific Railroad“, war in früheren Jahren die ſchlech— 
teſte in der Welt! Daß dieſer etwas gewagt klingende 
Ausſpruch der Wahrheit ziemlich nahe kommt, wird dem 
Leſer aus der hier folgenden Schilderung einer Reiſe, welche 
ich im Jahre 1867 auf jener Texasmuſterbahn zurücklegte, 
gewiß einleuchten. Um jedoch einem Lande, in welchem 
ich jahrelang ein gaſtliches Aſyl gefunden, nicht vor der 
Welt einen noch ſchlechteren Namen zu machen, als es 
leider, und nicht ganz mit Unrecht ſchon beſitzt, will ich 
gleich hinzufügen, daß jene Eiſenbahn in jüngerer Zeit, 
wenn auch nicht ſo gut, als die zwiſchen Köln und Minden, 
doch als ein Glied der neuen Texas-Pacifiebahn ſo gut als 
die meiſten amerikaniſchen Eiſenbahnen iſt. 

Es war an einem froſtigen Märztage, als ich nach 
einer Reiſe von hundert engliſchen Meilen, die ich in einer 
Privatfuhr in ſieben Tagen unter zahlloſen Schwierigkeiten 
zurückgelegt, endlich das freundliche Städtchen Marſhall 
im nördlichen Texas mit Freuden vor mir ſah, weil ich 
daſelbſt das Ende der Mühſeligkeiten meiner Reiſe erreicht 
zu haben glaubte, da ich von dort aus auf der Eiſenbahn 
nach Shreveport im Staate Louiſiana weiter zu fahren 
gedachte. Die Berichte von der unglaublichen Langſamkeit 
jener Bahn, welche ich oft gehört hatte, hielt ich für über- 


396 


trieben und hoffte, die kurze Strecke von nur vierzig engl. 
(circa neun deutſchen) Meilen in höchſtens einem halben 
Tage zurückzulegen. 

Gegen ſechs Uhr langten wir am nächſten Morgen 
an der Stelle an, „wo der Bahnhof ſtehen ſollte“ und 
verfügten uns in den Waggon — dieſe Eiſenbahn beſaß 
nur einen Waggon; die andern Wagen waren meiſtens 
offene, in unſerm Falle mit Baumwollenballen beladene 
Packwagen. Zum Glück hatten wir einen kleinen eiſernen 
Ofen im Waggon, der mit Kienholz vollgepfropft und roth— 
glühend war. Da der Waggon, der nach amerikaniſchem 
Stil aus einem zwiſchen den Sitzplätzen mit einem langen 
Mittelgange verſehenen offenen Raum beſtand, von Rei— 
ſenden beiderlei Geſchlechts, Kindern und Negern gedrängt 
voll war, ſo war es, die von der Menſchenmenge ver— 
peſtete Atmoſphäre abgerechnet, welche von der auf dem 
rauchenden Ofen fortwährend verdunſtenden Tabacksjauche 
parfümirt war, darin recht behaglich. 

Endlich, — nachdem wir faſt eine Stunde nach feſt— 
geſetzter Abgangszeit im Waggon auf die Abfahrtszeit ge— 
wartet, meldete ſich die Locomotive „Ben Johnſon“ mit 
kuhhornartigem Geheul und ſpannte ſich vor den Zug, der 
Locomotivführer und Heizer goſſen in einer nahen Schenke 
noch einen Schluck Whisky hinter die Binde und zündeten 
ihre kurzen Thonpfeifen an, und mit Bedacht ging's 
vorwärts. 

Die erſte halbe Stunde, in der wir faſt eine deutſche 
Meile zurücklegten, verlief ohne beſonderen Zwiſchenfall. 
Ich dachte ſchon, daß alle die ſchrecklichen Gerüchte über 
dieſe Eiſenbahn elende Verläumdungen ſeien — als der 
Zug plötzlich zum Stillſtand kam. Der „Ben Johnſon“ 
hätte kein Brennholz mehr, hieß es, und ein Krahn ſei 
verſtopft. In anderthalb Stunden lief der Krahn wieder, 


397 


und ein halbes Klafter Holz war an Bord genommen. 
Die Zugführer hatten ſich die Zeit in einer nahen Schenke 
beim Kartenſpiel mit einer Partie „Seven up““ vertrieben 
und die Neger, welche angewieſen waren, Handlangerdienſte 
zu leiſten und den Schaden auszubeſſern, ſich dabei offen— 
bar nicht übereilt. 

Heulend machte ſich die Locomotive mit dem Bahn— 
zug wieder auf den Weg. Der Waggon ſchaukelte weiter 
auf dem unebenen Geleiſe wie ein Schiff auf ſtürmiſcher 
See, ſchon nach einer halben Stunde ward wieder ange— 
halten. Das Waſſer im Keſſel ſei erſchöpft, hieß es. Die 
Locomotive verließ uns in einem Sumpfe, der an dieſem 
winterlichen Tage doppelt traurig ausſah, und fuhr nach 
dem nächſten drei engliſche Meilen entfernten Waſſer— 
reſervoir, um ſich mit dem unentbehrlichen feuchten Elemente 
zu verſorgen, und kam erſt nach zwei Stunden zurück. 

Während deſſen war ein echter texaniſcher Schnee— 
ſturm ausgebrochen — Regen, Hagel, Glatteis und alle 
möglichen Sorten gefrorenen und halbgeſchmolzenen Schnees, 
Donner, Blitz und eiſig kalte Stoßwinde, — alles durch— 
einander . .. ein ſcheußliches Wetter. Im Waggon gingen 
Whiskyflaſchen die Runde, die Neger waren kaum mit Ge— 
walt vom Ofen fort und an die Arbeit zu bringen. 

Endlich war der „Ben Johnſon“ wieder da und marſch— 
fertig. Der Bahnzug fing eben an, recht munter über die 
Schienen hinzuholpern, ſo daß ſeine Inſaſſen ob der 
ſchnelleren Locomotion in freudige Aufregung geriethen, — 
als plötzlich ein ominöſes Gekrach unter uns ertönte und 
der Waggon, der nach einigen Sätzen energiſch zum Halt 
kam, Paſſagiere, Koffer und Mantelſäcke durcheinander warf, 
ein Paar ſchlummernde Afrikaner auf den heißen Ofen 
ſchleuderte und ein recht komiſches Durcheinander verur— 
ſachte. Gottlob ward Niemand beſchädigt, und wir kamen 


398 


mit dem Schrecken davon. Nach dreiſtündiger Arbeit im 
Schneegeſtöber, wobei ſämmtliche Paſſagiere thätig waren, 
gelang es uns, den Waggon wieder auf die Schienen zu 
bringen, und der unermüdliche „Ben Johnſon“ trabte lang— 
ſam weiter. | 

Es ward Nachmittag. Die Paſſagiere, durch Whisky— 
zechen erregt, ließen es an derben, anzüglichen Bemerkungen 
auf den Conducteur und ſämmtliche Beamten der berühmten 
„Southern Pacific Railroad“ nicht fehlen, — als der 
Zug im Wald bei einem Blockhauſe unter dem allgemeinen 
Zuruf der Paſſagiere: „Whoa! — here we are at the 
grocery!““ — (Brrr! — hier iſt die Kneipe! —) wieder 
zum Stillſtand kam. 

An der Wegſeite hielt eine Ochſenfuhr, welche Baum— 
wolle, die urſprünglich zum Transport mit der Eiſen— 
bahn beſtimmt war, und ſeit zwei Monaten vergeblich 
darauf gewartet, in Marſhall geladen hatte, — deren 
Treiber dem Conducteur das freundliche Anerbieten ſtellte, ſeine 
Stiere vor den Zug zu ſpannen, auf daß er ſchneller nach 
Shreveport käme. Sofort zog der Conducteur den Rock 
ab, und forderte den Ochſentreiber wegen Beleidigung zum 
Zweikampf heraus. Dieſer, ein echter Texaner Hinter— 


wäldler, der für den Hochgenuß einer gemüthlichen Schlä⸗ 


gerei zu jeder Zeit ein Paar Meilen weit gegangen wäre, 
nahm die Herausforderung mit Freuden an. Sämmtliche 
Paſſagiere ſtürzten aus dem Waggon, ohne ſich um das 
Unwetter zu kümmern und bildeten einen Ring, in dem 
der Conducteur und der Ochſentreiber bald handgemein 
wurden. 

Mit gezogenen Revolvern ſtanden die Zuſchauer des 


heroiſchen Kampfſpiels im Kreiſe da, jeder von ihnen 
ſchwörend, er werde den erſten niederſchießen, der einem 


der Kämpfer helfe, indeß der Conducteur und Ochſentreiber 


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wie ein Paar fechtende Hunde über einander in dem ſum— 
pfigen von halbgeſchmolzenem Schnee bedeckten Boden hin— 
rollten. Bald war der eine von ihnen unten, bald der 
andere, und Fäuſte, Stiefel und Zähne thaten ihr Mög— 
lichſtes, den Gegner zu beſiegen, während die Zuſchauer, 
die meiſtens für den Ochſentreiber Partei genommen, von 
aufmunternden Zurufen und thieriſchem Gejauchze den 
Wald wiederhallen ließen. Dem Ochſentreiber gelang es 
zuletzt, ſeinen Gegner mit den Zähnen an der Naſe zu 
faſſen und ihm nach texaniſcher Sitte mit dem Daumen 
ein Auge halb auszudrücken (mit dem techniſchen Namen 
„gauging‘‘ benannt), worauf der Conducteur ſchrie, er 
habe genug. 

Das Kampfſpiel hatte jetzt ein Ende, die Piſtolen 
wurden von den Zuſchauern in den Rockſchooß geſteckt, und 
der Sieger forderte mit indianiſchem Schlachtgeheul jeden 
zum Zweikampf heraus, der ein Freund des Conducteurs 
und der Eiſenbahn ſei. Als Niemand ſich bewogen fühlte, 
die Herausforderung anzunehmen, verfügten ſich ſämmtliche 
Paſſagiere, in freudiger Stimmung über das amüſante 
Intermezzo, wieder in den Waggon; der „Ben Johnſon“ 
ſpannte ſich auf's Neue vor den Zug, und langſam ging 
es vorwärts. 

Bis vor Abend legten wir auf oben beſchriebene 
Weiſe etwa fünf deutſche Meilen zurück — da wollte die 
Locomotive, der ſowohl Waſſer als Holz ausgegangen war, 
nicht mehr ziehen, und der Conducteur, der ſich aus Wuth 
über ſeine Niederlage tüchtig betrunken hatte, bedeutete den 
Paſſagieren, daß er vor dem nächſten Morgen nicht weiter 
zu fahren gedächte. 

Die eingeborenen Texaner, kräftige, verwogen aus— 
ſehende Geſellen, die des Bivouakirens gewohnt waren, 
hatten bald ein rieſiges Wachtfeuer angezündet, um welches 


400 


fie ſich in maleriſchen Gruppen lagerten. Lichterloh ſchluger 
die Flammen, vom Sturmwind angefacht, hinauf bis unten 
die mit langem zottigem Moos behängten entlaubten Aeft 
der knorrigen Waldesrieſen und malten phantaſtiſche Ge: 
bilde im halb erleuchteten Urwaldsdunkel, indeß die Schnee: 
flocken ziſchend in die Gluth fielen. Trotz aller Romanti! 
zog ich mich aber bald in den Waggon zurück, da mir das 
Lager auf feuchtem Raſen und bei dem grimmigen Nord— 
wind wenig behagte. 

Eine traurige Nacht war es, die ich verbrachte. Mich 
in mein Minimum zuſammenkrümmend machte ich wieder⸗ 
holt vergebliche Verſuche, auf einem der Sitze einzuſchlum— 
mern. Ein Afrikaner, der hinter mir Platz genommen 
und ſonore Baßlieder modulirte, ſtreckte ſeine Beine über 
die Sitzlehne dicht mir unter die Naſe, ein anderer, der vor 
mir auf dem Boden ſchnarchte, legte gelegentlich ſein duftiges 
Wollenhaupt zutraulich mir in den Schooß, betrunkene 
Irländer ſangen herzzerbrechende Lieder, der Ofen war bald 
rothglühend, bald eiſigkalt und rauchte wie ein Schornſtein, 
der Blutumlauf ſtockte in meinen zuſammengepreßten 
Gliedern — kurzum, ich mußte auf den Schlaf verzichten. 

Endlich brach der neue Tag an — bleifarben, norther⸗ 
heulend, kaffeelos. Um ſieben Uhr ſollte der Verſuch ge— 
macht werden, weiter zu fahren. Eine neue Locomotive 
ſei in der Nähe, hieß es, der „Jay bird!“ — die Elſter 
— und werde ſchieben, während der „Ben Johnſon“ zöge. 
Beide Locomotiven waren aber feſtgefroren. Ein Verſuch, 
die Eiſenroſſe zum nächſten Waſſerreſervoir zu ſchieben, 
mißlang. Wir Paſſagiere kochten an den Bivouakfeuern 
Waſſer in Zinnkeſſeln und trugen es ſechzig Schritt weit 
zu den Locomotiven, welche wir damit losthauten, indeß die 
Negerarbeiter ſich ſchneeballten und weder durch Drohungen 
noch Zureden zu veranlaſſen waren, uns zu helfen. 


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Um zwei Uhr Nachmittags waren der „Ben Johnſon“ 
und die „Elſter“ marſchfertig, und unter dreimaligem Hurrah 
der Paſſagiere ſetzte ſich der Zug in Bewegung. Nach vier⸗ 
maligem Zulauf erreichten wir eine Höhe. Munter ging es 
auf der anderen Seite eine geneigte Ebene wieder hinab 
und dann durch einen Durchſchnitt, der ſo enge war, daß 
die Wagen zu beiden Seiten die Böſchungswände faſt be— 
rührten. Hier kam der Zug aus dem Geleiſe und brach 
in der Mitte zuſammen, — anderthalb Meilen von der 
Stelle, wo wir übernachtet. Der Paſſagierwagen mit der 
„Elſter“ war hinten, der „Ben Johnſon“ mit den Pack— 
wagen vorne, und eine faſt bodenloſe, vom Regen erweichte 
Lehmmaſſe, die einem beim Hineintreten in die Stiefelſchäfte 
lief, füllte den Hohlweg. 

Den Paſſagieren ward jetzt von dem Conducteur der 
Vorſchlag gemacht, auf den offenen Baumwollenwagen die 
übrigen 13 engl. Meilen nach Shreveport zu fahren, — 
eine nicht ſehr einladende Ausſicht Doch eine zweite Nacht 
im Waggon oder Bivouak zu verbringen, ſtand außer aller 
Frage. Wir ſchleppten alſo unſer Gepäck vom Paſſagier— 
wagen durch den fußtiefen Schmutz und halbgeſchmolzenen 
Schnee nach den Baumwollenpackwagen. 

Bis vor Abend war der Umzug bewerkſtelligt, und 
nachdem wir vor Kälte zitternd noch ein Stündchen auf 
die Rückkehr des „Ben Johnſon“ gewartet, der auf Re— 
cognoscirung vorangefahren war, ging es, als die Nacht 
hereinbrach, wieder vorwärts. Mit verſtärkter Wuth pfiff 
der Wind uns um die Ohren, und Hagel, Schnee und Regen 
raſſelten auf uns herab, wie wir, dicht zuſammengedrängt, 
hoch oben auf den Baumwollenballen kauernd, unſerm er— 
ſehnten Ziele entgegenjagten. Die Wagen ſchwankten und 
holperten in kurzen Sätzen oft dermaßen auf dem un— 
ebenen Geleiſe, daß Geſchicklichkeit dazu gehörte, nicht 


26 


402 


von den hochgethürmten Baumwollenballen hinunter 
zufallen. 

Um neun Uhr in der Nacht langten wir in Shreve 
port an, wo ein Bahnhof zu den unbekannten Größer 
zählt. Auf offener Straße mußten wir abſteigen, hal! 
verfroren und hungrig wie Hyänen, da wir auf vierzig) 
ſtündiger Reiſe nur von Käſe und Brotkrumen, der 
Reſten unſeres Frühmahls in Marſhall gelebt. Vierzi⸗ 
engliſche Meilen hatten wir in gerade vierzig Stunder 
zurückgelegt. Froh war ich, als ich in dem warmer 
Kajütenſalon des ſtolzen Red-River-Dampfers „Alabama“ 
an fürſtlich beſetzter Tafel Seele und Leib reſtauriren 
konnte, und gelobte es mir feierlich, daß dieſe Eifenbahn: 
fahrt auf der „Southern Pacific Railroad“ meine erft! 
und letzte auf jener Texasmuſterbahn ſein ſollte. 


5. Mein Freund Pompejus. 


Mehrere Jahre, mit die angenehmſten meines Lebens, 
habe ich vor dem Ausbruche des amerikaniſchen Bürger— 
krieges in Texas verbracht. Während des Krieges durchzog 
ich als Neutraler mancher Herren Länder und kehrte im 
Jahre 1866 nach einer kleinen Zehntauſend Meilen-Reiſe 
in meine frühere ſüdliche Heimath zurück, um Geſchäfts— 
außenſtände von meinen alten Freunden, den rechtſchaffenen 
Pflanzern, einzutreiben. Daß die rechtſchaffenen Pflanzer 
in Texas mich eher auf irgend einen amerikaniſchen Blocks— 
berg, als in mein altes Revier zurückwünſchten, iſt unter 
den Umſtänden ſehr erklärlich, und daß ich in einem Lande, 
wo es noch vor Kurzem nichts Seltenes war, daß Räuber 
bei hellem, lichtem Tage in die Wohnungen drangen und 
den Bewohnern die Füße auf glühende Kohlen legten, um 
Geldcontributionen zu erpreſſen; wo die Deutſchen wie 
wilde Thiere zu Tode gehetzt wurden; wo man Unioniſten 
zum Vergnügen aufhängte und alle Landſtraßen von Mör— 
dern, Spitzbuben und Geſindel aller Art wimmelten — daß 
ich in einem ſolchen Lande als plötzlich gleichſam von den 
Todten erſtandener Gläubiger faſt des halben County's 
nicht eben auf Roſen ruhte, iſt ebenfalls ſehr erklärlich, da, 
wie bekannt, bei Geldſachen ſogar in friedlichen Ländern 
die Gemüthlichkeit aufhört. 

Indeß hatten ſich dazumal die Gemüther im Süden 
Gott Lob fo ziemlich beruhigt und ich muß es dankbar an- 


26 * 


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erkennen, daß man mich dort nicht nur nicht mehr als paſ— 
ſende Eichenaſt-Fahne betrachtete, ſondern, im Gegentheil, 
ſogar in Geldangelegenheiten, äußerſt zuvorkommend und 
freundſchaftlich behandelte. Jede Regel hat aber ihre Aus— 
nahmen. Eines ſchönen Tages — es war am 22. Februar, 
dem Geburtstage Waſhington's — befand ich mich in mei— 
nemHauptquartier, einem Advocaten-Bureau, in dem mich 
meine alten Freunde, die Pflanzer, gelegentlich mit Zwanzig— 
dollar⸗Goldſtücken und Rollen von „Greenbacks“ erheiterten 
und ſtand, meinen Meerſchaum rauchend, gemüthlich am 
luſtig brennenden Kaminfeuer, indeß ich mit zwei anweſenden 
Rechtsgelehrten einen Baumwollen-Caſus kritiſch beleuchtete, 
wobei es ſich darum handelte, ob meine Wenigkeit oder die 
unter Oncle Sam's Namen den Süden ausplündernden 
Baumwollen-Diebe das nächſte Anrecht auf ein Dutzend 
Ballen Baumwolle hätten, als ein halbangetrunkener Te— 
raner in die Stube hereinwankte und in einem Lehnſtuhl 
mir dicht gegenüber Platz nahm. 

Unſer Beſucher war ſeit den letzten Jahren der Schrecken 
der Stadt geweſen. Alle zwei, drei Tage kam er in den 
Ort nnd ſchoß beliebig mit feinen zwei geladenen Revolvern 
— die er beſtändig ſchußfertig im Gürtel trug — in den 
Straßen herum, wobei verſchiedene Male nur wie durch 
ein Wunder ſowohl Herren als Damen ſeinen planlos 
umherfliegenden Kugeln entgingen. In mehreren Privat— 
gefechten hatte er ſeine Widerſacher mit Meſſerſtichen ge— 
fährlich verwundet und einen derſelben erſchoſſen, ging aber 
deſſenungeachtet und obgleich vor dem Geſetze als Mörder 
denuncirt, frei in der Stadt umher, da ſich Niemand getraute, 
ihn zu arretiren. 

Er war auf unſer Bureau gekommen, um ſich bei dem 
einen der daſelbſt wohnenden Advocaten, den er aus Verſehen 
Tags zuvor auf der Straße faſt erſchoſſen hatte, für ſeinen 


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Scherz zu entſchuldigen. Mit mir hatte er nie Streit gehabt. 
Seine Frau Mutter, die eine anſehnliche Pflanzung in der 
Nähe unſerer Stadt beſaß, war in früheren Jahren einer 
meiner beſten Kunden geweſen, ſo daß ich mit der Familie 
unſeres Beſuchers auf freundſchaftlichem Fuße ſtand, obgleich 
ich dieſem Sprößlinge derſelben von jeher am liebſten mög— 
lichſt weit aus dem Wege ging, weil ich an ſeinen Piſtolen— 
übungen wenig Gefallen fand. 

Ich begrüßte ihn freundſchaftlich: „Wie geht's, Pomp?“ 
(Pompejus hieß der Ritter). Wie der Blitz riß er einen 
geladenen Revolver aus dem Gürtel und hielt ihn mir, 
nur zwei Fuß entfernt, vor's Geſicht, indem er den Hahn 
halb ſpannte und rief: „Rede nicht zu mir, Du verdammter 
Deutſcher; ich ſchieße Dir den Schädel vom Kopf herunter!“ 

Ich geſtehe es, mich überlief es eiskalt, als ich ſo 
hülflos vor dieſem Tiger in Menſchengeſtalt ſtand und 
ihm in's unheimlich blitzende Auge ſchaute. Bei einer wilden 
Beſtie im Käfig wäre mir wohler geweſen. Daß er nicht 
im Scherz zu mir redete, ſondern bittern Ernſt meinte, war 
unverkennbar. Was gilt auch das Leben eines Dutchman, 
wie man verächtlicher Weiſe unſere Landsleute an dieſer 
Seite des Oceans öfters titulirt, einem ſolchen edelgeborenen 
Amerikaner, der ſich himmelhoch über jenen erhaben dünkt! 
Er würde nicht mehr Gewiſſensbiſſe darüber empfinden, eine 
ſo tief unter ihm ſtehende Creatur, einen Deutſchen, nieder— 
zuſchießen, als ob er ein Licht ausgeblaſen hätte. 

Ich blickte meinem Dämon möglichſt kaltblütig in's 
Auge, was, wie mir inftinetmäßig bewußt war, meine einzige 
Hoffnung auf Rettung aus meiner peinlichen Lage blieb, da 
er mir bei der geringſten Bewegung ohne Frage eine Kugel 
durch den Kopf gejagt hätte. 

„Ich will Dich, glaube ich, doch todtſchießen“, fuhr 
er, abgebrochen zwiſchen den Zähnen murmelnd, fort und 


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ſpannte den Hahn vollends — Klick! Unbeweglich ſtand 
ich drittehalb Fuß vor der Mündung der Piſtole, während 
es mir vorkam, als packte mich eine kalte Hand im Genick. 
Dann ſagte ich bittend, doch beſtimmt: „Laß das dumme 
Zeug, Pompejus, ſchieße nicht auf mich.“ 

Nachdem er, vorgebeugt im Lehnſtuhl vor mir ſitzend, 
den Finger am Drücker und die Mündung der Piſtole gegen 
meinen Kopf haltend, mich faſt zwei Minuten lang in dieſer 
Stellung ſtier angeblickt, beſann er ſich eines Beſſern und 
ſteckte den Revolver langſam wieder in den Ledergurt, 
worauf ich mich entfernte. 

Meine beiden Freunde, die Advocaten, welche rechts 
und links etwas entfernt von mir an ihren Schreibtiſcher 
ſaßen und mir nicht helfen konnten, bemerkten ſpäterhin, 
daß ſie mein Leben nicht fünf Cents werth erachtet hätten 
und ihnen vor Entſetzen bei der jetzt geſchilderten Scene 
der Athem ſtill geſtanden. Daß mein Freund Pompejus 
für dieſen „Spaß“ nicht beſtraft wurde, verſteht ſich von 
ſelbſt. 


6. Gerichtsſeene in Texas. 


| Einer Gerichtsſitzung in Texas beizuwohnen, ift ein 
Capital⸗Vergnügen, das ich, wenn ſich mir eine Gelegenheit 
während meines Aufenthaltes in jenem Lande darbot, ſelten 
verſäumt habe. Außer dem Genuſſe, den oft mit glänzender 
| Beredſamkeit von den Advocaten geführten Reden zuzuhören, 
bietet das ganze Enſemble des Gerichtsſaals ein Bild, deſſen 
getreue Wiedergabe einem Hogarth Stoff zu unſterblichen 
Meiſterwerken geben würde. 

Da ſitzt zunächſt der Richter auf ſeinem erhabenen 

Seſſel, in möglichſt nachläſſiger Stellung, die Füße in gleicher 
Höhe mit der Naſe vor ſich auf dem Pulte liegend und ein 
ſolides Stück von ächtem Virginia-Kautabak im Munde, 
aus dem er goldene Fontänen alle halbe Minuten nach 
rechts und nach links entſendet; vor ihm ſteht ein Eimer 
mit Waſſer, aus dem er ſich gelegentlich den Mund rein 
ſpült und bräunliche Stromwellen über das Pult auf den 
Boden ſpritzt. 

Die Advocaten — die meiſten mit geladenen Revolvern 
unter dem Rockſchooße und ſammt und ſonders mit Energie 
Tabak kauend und, wenn nicht plädirend, in dicken Folianten 
blätternd — benutzen denſelben Eimer mit Waſſer, um ſich 
des Tabaks zu entledigen, wenn einer von ihnen eine Rede 
halten will. Die Zuſchauer, gleichfalls mit Revolvern an 
der Seite und faſt alle Tabak kauend, oft in Hemdärmeln 
und die Hoſen in die Stiefelſchäfte geſteckt, ſitzen und liegen 


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in pittoresken Stellungen ringsum auf den Bänken, balanciren 
auf den Rücklehnen oder liegen auf den breiten Fenſter— 
bänken. Einige nehmen ſich die Freiheit, aus Stummel— 
pfeifen zu rauchen, und mitunter geht Einer in den mit 
einem Geländer umgebenen Raum, worin Richter und 
Advocaten hauſen, ſpült ſich am Eimer den Mund aus und 
nimmt einen Schluck. Sämmtliche Anweſenden haben aus 
Reſpect vor dem Geſetze den Hut abgenommen und verhalten 
ſich ziemlich ruhig, da jedes auffallende Geräuſch, als gegen 
die Würde des Gerichtshofs verſtoßend, ſofort vom Richter 
mit Geldbußen ſtrenge geahndet wird. 

In einer ſolchen Gerichtsſitzung, der ich in dem 
Städtchen Clarksville im nördlichen Texas beiwohnte, fand 
ein Zeugenverhör in einem Familienzwiſte ſtatt, wobei der 
Friedensrichter, ein Schneidermeiſter, präſidirte. Der Rechts 
fall war wie folgt: 

Ein beſonders zankſüchtiger Texaner, der, feinen Schnurr- 
bart kräuſelnd, den rothhaarigen Friedensrichter und den 
Staatsanwalt hohnlächelnd muſterte, hatte feine Frau durch- 
geprügelt und ſeine Schwiegermutter, die ihrer Tochter 
beiſtehen wollte, erſt mit einem Stuhlbein um's Haus gejagt, 
ſie dann mit einer geladenen Doppelflinte in's Kornfeld 
verfolgt und ihr ſchließlich gedroht, er werde ſie ſcalpiren, 
falls er ihrer habhaft würde. 

Richter und Publicum hatten offenbar für die Damen 
Partei genommen und zwei Rechtsgelehrte, angeſtellt als 
Vertheidiger des ungalanten Hinterwäldlers, den zehn Mann 
erſt nach einem lebhaften Scharmützel im Urwald zu arre— 
tiven vermocht, hatten einen harten Stand, da der Richter: 
ihnen alle Augenblicke in die Rede fiel. Einer derſelben, 
der beide Füße bequem vor ſich auf einen Tiſch gelegt, 
ließ ſich jedoch nicht abſchrecken, die Schwiegermutter durch 
Kreuzverhör ſo in die Enge zu treiben, daß ſie zitternd 


409 


anfing ſich ſelber zu widerſprechen und der Caſus für den 
Staatsanwalt bedenklich ward. 

Unſer Schneidermeiſter, der Friedensrichter, der eine 
beſondere Malice auf den ihn verächtlich muſternden Ange— 
klagten zu haben ſchien, gebot plötzlich, nachdem er ſich den 
Mund am Eimer hitzig ausgeſpült, mit einem Fauſtſchlag 
auf das Pult, dem die Schwiegermutter verwirrenden 
Advocaten „Silentium!“ ſtieg vom Katheder herunter, ſetzte 
ſich neben die Schwiegermutter und ſagte zu ihr: er werde 
ſie beſchützen, ſie ſolle nur keine Angſt haben, ſondern frei 
von der Leber weg reden. 

Dem Secretär, der die Acten führte, gebot er, die 
ganze Sudelei von dem Verhör fortzuwerfen, und gab ihm 
einen halben Dollar, um beſſeres Papier zu kaufen und 
nach ſeiner Leitung die Acten wieder von vorn anzufangen. 
— „Und was Eure verdrehten Reden anbelangt,“ — fuhr 
er fort, ſich grimmig an die Advocaten wendend — „ich 
verſtehe kein Wort von all' dem Unſinn. Ich habe auch 
noch ein Wort mitzuſprechen. Was dort in Euren dicken 
Büchern ſteht, bleibt ſich ganz gleich; ich weiß ſchon, wer 
Recht hat, ſo gut wie irgend Einer. Und wenn's vierzig 
ſolcher Rechtsfälle wären, ich würde jeden der Hallunken 
trotz aller Eurer Reden und Spitzfindigkeiten ſchuldig be— 
finden. — Hallo! mein Tabak iſt alle geworden! Hat 
nicht Jemand von Euch ein Primchen für mich?“ 


7. Das „Schupftabakdippen“ der Südländerinnen. 


Viele von den Damen im ſonnigen Süden der Ver— 
einigten Staaten haben die häßliche Angewohnheit, ſich die 
Zähne mit Schnupftaback einzureiben, was mit dem tech— 
niſchen Ausdrucke Dippen bezeichnet wird. Der in Schott— 
land verfertigte, dunkelbraune Schnupftabak, welcher in 
kurzen, vierkantigen Flaſchen maſſenweiſe nach den ameri- 
kaniſchen Südſtaaten importirt wird, iſt dazu beſonders 
beliebt. Das „Dippen“ wird folgendermaßen betrieben: 
die jener Unſitte ergebene Dame hat ein Stäbchen von 
weichem Holze, deſſen eines Ende ſie mit ihrem Speichel 
anfeuchtet, und in die breithalſige Flaſche tunkt (dippt, 
daher der Ausdruck dippen), und dann den daran haf- 
tenden Schnupftabak mit dem Stäbchen auf und hinter die 
Zähne reibt; ein für den Zuſchauer nicht eben einladender 
Proceß. 

Wie mir von dippenden Damen in Texas oft ver— 
ſichert worden, iſt der durch den Schnupftabak auf das 
Zahnfleiſch und die Gaumennerven erzielte Reiz äußerſt 
angenehm und pikant. Es geht den ſüdländiſchen Schönen 
hierin ähnlich wie den chineſiſchen Opiumrauchern. Haben 
ſie die häßliche Gewohnheit einmal angenommen, ſo iſt es 
faſt ein Ding der Unmöglichkeit, dieſelbe zu bewältigen, 
obwohl die ſchädlichen Folgen davon unausbleiblich und 
bald ſichtbar ſind. 


411 


Das „Dippen“ wird von jungen Damen meiſtens 
insgeheim betrieben, da die Herren daſſelbe mit nichts 
weniger als freundlichen Augen betrachten; verheirathete 
Damen geniren ſich weniger dabei. Oft habe ich ſolchen 
meine Aufwartung gemacht, welche mich, mit der Schnupf— 
tabaksflaſche in der Hand, im Parlor empfingen. Ich 
mußte bei der Unterhaltung über ihre Geſchicklichkeit 
im Handhaben des Schnupftabakſtäbchens unwillkürlich 
erſtaunen. 

Die erſte dippende Dame ſah ich im Staate Alabama. 
Ich kehrte, wie es dazumal Sitte war (es war zu An— 
fang der fünfziger Jahre), auf meiner Reiſe bei einem 
reichen Pflanzer ein, der mir auf der Thürſchwelle ſeiner 
Wohnung freundlich entgegenkam, und mich als willkom— 
menen Gaſt einlud, es mir in ſeinem, allen anſtändig 
gekleideten Fremden ſtets geöffneten Hauſe, bequem zu 
machen. Mit der Tochter des Hauſes, einer blendenden 
Schönheit im Alter von ſechzehn oder ſiebzehn Jahren, 
hatte ich bald eine rege Unterhaltung angeknüpft. Sie 
hatte in einem Schaukelſtuhle Platz genommen, und wiegte 
ſich darin mit der allen Südländerinnen eigenen Grazie. 
Mit einem reichbordirten, pariſer Fächer wehte ſie ſich 
Kühlung zu, und war ohne Frage in dem mit hellen 
Blumenſtickereien beſetzten, ſchillernden Seidenkleide eine 
reizende Erſcheinung. Plötzlich legte ſie den Fächer beiſeite, 
und nahm eine ordinäre breitmaulige Schnupftabaksflaſche 
in die mit koſtbaren Ringen geſchmückte elfenbeinweiße Hand, 
und begann zu meinem nicht geringen Entſetzen den von 
mir oben beſchriebenen, widerlichen Proceß des „Dippens.“ 
Dabei wiegte ſie ſich ſchneller und ſchneller im Schaukel— 
ſtuhle hin und her, und ſpritzte den Speichel mit unglaub— 
licher Gewandtheit weithin von der Veranda in den Hof. 
Daß meine Bewunderung für die ſüdländiſche Schöne 


2 =; m er‘ 


412 


jofort ein Ende erreicht hatte, brauche ich wohl kaum 
hinzuzufügen. 

In Texas halten die dem Schnupftabak verfallenen 
Damen ordentliche Zuſammenkünfte, wobei bei geſchloſſenen 
Thüren nach Herzensluſt „gedippt“ wird und Tagesneuig— 
keiten, Moden, die neueſten Romane, Klatſchereien ꝛc. ab— 
gehandelt werden. Die Gegenwart von Männern iſt bei 
dieſen Dippgeſellſchaften verpönt. Während des Krieges, 
als die Importation von ſchottländiſchem Schnupftabak 
nach dem Süden durch die Blokade außerordentlich erſchwert, 
und der Artikel eine Seltenheit geworden war, fingen viele 
ſüdländiſche Frauen, denen der Gebrauch des Tabaks zum 
Lebensbedürfniß geworden war, nach Art der Männer an, 
Tabak zu kauen. Jetzt wird aber wieder um ſo eifriger 
„gedippt“, wie vor dem Kriege. 

Die ſchädlichen Folgen des „Dippens“ ſind im Süden 
allgemein bekannt. Nicht ſelten dringt der feine Tabak in 
die Lungen ein und verurſacht gefährliche Bruſtkrankheiten. 
Ein bleicher, wächſerner Teint iſt das untrügliche Kenn— 
zeichen einer „alten Dippſchweſter.“ Es iſt aber eine große 
Seltenheit, wenn eine ſolche den Schnupftabak verbannt; 
der eigenthümliche Nervenreiz iſt ihr bald fo zum Bedürf— 
niß geworden, daß ſie nicht davon ablaſſen kann, obwohl 
ſie weiß, daß die ihr zugemeſſene Lebenszeit dadurch be— 
deutend verkürzt wird. 


8. Eine intereſſante Reiſegeſellſchaft. 


Auf den prächtigen Dampfern, welche den unteren 
Miſſiſſippi befahren, drängt ſich allerlei Volk zuſammen, 
worunter „die Söhne Erins oder der grünen Inſel“ 
ſtark vertreten ſind, die ſich nach ihrer Art manchmal 
auf eine eigenthümliche Weiſe beluſtigen. 

Eine Prügelei in Maſſe (an irish fight) gilt be- 
kanntlich bei den Irländern für das höchſte denkbare 
Vergnügen. Während einer Reiſe, die ich im Jahre 1870 
von St. Louis nach New Orleans auf dem Miſſiſſippi— 
Dampfer „Henry Ames“ machte, ward mir die Gelegen— 
heit, einer ſolchen iriſchen Maſſenprügelei zuzuſchauen. 
Als unſer Dampfer die Stadt Natchez im Staate Miſſiſſippi 
verlaſſen wollte, um ſeine Fahrt ſtromabwärts fortzuſetzen, 
kam eine Bande von etwa 75 irländiſchen Deicharbeitern 
mit geſchwungenen Knüppeln und Hurrah vom Berge herab— 
marſchirt und verlangte von unſerm Capitain Paſſage nach 
dem 135 engliſche Meilen entfernten Baton Rouge zu 
einem Dollar den Kopf. Nach längerem Debattiren 
ward die Fahrt bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, 
daß ſich die Herren Irländer unterwegs „nett betragen“ 
ſollten. 

Die geſtellte Bedingung fand in dem Ausſehen der 
neuen Reiſegeſellſchaft ihre volle Berechtigung. Die lie— 


— — K 0 


414 


derliche Kleidung der Neuankömmlinge, ſowie ihre Mantel— 
ſäcke und Reiſetaſchen, die offenbar ſchon manchen Sturm 
erlebt hatten, erinnerten mich lebhaſt an die drei Hand- 
werksburſchen in dem weltbekannten Luſtſpiel „Lumpaci⸗ 
vagabundus“. Und dann dieſe Geſichter! Die rothen, 
aufgeſtülpten Naſen, die pfiffigen Augen, verkratzten, pur— 
purnen Backen, wilden Haare und Bärte — in meinem 
ganzen Leben hatte ich nicht eine ſolche Blumenleſe von 
originellen Bummlerphyſiognomien beiſammen geſehen. 
Jeder führte den hiſtoriſchen irländiſchen Knüppel, „Shi— 
lela“ genannt, in der Hand. Gelegentlich einem ſchwarzen 
Deckarbeiter einen feſten Rippenſtoß verſetzend, kam die 
luſtige Bande an Bord marſchirt. Sobald der letzte 
Mann dieſer „alten Garde“, von denen jeder ſeinen 
Papierdollar Paſſagegeld in der Hand hielt und am Lan— 
dungsplatze abgeben mußte, an Bord war, wurde das 
Brett eingezogen, unſere 75 neuen Paſſagiere brachten ein 
donnerndes Hoch aus auf das „bloody Natchez!‘ und 
hinaus in den weiten Miſſiſſippi ſchoß unſer prächtiger 
Dampfer. 

Während der nächſten Stunde hatte unſer „Bar— 
keeper“ — Schenkwirth an der Bar — alle Hände voll 
zu thun, um ſeine neuen fünfundſiebenzig, ſtets durſtigen 
Gäſte zu bedienen. In dichten Haufen drängten ſich die— 
ſelben an die Bar, um einen Schluck zu einem viertel 
Dollar zu erobern. Dieſer Schluck beſtand jedesmal in 
einem bis zum Rande gefüllten Waſſerglas mit Whisky. 
Jeder Irländer hatte fünf Dollars, welches Geld ihnen 
als Abſchlag für Deicharbeiten in Natchez ausgezahlt 
worden, im Vermögen, und konnte, nach Abzug des einen 
Dollar für Paſſage, folglich über vier Dollars verfügen, 
ein Aequivalent für ſechszehn ſolcher Schlucks. Die köſt— 
lichſten Einfälle gaben die luſtigen Zechbrüder gratis zum 


415 [ R 


Beſten; kein Volk in der Welt gf viel Mutterwitz 
und natülichen Humor, wie der Irländer. a 

Bald fing der Whisky an, feine Wirkung auf unſere 
heiteren Cumpane auszuüben. — Paddy, Patrick, Ma⸗ 
loney und Me Carty verſetzten einander gelegentlich einen 
freundſchaftlichen Hieb mit dem Shilela auf den Hirn— 
ſchädel oder einen wohlgemeinten Rippenſtoß, und das For— 
dern von mehr Whisky wurde immer ungeſtümer. Zuletzt 
erklärte der Barkeeper, dem vor ſeinen lärmenden, durſtigen 
Kunden angſt und bange wurde, daß er keinen Tropfen 
Whisky mehr im Vorrath habe, ſchloß den Trinkſtand und 
machte ſich aus dem Staube. Mit einer Fluth von entſetz— 
lichen Flüchen auf den Ganymed und den „trockenen 
Steamer“ begaben ſich unſere intereſſanten Reiſegefährten 
alsdann aus der Cajüte auf das untere Deck zurück. 

Während der nächſten ſechs Stunden wurde nun auf 
dem untern Verdeck des Dampfers zur Feier des Tages 
eine förmliche Schlacht geliefert, ein echtes „Irisch fight.“ 
Jeder prügelte ſich mit allen; die Shilelas, welche Natio— 
nalwaffe die Irländer mit unglaublicher Gewandtheit zu 
handhaben wiſſen, und zwar ſo, daß ſie den Stock allemal 
in der Mitte anfaſſen, kreiſten umher wie Windmühlen— 
flügel und klapperten beim Pariren nicht ſelten auf den 
Knöcheln und Hirnſchädeln. Dabei wurde geflucht und 
geſchrien, ein wahrer Bedlamslärm. Alles dies war aber 
nur zum Spaß. Wurde aber mitunter Einer böſe, der 
einen tüchtigen Hieb davongetragen hatte, ſo forderte er 
zunächſt Jedermann mit haarſträubenden Flüchen im Ernſt 
zum Zweikampf heraus und fand auch bald ſeinen Mann. 
Den Oberkörper halb entblößt, ſtürzten die Gegner wie 
wilde Beſtien auf einander los, kugelten über einander auf 
dem Boden hin und bearbeiteten einander mit Fauſt— 
ſchlägen und Fußtritten. 


416 


Mit Beißen und mit den Daumen die Augen des 
Gegners aus den Höhlen drücken, wie die Amerikaner es 
bei einer Schlägerei zu thun pflegen, oder gar mit 
Schießen und Stechen, befaßt ſich der Irländer nicht; 
dafür iſt er zu civiliſirt. Um ſo lieber gebrauchen ſie 
den Shilela, reißen ſich an der Naſe und an den Lippen 
und packen ſich in den Haaren. Gegen Piſtolen und 
Meſſer hegt der Irländer einen unüberwindlichen Wider— 
willen. Selten wird daher Einer bei einer ſolchen Rau— 
ferei ernſtlich beſchädigt. Die Geſichter der Kämpfenden 
ſehen allerdings nach derſelben entſetzlich aus. 

Während des Gefechts, das die Irländer, dreiviertel 
angetrunken, wie ſie waren, ſo recht con amore unter ſich 
veranſtalteten, ſtanden die ſchwarzen Deckarbeiter mit den 
rollenden Augen bewundernd umher, und die Cajütenpaſſa⸗ 
giere bildeten das feinere Zuſchauerperſonal oben auf der 
Cajütengallerie, ſo zu ſagen auf dem erſten Range. 

Als ich gegen Abend das Schlachtfeld beſuchte, lagen 
an vierzig mehr oder weniger Bleſſirte durch- und über⸗ 
einander auf dem Verdeck und ſchliefen ihren Rauſch aus. 
Keiner war ſeltſamerweiſe während des Handgemenges 
über Bord gefallen. 


9. Ein Beſuch in der Mammuth⸗Höhle in Kentucky. 


Eine meiner liebſten Reiſeerinnerungen iſt mir ein 
Beſuch der berühmten Mammuth-Höhle. — Mein langge— 
hegter Wunſch, jene Rieſenhöhle zu ſehen, verwirklichte ſich 
aber erſt im Sommer 1870. Als ich im Monat Juli des 
genannten Jahres von einem Beſuch in Texas nach Cali— 
fornien zurückkehrte, ſtand mir die Wahl offen, entweder 
über St. Louis oder über Louisville nach Omaha und 
San Francisco zu reiſen, welche letztere Route mich, wie 
ich wußte, in die Nähe der Mammuthhöhle bringen würde. 
Die directe Fahrt über St. Louis wäre wohl etliche Hundert 
Meilen näher geweſen; aber ein ſolcher kleiner Umweg 
kommt ja bei einer Reiſe in Amerika wenig in Betracht 
und ſollte mich auch nicht abhalten, einen Abſtecher nach 
der gewaltigen Höhle zu machen. Geſagt, gethan! — 
In New-Orleans löſte ich mir ein Fahrbillet nach San 
Francisco via Louisville, und bald durchflog ich auf der 
„New-Orleans, Jackſon & Great Northern Eiſenbahn“ 
den Staat Miſſiſſippi, — meine alte Heimath in den fünf— 
ziger Jahren. Nachdem ich die Staaten Miſſiſſippi und 
Tenneſſee durchkreuzt hatte, verließ ich am letzten Tage 
des Junimonds bei der Eiſenbahnſtation Cave City in 
Kentucky den Schnellzug, von wo mich ein Omnibus durch 
eine maleriſche Waldgegend nach dem nur noch ſechs engliſche 
Meilen entfernten, in der Nähe der Mammuthhöhle erbauten 
Hotel brachte. 


27 


418 


Der Landſtrich von Kentucky, wo ſich die Höhle befindet, 
95 engliſche Meilen ſüdlich von der Stadt Louisville am 
Ohiofluß, iſt eine maleriſche Waldgegend, deren Untergrund 
aus einer gewaltigen Kalkſteinſchicht beſteht. Der nahe 
Green River, welchen jetzt an 300 Fuß hohe Abhänge 
jener Felsart einſchließen, iſt der eigentliche Höhlenbaumeiſter 
geweſen. Im Laufe der Jahrtauſende hat er ſein Bett 
immer tiefer eingeſchnitten und zugleich die Kalkſteinlager 
an ſeinen Ufern etagenweiſe erſt durchlöchert und mit Waſſer 
gefüllt, und, als er auf ein tieferes Niveau ſank, drainirt. 
Daß die Hauptgänge einſt das Bett von unterirdiſchen 
Flüſſen waren, unterliegt keinem Zweifel. Sowohl an 
den Höhlungen, als vom Ablagern loſer Felsſtücke auf dem 
Kies⸗ oder Sandboden derſelben iſt der Lauf, den das 
Waſſer hier vor ungezählten Jahren genommen, heute noch 
ganz deutlich zu erkennen. Die weiten Gewölbe und 
Hallen (ſogenannte Dome), ſowie die zahlreichen brunnen— 
artigen Abgründe wurden entweder durch das Einſtürzen 
von übereinander liegenden Gängen und Zerſetzung des 
Geſteins gebildet, oder ſie verdanken ihr Entſtehen dem 
fortwährenden Herabträufeln und Durchſickern von Grund— 
waſſer, welches dieſelben im Laufe der Zeit aus dem 
feſten Felſen ſozuſagen herausgemeißelt hat. Die Reſte 
der unterirdiſchen Gewäſſer befinden ſich gegenwärtig 
285 Fuß unter dem Plateau und ſtehen mit dem Green 
River, deſſen Waſſerſtand auch den ihrigen bedingt, in 
Verbindung. 

Die Mammuthhöhle iſt ein ungeheures Labyrinth von 
unterirdiſchen Gängen (Avenues), Gewölben, Engpäſſen, 
Hallen ꝛc., mit zahlreichen Gewäſſern, Abgründen, Gyps-, 
Tropfſtein- und anderen Gebilden. Namentlich iſt es das 
Kolloſſale ihrer Räumlichkeiten, was jeden Beſucher in Er— 
ſtaunen verſetzt. Der großartige Charakter der amerika— 


419 


nischen Natur hat hier unter der Erde gleichſam ein 
Gegenſtück gefunden. Die Geſammtlänge von 72 bis jetzt 
erforſchten, neben- und übereinanderliegenden „Avenues“ 
(nur ſolche Gänge, welche wenigſtens eine halbe engliſche 
Meile lang ſind, werden Avenues genannt), beträgt mehr 
als 150 engliſche Meilen, und iſt die Höhle noch lange 
nicht in allen ihren Theilen bekannt geworden. Die Mam— 
muthhöhle wurde zufällig im Jahre 1809 durch Jäger 
entdeckt, als ein gehetzter Bär in der damals mit dichtem 
Gebüſch überwachſenen Oeffnung vor der Verfolgung Schutz 
ſuchte. Lange Zeit war nur der vordere Theil der Höhle 
bekannt, bis ein gewiſſer „Stephen“ (hier Stephen der 
Große genannt), ein Halbblutindianer mit eiſernen Nerven, 
in den dreißiger Jahren auf einem über den ſogenannten 
„bodenloſen Abgrund“ geworfenen Baumſtamme in das 
unbekannte Jenſeits hinüberkletterte und in den tiefer 
liegenden Theil der Rieſenhöhle eindrang. Die vordere 
Höhle muß ſchon vor ihrer Entdeckung durch die Weißen 
den Indianern, deren Spuren man dort vielfach gefunden 
hat, bekannt geweſen ſein. Auch zwei indianiſche Mumien 
wurden in ihr entdeckt. — 

Nachdem ich im Hotel die nöthigen Erkundigungen 
über die Höhle eingezogen, war ich bereit, meinen Ausflug 
in das finſtere Labyrinth derſelben zu beginnen. Da keine 
holde Ariadne mit einem meilenlangen Zwirnfaden mitging, 
ſo mußte ſelbſtverſtändlich ein erfahrener Führer mich be— 
gleiten, welchen mir der Wirth in dem Herrn Abraham 
vorſtellte, dem zuverläſſigſten und am beſten inſtruirten 
unter allen ſeinen Collegen. Meine Reiſegenoſſen in die 
Unterwelt beſtanden ferner aus einem Geologen, der ein 
ſchätzenswerther Begleiter auf einer ſolchen unterirdiſchen 
Spaziertour war, und aus einem amerikaniſchen Profeſſor 
von einer Hochſchule in Louisville, welcher in Heidelberg 


Tas 


420 


ſtudirt hatte, nebſt deſſen Gemahlin und ihrer Freundin. 
Wir Herren ließen unſere Röcke auf den Rath des Führers 
im Hotel zurück und zogen wollene Jacken an, die Damen 
erſchienen in intereſſantem Bloomerkoſtüm. Abraham hatte 
ein halb Dutzend Oellampen und ein Packet Eiſenbahn— 
annoncen, die mit Kohlenöl getränkt waren, in der Hand, 
womit er, wie er bemerkte, die ſehenswertheſten Theile der 
Höhle erleuchten wollte. 

Bald gelangten wir an den Eingang zur Höhle. Ein 
weites und dunkles Gewölbe, von herrlichen Laubbäumen 
umſchattet, lag ſie in der Tiefe vor uns da, und bildete 
einen ſo romantiſchen Höhleneingang, wie einer ſich nur 
denken läßt. Ueber das Höhlenthor ſtürzte ein kleiner 
Waſſerfall hinunter, und ein kalter Luftzug drang aus dem 
Innern der Erde hervor. Als wir auf einem abſchüſſigen 
und ſchlüpfrigen Pfade in die Tiefe gelangt waren, fühlte 
ſich dieſer Luftzug eiſig kalt an, ſo daß wir ſchnell Tücher 
um den Hals banden und ſroh waren, uns auf den Rath 
des Führers in warme wollene Jacken gekleidet zu haben. 
Dieſer kalte Luftzug hat ſeine Urſache in der Temperatur 
der Höhle, welche das ganze Jahr hindurch + 59 Grad 
Fahrenheit beträgt. Die Höhlenluft ſucht mit der äußeren 
Atmoſphäre ein Gleichgewicht herzuſtellen — daher der 
Luftzug. Im Sommer wird die Luft von der Höhle in 
langem, gleichmäßigem Zuge ausgeſtoßen, im Winter zieht 
ſie die äußere Luft ein. Dies pflegt man als „das Athmen 
der Mammuthhöhle“ zu bezeichnen. Iſt die äußere Luft 
auch + 59 Grad, fo findet kein Luftzug ſtatt. Zur Zeit 
meines Beſuches betrug die Wärme im Freien 90 Grad, 
— ein plötzlicher, recht unangenehmer Temperaturwechſel 
von 31 Grad. 

Ehe wir in die Höhle traten, zündete der Führer die 
Oellampen an und überließ Jedem von uns eine derſelben. 


421 


Der Luftzug war zuerft fo ſtark, daß mehrere Lampen 
davon ausgelöſcht wurden; bald aber ward er ſchwächer, 
und als wir nach einem Marſche von etwa zehn Minuten, 
der uns durch einen langen, tunnelartigen Felſengang führte, 
die ſogenannte „Rotunde“ erreicht hatten, war nichts mehr 
davon zu ſpüren. Die gleichmäßige kühle Temperatur der 
Höhlenluft war im Gegentheil von jetzt an angenehm für 
Nerven und Lungen. Die in allen Theilen der Höhle 
merkwürdig reine Luft iſt ſo kräftigend, daß ſelbſt ſchwächliche 


Perſonen, die kaum im Stande find, im Freien einen kurzen 


Spaziergang zu machen, durch einen viele Stunden anhal— 
tenden Marſch in der Höhle nur wenig ermüdet werden. 

Wir blicken uns um in der Rotunda, einem mäch— 
tigen Gewölbe von etwa 100 Fuß Höhe bei 175 Fuß im 
Durchmeſſer, das gerade unter dem Speiſeſaal des erſt 
vor Kurzem von uns verlaſſenen Hotels liegt. Auf dem 
Boden befinden ſich rieſige, aus ſchweren Bretterbohlen 
verfertigte viereckige Kufen, Waſſerröhren, große Stein— 
haufen ꝛc., — die Ueberbleibſel anſehnlicher, zu Anfang 
des Jahrhunderts hier bearbeiteter Salpeterwerke. Röth— 
licher Sand und ebenſo gefärbte Steine, aus denen der 
Salpeter gewonnen ward, bedecken den Boden. Die Bretter 
und Balken ſind in der reinen Luft nicht im mindeſten 
angefault, obgleich ſie beinahe ſechszig Jahre hier gelegen 
haben. Am Boden ſind die Fußtapfen von Ochſen und 
die Radſpuren von Wagen, welche hier vor zwei Menſchen— 
altern hin und her fuhren, noch ganz deutlich zu bemerken. 
Der Lehm, in den ſie ſich eindrückten, iſt ſeitdem zu feſtem 
Geſtein geworden. | 

Langſam wanderten wir weiter durch einen von ge— 
waltigen Felſen überhängten Gang, den ſteinigen Pfad mit 
unſeren Lampen vorſichtig beleuchtend, und treten bald 
darauf in ein zweites, achtzig Fuß breites und vierzig Fuß 


422 


hohes Gewölbe, die Methodiſtenkirche genannt. Beim 
Beginn dieſes Jahrhunderts war hier in Wirklichkeit die 
Kirche in der Mammuthhöhle. Siebzig Jahre! eine lange 
Zeit in Amerika! — Das wilde Kentucky, damals der 
„blutige Grund“ genannt, wo vor zwei Menſchenaltern 
Indianer und Weiße grauenvolle Kriege miteinander führten, 
iſt ſeitdem zum Garten Amerika's geworden. Die Indianer 
ſind ganz von dort verſchwunden. Aber an der Mammuth— 
höhle ſind die Jahre ſpurlos vorübergegangen. Hier ſtehen 
noch dieſelben Bänke, liegen noch die nämlichen Holzklötze 
an derſelben Stelle, wo die andächtige Gemeinde dem 
Prediger bei Fackellicht vor ſiebzig Jahren zuhörte. Ein 
fünfundzwanzig Fuß hoher Fels bildete an der einen Seite 
der Höhle die natürliche Kanzel. Unſer Führer hieß uns 
auf einer alten Bank Platz nehmen, beſtieg den Kanzelfels 
und zündete einen von ſeinen mit Oel getränkten Papier— 
blättern an, deſſen Licht die ganze Halle erleuchtete. Dann 
warf er das brennende Papier hinunter. Heller flackerte 
es auf und erloſch plötzlich, und wieder umſchloß uns das 
neblige Dunkel, deſſen Nähe nur von unſern Lampen ſpärlich 
beſchienen wurde. 

Wir befanden uns jetzt in der großen Avenue, die 
ſich ſechs engliſche Meilen weit erſtreckt und eine Höhe von 
vierzig bis hundert, bei einer Breite von ſechszig bis zwei— 
hundert Fuß hat, — der größten unterirdiſchen Straße in 
der Welt. Der Boden in derſelben iſt meiſtens glatt wie 
der in einer Tenne; die Decke ſchließt ſich wagerecht an 
die ſenkrecht aufſteigenden Seitenwände. Man denke ſich 
eine Hauptſtraße in einer der größeren Städte Amerika's 
oben an den Dächern der Häuſer quer hinüber geſchloſſen, 
und der innere Raum der Straße wird demjenigen von 
der „großen Avenue“ annähernd gleichkommen. Die Kreide— 
felſen der Decke find vielfach von Eiſenoxyd geſchwärzt 


425 


und zeigen oft feltfame Figuren, aus denen ſich eine leb— 
hafte Phantaſie leicht Formen von Menſchen und wunder— 
bare Thiergeſtalten bilden kann. Es ſind dies gleichſam 
die Fresko's in der Mammuthhöhle. 

Nur ſpärlich vermochten unſere Lampen die näher 
liegenden Theile der gewaltigen „Avenue“ zu erhellen. 
Es war, als ob die Finſterniß das Licht einſöge. Als ich 
die dämmernde Felſenſtraße hinunterblickte, die ſich wie in's 
Endloſe vor uns erſtreckte, war es mir, als wandelten 
wir hier durch die unterirdiſchen Gewölbe eines uralten, 
rieſigen Tempelbau's. Die tiefe Stille, welche uns umgab, 
hatte etwas unbeſchreiblich Ernſtes und Feierliches. Kein 
Laut von der Oberwelt war je bis hierher gedrungen. 
Mochte droben ein Donner krachen oder ein Orkan über 
uns durch die Wälder toben, nicht den leiſeſten Wieder— 
hall davon könnten wir hier vernehmen. Wie grenzenlos 
verlaſſen mußte man ſich in der Finſterniß allein in dieſen 
rieſigen öden Räumen fühlen! Der bloße Gedanke daran 
machte das Herz lauter klopfen. Der Führer erzählte uns 
Beiſpiele von Touriſten, welche beim Umherwandern in der 
Höhle durch Sorgloſigkeit von ihren Gefährten getrennt 
worden waren. Vergebens ſuchten ſie einen Ausweg, verloren 
ſich tiefer und tiefer in den ſich endlos verzweigenden 
Gängen und Gewölben. Ihre Lampen erloſchen; Nie— 
mand hörte ihren Angſtſchrei. Wurden ſolche Verirrte 
ſpäter aufgefunden, (es ſind Fälle vorgekommen, wo acht 
und vierzig Stunden vergingen, ehe man ſie entdeckte) ſo 
fielen ſie ihren Rettern weinend um den Hals, oder ſie 
ſaßen ſtumm am Boden — wahnſinnig. 

Unſer Führer machte uns auf einen gewaltigen Fels— 
block aufmerkſam, der rechter Hand nahe an der Höhlen— 
wand lag und einem Sarge täuſchend ähnlich war. Dieſer 
ſogenannte „Sarg des Rieſen“ iſt 40 Fuß lang, 20 Fuß 


424 


breit und 8 Fuß hoch und könnte, falls er hohl wäre, 
einen recht anſehnlichen Goliath aufnehmen. Ein weiß— 
grauer Rand giebt ſeinem oberen Theile das Anſehen 
eines Sargdeckels. Beim „Sarge des Rieſen“ verlaſſen 
wir zeitweilig die „große Avenue“. Der rauhe Weg, den 
wir jetzt einſchlugen, führt durch ein wahres Felſenlaby— 
rinth. „Die Köpfe in Acht genommen!“ (careful for 
heads) ruft Abraham jeden Augenblick. „Vorgeſehen links!“ 
— „Rechter Hand aufgepaßt!“ — erſchallt die Warnung. 
Auf nichts weniger als feſten Leitern ſteigen wir in die 
Tiefe, ſchreiten dahin auf engen, gewundenen Pfaden, 
klettern über große Steinblöcke, kommen an Abgründen vor— 
bei und ducken uns unter gewaltigen Felsmaſſen; eine ro— 
mantiſche Spaziertour, bei welcher wir den Pfad Schritt 
vor Schritt mit unſern Lampen beleuchten müſſen. 

Auf einer Leiter erklimmen wir einen Felſenvorſprung 
und blicken durch eine fenſterähnliche kaum drei Fuß breite 
Wandöffnung in den Gorin's Dom. Der Führer mahnt 
uns zur Vorſicht und läßt uns allein am Fenſter zurück, 
Bei dem matten Schein der Lampen können wir aber, uns 
an das ſchmale Geſims anklammernd, nicht viel mehr als 
eine uns gegenüber liegende ausgehöhlte Felswand erkennen, 
die ſenkrecht emporragt und ſich wie das Gemäuer eines 
Brunnens jäh in die Tiefe ſenkt. Nach oben blicken wir 
hinauf wie in einen dunklen Thurm, und nur der Wieder— 
hall von dem auf den Boden herabträufelnden Waſſer giebt 
eine Ahnung von der bodenloſen Tiefe des Abgrundes. 
Die vor uns liegende halbrunde Felswand, welche eine 
etwa ſechszig Fuß weite Oeffnung einſchließt, iſt etwa zwei— 
hundert Fuß hoch; das natürliche Fenſter liegt ungefähr 
in der halben Höhe derſelben. Plötzlich iſt der ganze Dom 
hell erleuchtet. Abraham hat an einer oberen Oeffnung 
mehrere von ſeinen mit Oel getränkten Papierblättern an— 


425 


gezündet und wirft dieſelben nach einander hinab, die krei— 
ſend und hell aufflackernd in die Tiefe ſinken. Die ganze 
Höhe der ungeheuren röthlich ſchimmernden concaven Fels— 
wand erſchließt ſich momentan unſerm Blick. Von dem 
fortwährend an ihm herabrieſelnden Waſſer iſt dieſelbe vom 
obern Geſims bis 160 Fuß herab, wo ſie abbricht, aus— 
gefurcht und wie in Falten gelegt. Es gehört nur wenig 
Einbildungskraft dazu, ſich in dem thurmartigen Dom einen 
uralten unterirdiſchen Tempel vorzuſtellen, deſſen Aller— 
heiligſtes durch jenen röthlichen Felſenvorhang gleichſam 
verdeckt war. 

Wir kehrten nun zurück nach der „großen Avenue“ 
und kamen bald an einigen dachloſen Steinhütten vorbei, 
den ehemaligen Wohnungen von Schwindſüchtigen, welche 
ſich in früheren Jahren hier monatelang aufzuhalten pflegten, 
um in der gleichmäßigen Höhlentemperatur Geneſung zu 
erlangen. Keiner von ihnen wurde geheilt. Lebendig 
hatten ſie ſich begraben und ſiechten ſchnell dahin. Geiſter— 
bleich wankten ſie wieder hinauf zum Sonnenlicht, um bald 
zu ſterben. Ein trauriger Gedanke, hier in der Einſam— 
keit, in dieſen todten unterirdiſchen Räumen, neues Leben 
zu ſuchen! 

Jetzt will uns Abraham mit einem Stückchen Zau— 
berei überraſchen. Er erſucht uns, auf einer am Wege 
ſtehenden Holzbank Platz zu nehmen, läßt ſich ſämmtliche 
Lampen geben und verſchwindet damit hinter einem Fels— 
block. Ein ſeltſames Schauſpiel entwickelt ſich nun vor 
unſeren Augen. Allmählich ſcheint ſich die Höhle in ein 
langes und tiefes Thal zu verwandeln. Vor uns thürmt 
es ſich empor wie ein Gebirge, mit Schnee an den Ab— 
hängen in der nächtlichen Dämmerung. Am Gewölbe, 
das ſich dunkelblau in weite Ferne erhoben hat, beginnen, 
erſt matt dann immer heller leuchtend, zahlloſe Punkte zu 


426 


ſchimmern, als blickten wir hinauf in den Sternenhimmel; 
ſelbſt ein Komet iſt deutlich zu erkennen. Bald darauf 
zieht eine dunkle Wolke langſam am Himmel vorüber, die 
Gebirgswand wird beſchattet, die Sterne verſchwinden. So— 
bald die Wolke vorüber gezogen, blinken die Sterne wieder 
hell wie zuvor. Der Führer entfernt ſich nun mit allen 
Lampen in den Hintergrund der Höhle und läßt uns allein 
in der Finſterniß. Pechſchwarz, ich möchte ſagen mit den 
Händen greifbar iſt dieſe — eine wahre Rabennacht. Doch 
ſieh! — in weiter Ferne erſcheint ein matter Lichtſtreifen. 
Allmählich wird es dort heller, als bräche der Tag an. 
Wir gewahren deutlich Wolken, umſäumt vom erſten 
Morgenſchimmer. Das Licht hebt ſich und wird zur Sonne; 
und plötzlich dringt wieder ein heller Schein zu uns her— 
über. Ja, das war ſchön, einzig ſchön! — Noch nie ſah 
ich eine ſolche Täuſchung. Es waren die Wunder der 
ſogenannten Sternenkammer (star-chamber), die ſich 
ſoeben unſerem Blick erſchloſſen. Der ſeltſame Augentrug 
hat ſeine Urſache in dem Reflex des Lichtes, welches von den 
verſteckt gehaltenen Lampen auf die eigenthümlich gefärbten 
Felſen der Wände und Höhlendecke fällt. Dieſe iſt ſchwärz— 
lich und mit vielen diminutiven Kryſtallen beſetzt, während 
jene weißlich und dunkel ſchattirt ſind. Bei einer geſchickt 
angebrachten Beleuchtung erſcheint die Decke wie ein leerer 
Raum. Die Kryſtalle an derſelben werden durch das Licht 
der Lampen gleichſam in Sterne verwandelt, während die 
hellgrauen mit ſchwarzen Schraffirungen durchzogenen Seiten— 
wände ſich wie ſchneebedeckte Gebirge aufthürmen. 

Unſer Weg führte uns nun nach den „gothiſchen Ar— 
kaden“. Ehe wir dorthin gelangten, kamen wir durch das 
ſogenannte „Regiſterzimmer“, wo die niedrige, breite Decke, 
die wie das mit Kalk getünchte Plafond eines großen 
Saales ausſah, mit einer Menge Namensſchriften bedeckt 


427 


war. Beſucher haben ſich hier verewigen wollen und ihre 
Namen meiſtens mit Kienruß pöbelhaft hingemalt. Als 
ein bleibendes Denkmal roher Eitelkeit verunzieren dieſe 
Sudeleien, denen ich ſonſt noch leider zu oft begegnete, die 
Mammuthhöhle. Die „gothiſchen Arkaden“, welche wir bald 
darauf erreichten, zeigten eine Menge der prachtvollſten 
Stalactiten und Stalagmiten. Die zwei größten derſelben, die 
„Säulen des Herkules“ genannt, haben einen Umfang von 
nicht weniger als dreißig Fuß. Mein Reiſegefährte, der 
amerikaniſche Geologe, überraſchte uns mit der Erklärung, 
daß es funfzig Jahre nähme, um an einem Tropfſtein die 
Dicke einer Oblate herzuſtellen und daß dieſe Rieſenſäulen 
mindeſtens ein Alter von 20,000 Jahren hätten. Im 
ſogenannten „Hochzeitszimmer“ ſind jene Gebilde beſonders 
ſchön. In großem Bogen ſtehen die gelblich-weißen ge— 
ſchweiften Säulen rings in der Halle, während kleinere 
Zapfen wie eine Garnitur zwiſchen ihnen von der Decke 
herabhängen, und gewähren einen reizenden Anblick. In 
dieſer Halle wurde einmal bei Fackellicht und dem Scheine 
von bunten Lampen eine höchſt intereſſante Trauung voll— 
zogen. Ein hartherziger Vater einer ſchmachtenden Süd— 
änderin hatte geſchworen, daß er ihre Hochzeit auf der 
Erde mit ihrem Herzliebſten nie gutheißen werde. Dieſer 
entführte nun ſeine Braut unter die Erde und hielt 
Hochzeit in der Mammuthhöhle, wogegen der reiche 
Schwiegerpapa vernünftigerweiſe nichts einzuwenden hatte. 

Die Endſtrophen eines Gedichtes,“ worin ich jener herr— 
lichen Tropfſteinkammern Erwähnung gethan, mögen der 
Beſchreibung dieſer meiner erſten, etwa neun engliſche 
Meilen langen Tagereiſe in der Mammuthhöhle als 
Schluß dienen: 

* ‚Die Mammuthhöhle in Kentucky“ aus dem II. Bande 
pag. 234 ff. der Gedichtſammlung Adelpha. 


428 


Da trat ich in die „gothiſchen Arkaden“, 
Wo mir ein Feenreich die Höhle ſchien, — 
Als hätt' der Erdgeiſt mich zu Gaſt geladen, 
Die Lampe mir vertraut des Aladin: 
Der Stalactite Silberſäulen ſtanden 
Im prächt'gen Kranze, trugen leicht und kühn 
Die Decke, ringsum blitzt' es wie Demanten, 
Die unter weiße Roſen hingeſtreut; 
Und um der Säulen Kapitäler wanden 
Guirlanden licht ihr Alabaſterkleid. 
Hier der Altar, allwo, ſo ſagt die Kunde, 
Ein flücht'ges Brautpaar Hymen ſich geweiht: 
An hundert Fackeln ſtrahlten in der Runde 
Ihr Licht von jedem Silber-Stalactit; 
Wie Geiſterruf erſcholl's aus Prieſters Munde, 
Als ſie im Höhlentempel hier gekniet. 
Wie horchten auf die Gnomen, als erklungen 
In ihrem ſtillen Reich das heil'ge Lied! 
Aus tauſend Klüften kamen ſie geſprungen 
Und ſtaunten an die ſonnenlichte Pracht. 
Man ſagt, ſie hätten alle mitgeſungen 
Mit leiſer Stimme und geflüſtert ſacht; 
Und nach der Feier hätten ſie dem Pärchen 
Das Glück, den Segen unſichtbar gebracht. 
Und ich, der Dichter, dachte an dies Märchen, 
Als aus der Höhle kommend, müd' ich lag 
Auf weichem Moos; laut zwitſcherten die Lerchen 
In blauer Höh', der Sonne Goldſtrahl brach 
Durch's dunkle Grün des Urwalds, laue Lüfte 
Umkoſ'ten meine Stirn am Sommertag, 
Und durch das Laubwerk wogten Blüthendüfte: 
Und nahe lag im tiefen Thalesgrund, 
Vom Wald umringt und wildem Felsgeklüfte, 
Ein ſchwarzes Thor, der Mammuthhöhle Schlund. 


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429 


Am zweiten Tage meines Beſuchs im „Cave Hotel“ 


herrſchte ſchon früh Morgens reges Leben unter den Gäſten, 


denn unſer Wirth hatte geſagt, daß Jeder, der ſich an 
einem Marſche auf der ſogenannten „langen Route“ be- 
theiligen wollte, zeitig gerüſtet ſein müſſe. Unſere ganze 
Geſellſchaft von geſtern, ſowie mehrere Neuankömmlinge 
hatten ſich zu der Spaziertour gemeldet, und außer dieſen 
bemerkte ich noch vier deutſche Muſiker mit ihren Inſtru— 
menten, die in der Höhle für uns ſpielen ſollten. Einen 
intereſſanten Anblick bot unſere zahlreiche Geſellſchaft in 


dem pittoresken Höhlenkoſtüm, als wir in langer Reihe 


durch die Corridors des Hotels in's Freie ſchritten. Am 


Höhlenthor erwartete uns wieder Freund Abraham, der 


außer den nöthigen Lampen und den mit Oel getränkten 
Eiſenbahnannoncen noch einen großen mit Lebensmitteln 
gefüllten Korb bei ſich hatte. Wir gedachten an dieſem 
Tage einen Marſch von achtzehn engliſche Meilen unter 
der Erde zu machen, und ſollten weit jenſeits des Styx 
zu Mittag ſpeiſen. 

Bald waren die Lampen vertheilt, und in langer 
Reihe folgten wir dem Führer in den finſteren Schooß der 
Erde; auf's Neue blies der kalte Zugwind wiederholt die 
Lichter aus, ehe wir in die ſchützende Tiefe der gewaltigen 
Höhle gelangten. Durch die „große Avenue“ ſchritten wir, 
vorbei am „Sarge des Rieſen“, dann durch eine wilde 
Felſenenge nach dem ſogenannten „bodenloſen Abgrund“ 
(bottomless pit). Bodenlos iſt dieſer Schlund nun freilich 
nicht, hat aber doch eine Tiefe von 200 Fuß, welche 
Abraham durch einige hinabgeworfene brennende Eiſenbahn— 
annoncen anſchaulich machte. Ehe Stephen der Große 
dieſen Abgrund überbrückte, hielt man denſelben für das 
Ende der Höhle; aber jetzt führt ein ſicherer Steg über 
den Schlund. Auf der Mitte der Brücke erſchloß das ver— 


430 


einte Licht unſerer Lampen und der brennenden Papierblätter 
uns zu Häupten ein domartiges Gewölbe, während ſich 
ringsum zerriſſene Felsmaſſen aufthürmten und zu Füßen 
der Abgrund gähnte. 

In einem langen und niedrigen, kaum vier Fuß hohen 
Gange wanderten wir gebückt weiter und ſtiegen dann tiefer 
hinab, durch ein brunnenartiges Loch, worüber ein gewaltiger 
Felsblock ſo zu ſagen in der Schwebe hing. Jeden Augenblick 
vernahmen wir wieder die bekannten Mahnrufe Abraham's, 
beſonders oft die Worte: „‚eareful for heads!“ — 
Wir gelangten jetzt in einen ſchlangenartig gewundenen 
Engpaß, mit gleichſam glatt polirten Seitenwänden, augen— 
ſcheinlich einſtmals der Kanal eines reißend hindurch ſtrö— 
menden Waſſerlaufes. Stellenweiſe war der ſich durch feſten 
Fels windende Gang ſo eng, daß ſelbſt die minder Korpu— 
lenten in unſerer Geſellſchaft Mühe fanden, ſich hindurch 
zu zwängen, wobei unſere Köpfe oft in Gefahr waren, mit 
den dicht über uns hängenden ſpitzigen Felſen in unangenehme 
Berührung zu kommen. Dieſer Engpaß, der von achtzehn 
Zoll bis drei Fuß breit und von vier bis acht Fuß hoch 
iſt, führt den mehr paſſenden als poetiſchen Namen „der 
Jammer des fetten Mannes.“ 

Raſch näherten wir uns nun dem Sthx, auf Kiesboden 
und durch hohe, vierzig bis ſechszig Fuß breite Hallen 
hinſchreitend, wo wir uns ohne Zweifel in dem Bette eines 
ehemaligen unterirdiſchen Fluſſes befanden. Endlich ſtanden 
wir am Ufer des Styx, eines gegen zweihundert Ellen 
langen, und von fünfzehn bis vierzig Fuß breiten Gewäſſers, 
welches von einer natürlichen Brücke überſpannt wird. 
Der Höhlenfluß, von dem ich ſo viel gehört hatte, entſprach 
jedoch keineswegs meinen Erwartungen. Dieſer Styx 
ſchien mir überhaupt eine verfehlte Idee zu ſein. Das 
Ufer war ſumpfig, das Waſſer dem eines ſchmutzigen 


431 


Teiches ähnlich. Da waren keine Schatten der Abgeſchie— 
denen, welche auf die Ueberfahrt warteten. Kein drei— 
köpfiger Cerberus ſchnappte Einem nach den Waden. Das 
alte, halb mit Waſſer gefüllte Fährboot hätte nicht einmal 
eine Paſſagierladung von Geiſtern tragen können, und von 
Charon war vollends gar nichts zu ſehen. Einen beſſeren 
Eindruck machte der See Lethe, den wir bald darauf er— 
reichten, über welchen uns Abraham in einer Viertelſtunde 
in einem bereit liegenden Kahn ruderte. Die Decke der 
Höhle liegt dort neunzig Fuß über dem Waſſerſpiegel. 
Weshalb übrigens der Lethe als ein See figurirt, iſt unklar. 
Er hat die ungefähre Größe und Ausdehnung des Styx 
und könnte ſo gut wie dieſer ein Fluß heißen. Stephen 
der Große, welcher alle jene Gewäſſer benannt hat, lebte 
wahrſcheinlich mit der Geographie der Unterwelt auf etwas 
geſpanntem Fuße. 

Nachdem der Lethe hinter uns lag, wanderten wir 
wieder eine halbe Meile durch einen großen Höhlen— 
gang, der ſich bei Hochwaſſer des Green River in einen 
Fluß verwandelt, und deſſen weit über uns liegende 
Decke beim matten Schein der Lampen ausſah, als ſchwebten 
dort Lämmerwolken am dunklen Himmel. Am Ende dieſer 
„Avenue“ gelangten wir an den dreiviertel engliſche Meilen 
langen Echofluß und nahmen Paſſage in einem zweiten 
Fährboot. Die lange dauernde Fahrt auf dem Schofluß 
machte einen traumhaften Eindruck. In der That, es ge— 
hörte nicht viel Einbildungskraft dazu, ſich hier auf einer 
Reiſe nach Pluto's Reich zu dünken. Stellenweiſe war 
die Höhlendecke ſo niedrig, daß wir dieſelbe mit den 
Händen berühren konnten. Der Fluß hatte eine Breite 
von zweihundert Fuß, unſer Charon gebrauchte ſein Ruder, 
namentlich an ſolchen Stellen, wo er behutſam um die vor— 
ſpringenden Felsufer herumfuhr, mit vielem Geſchick. Die 


432 


leifen Worte, welche wir redeten, hallten ſeltſam an der 
Felsdecke wieder; die Lampen beleuchteten wie wandernde 
Irrlichter die dunkele Fluth; aus der Ferne ließen die zu— 
rückgebliebenen Muſiker ſanfte Accorde ertönen, wie ein 
Lebewohl aus der ſchönen Oberwelt, — „Gungl's Hei— 
mathklänge“, deren letzte, leiſe verhallende Tonwellen me— 
lodiſch an den Felſen hinzitterten; dazu das unbekannte 
Jenſeits, dem wir entgegenſteuerten, — eine Fahrt, deren 
Bild ſich meinem Geiſte unauslöſchlich eingeprägt hat. 

Alle dieſe und andere Gewäſſer in der Mammuthhöhle 
ſtehen, wie ſchon bemerkt wurde, mit dem Green River in 
Verbindung und ſteigen und fallen mit ſeiner Fluth. Bei 
Hochwaſſer füllen ſich ihre Gänge bis an die Decke mit 
Waſſer, das ſich alsdann auch in die nahe liegenden 
„Avenues“ verbreitet und jede Verbindung von Außen her 
mit dem inneren Theile der Höhle abſchneidet. In allen 
jenen Höhlenſtrömen, insbeſondere im Echofluß, befinden 
ſich augenloſe Fiſche und Krebſe. Dieſelben ſind ganz 
weiß und haben, mit Ausnahme weniger bis acht Zoll 
langer Exemplare, eine Länge von kaum zwei Zoll. Sie 
ſind echte Raubfiſche und die größeren von ihnen verfolgen 
und verzehren die kleinen. Es ſcheint, daß dieſe Fiſche, 
welche wohl urſprünglich aus dem Green River gekommen 
ſind, in der Höhle, wo ſie ſich fortpflanzen, bei ſpäteren 
Geſchlechtern die Augen verloren haben. Die Augenhöhlen 
ſind ihnen geblieben, aber die Augäpfel verſchwanden 
daraus. Dagegen ſind die Höhlenheuſchrecken, ekelhafte, 
blutarme und halbdurchſichtige Geſchöpfe, welche an den 
Felswänden in der Höhle umherkriechen, nicht blind, was 
ich aus dem Umſtande, daß dieſelben jedesmal vor dem 
Lichte unſerer Lampen flohen, ſchließen konnte. Dieſe 
Thiere, ſowie die in der Höhle nicht ſeltenen Eidechſen, 
Ratten und Fledermäuſe, die alle mehr oder weniger ſehen 


433 


können, mögen wohl durch Felsſpalten gelegentlich an das 
Tageslicht gelangen, wogegen es kaum anzunehmen iſt, daß 
die augenloſen Fiſche und Krebſe, falls einige von ihnen 
einmal vom Echofluß nach dem Green River ſchwimmen 
ſollten, den Weg nach ihrer Höhlenheimath zurückfinden 
können. 8 

Nachdem wir den Echofluß paſſirt hatten, ſchritten 
wir auf gelbem weichem Sandboden, eine volle deutſche 
Meile weit, durch eine gewaltige, gegen vierzig Fuß hohe 
„Avenue“, in welcher ſtreckenweiſe oben ein breites Geſims 
hinlief, das wie ein Chorbau in einer Kirche ausſah. Dann 
gelangten wir in einen wilden Felſenpaß, El Ghor ge— 
nannt, wo wir uns während dreiviertel Stunden einen 
Weg über ein Chaos großer von der Decke herabgeſtürzter 
Felstrümmer ſuchen mußten, bis wir jenſeits einer ſteilen 
und ſchlüpfrigen Treppe Martha's Weinberg erreichten. 
Fürwahr, eine Ueberraſchung nach der wilden Felſenſcenerie 
von El Ghor! — An der Decke und an den Wänden 
der Kammer hingen Hunderte ganz natürlich ausſehende 
Traubenbüſchel aus dunkelblauem Tropfſtein. Unwillkürlich 
ſuchte das Auge nach dem Spalier, welches dieſelben trüge. 
Wie von kunſtfertiger Hand gemeißelt ſahen dieſe Beeren 
und Ranken aus, welche das langſam herabträufelnde, mit 
Gyps, Alabaſter und Eiſenoxyd durchſetzte Waſſer hier im 
Laufe der Zeit gebildet hatte. 

Es iſt hoher Mittag. Wie die Zeit enteilt iſt! — 
Seit fünf Stunden befinden wir uns in der Höhle und 
haben eine ganz erkleckliche Anzahl von Meilen zurückgelegt. 
Soeben ſind wir in eine geräumige Halle getreten, welche 
den Namen Waſhington's führt. Abraham macht den 
Vorſchlag, hier zu Mittag zu ſpeiſen, welche Aufforderung 
mit Freuden von der Geſellſchaft angenommen wird, denn 
es hat ſich bei uns Allen durch den langen Marſch in der 


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454 


friſchen Höhlenluft ein ſtarker Hunger eingeſtellt. Bald 
haben wir uns, auf Felsblöcken ringsum Platz nehmend, 
romantiſch in der weiten unterirdiſchen Halle gelagert, der 
Proviantkorb wird auf einer Felstafel entleert und Jeder— 
mann langt wacker zu. Hell erklingen die mit funkelndem 
Weine gefüllten Gläſer, welche wir dem Vater Amerika's 
zu Ehren in dem nach ihm benannten Gewölbe der größten 
Höhle der Welt aneinanderſtoßen. 

Nachdem wir uns gut ausgeruht und Abraham die 
Lampen mit dem hier in Blechkannen vorräthig gehaltenen 
Oele friſch gefüllt hatte, ging's mit neuer Kraft weiter. 
Wir betraten jetzt einen der ſchönſten Theile der Mammuth— 
höhle, und während der nächſten Stunde drängte förmlich 
eine Ueberraſchung die andere. Zuerſt hatte der nicht ſehr 
hohe Gang, durch welchen wir hinſchritten, das Ausſehen, 
als ſei er mit zahlloſen Schneeballen beklebt; dieſelben 
hatten einen Durchmeſſer von zwei bis vier Zoll und be— 
ſtanden aus runden, nebeneinander ſitzenden Gypsballen. 
Dann waren ſowohl Wände als Decke der Höhle mit 
Gyps⸗- und Alabaſterblumen, die wie aus hellem Wachs ver— 
fertigt ausſahen, ſowie mit muſchelähnlichen Verzierungen 
aus demſelben Material dicht beklebt. Täuſchend ähnliche 
Nachbildungen von gelblich-weißen Roſen und Lilien, von 
Caktuſſen, Tulpen und vielen anderen Blumen klebten in 
reizendem Gewirr und mit ſtets wechſelnden Formen als 
kalkige Excrescenzen, in Roſetten und Arabesken, an den 
Felſen und kräuſelten ſich wie der Blätterſchmuck an 
Säulenkapitälern. Eine weiße Gypsblume von etwa acht 
Zoll im Durchmeſſer, die „letzte Roſe des Sommers“ 
genannt, hing an der Decke in einer von den Blumen— 
kammern und ſah mit ihrem vollen Kelche und den 
zartgeſchweiften Blättern prächtig aus. Cleveland's 
Cabinet heißt dieſer Blumengarten in der Mammuth— 


435 


höhle, der ſich einunddreiviertel engliſche Meilen weit 
erſtreckt. 

Der Führer bedeutet nun unſeren Damen, zurückzu— 
bleiben, da der Weg von hier bis zum Ende der Höhle 
für ſie etwas angreifend ſein möchte. Dieſe fein geſtellte 
Aufforderung wurde jedoch von den Vertreterinnen des 
zarten Geſchlechtes energiſch abgelehnt, und erklärten alle 
von ihnen auf das Beſtimmteſte, mitgehen zu wollen — 
ſoweit wie irgend einer von den Herren. Während der 
uächſten Meile führte der Weg über zahlloſe Felstrümmer, 
die wüſt durcheinander gewürfelt den Boden bedeckten und 
offenbar einſt von der Decke der Höhle herabgefallen waren. 
Mühſam bewegten wir uns vorwärts, mit den Lampen 
vorſichtig vor uns hinleuchtend. Von Felsſtück zu Fels— 
ſtück, von einem Steinhaufen auf den andern ſtolperten, 
ſprangen, krochen, balancirten wir, — eine gefährliche 
Tour, wobei Jeder für ſich im Halbdunkel, ſo gut es 
ging, die beſte Paſſage ſuchen mußte. Doch überwanden 
ſelbſt die Damen mit lobenswerther Ausdauer alle jene 
Hinderniſſe und gelangten mit dem Reſte der Geſellſchaft 
glücklich bis an das Ende des von einer ſchroff aufſteigenden 
felſigen Höhe abgeſchloſſenen Ganges. Nachdem wir wieder 
zu Athem gekommen waren, erkletterten wir den vor uns 
liegenden an hundert Fuß hohen Berg von loſen Fels— 
blöcken und ſtanden endlich auf dem Kamme der ſogenannten 
„Felſengebirge“ (rocky mountains). Vor uns gähnte 
ein weites, offenes Gewölbe, in welchem die Finſterniß für 
das Auge ſo undurchdringlich war, daß es den Anſchein 
hatte, als ſtänden wir einem rieſigen ſchwarzen Vorhange 
gegenüber. Sobald aber der Führer jenen ſogenannten 
„grauſigen Thalgrund“ mit ſeinen Papierfackeln dämmernd 
erleuchtete, erſchloſſen ſich unſerem Blick rechts und links 
zwei ſich in Nacht verlierende mächtige Hallen, während zu 


28 * 


436 


unſeren Füßen ein wahres Felstrümmer-Chaos lag und 
ſich jenſeits deſſelben eine breite Felswand ſteil emporbaute. 
Unſtreitig war dies der wildeſte Theil der Mammuthhöhle, 
den ich bis jetzt geſehen hatte. 

Nochmals eine Kletterübung und wir erreichten in der 
linker Hand liegenden Halle den Rand eines 175 Fuß 
tiefen und 20 Fuß weiten Schlundes, welcher den höchſt 
unpaſſenden Namen „der Maelſtrom“ führt, und in den 
ein kleiner Waſſerfall hinabſtürzte. Wir befanden uns hier 
am Ende der Mammuthhöhle, volle neun engliſche 
Meilen vom Eingang. Wenn ich von einem Ende der 
Höhle ſpreche, ſo iſt damit der Punkt gemeint, bis wohin 
ein gewöhnliches Menſchenkind gelangen kann. Ein Blick 
in die grauſige Tiefe des „Maelſtromes“, den Abraham 
mit einigen brennenden Papierblättern erleuchtete, belehrte 
uns, daß von einem wirklichen Ende der Rieſenhöhle auch 
dort nicht die Rede ſein konnte, denn am Boden des Ab— 
grundes öffneten ſich wieder drei ſchwarzaufgähnende Gänge. 
Vor einigen Jahren wurde der Verſuch gemacht, dieſelben 
zu erforſchen. Ein Wagehals ließ ſich an einem Strick 
hinunter und drang eine Strecke weit in zwei Gänge vor; 
aber ein Ende derſelben fand er nicht. Als man ihn 
wieder heraufzog und er in halber Höhe vom Boden 
ſchwebte, entzündete ſich das Tau, waran er hing, durch 
Reiben an einem vorſpringenden Felſen; doch wurde das 
Feuer glücklich gelöſcht, ehe der Strick durchgebrannt war. 
Der bekannte Schriftſteller Prentice aus Louisville war 
der Mann, welcher jenes haarſträubende Abenteuer beſtand. 
Er meißelte ſeinen Namen in einen Felſen am Boden des 
Abgrundes. Ein Engländer und ein Amerikaner haben 
ſpäter nochmals dieſe intereſſante Tour gemacht. 

Langſam wanderten wir jetzt auf demſelben Wege, den 
wir gekommen waren, zurück nach dem Ausgange der Höhle. 


437 


Im Felſenpaſſe El Ghor blieb ich, als ich längere Zeit 
Höhlenheuſchrecken inſpicirte, unvorſichtiger Weiſe hinter 
der Geſellſchaft zurück, verlor dieſelbe aus den Augen und 
befand mich bis zum Echofluß ganz allein. Den Weg 
dorthin verfehlte ich zwar nicht, aber der Marſch ganz 
allein durch die finſteren gewaltigen Gänge war nichts 
weniger als angenehm. Wenn ſonſt Mehrere von uns 
beiſammen gingen, ſo ließen ſich die Umgebungen bei dem 
vereinten Lichte von einem halben Dutzend und mehr Lampen 
recht gut erkennen; aber ein einzelnes Licht machte dieſes 
faſt unmöglich, und ich mußte mich vorſehen, nicht jeden 
Augenblick zu ſtolpern oder gegen Felſen anzuſtoßen. Ich 
ging im Mittelpunkte eines kleinen Lichtſchimmers, um mich 
pechſchwarze Nacht. Wie Geiſtererſcheinungen traten mir 
hier und da die Felſen entgegen und verſchwanden ebenſo 
ſchnell wieder in der undurchdringlichen Finſterniß. Der 
Gedanke, daß ich in der Höhle zurückgelaſſen werden und 
gar meine Lampe erlöſchen könnte, beunruhigte mich während 
dieſes Ganges. Eben ſtellte ich nichts weniger als heitere 
Betrachtungen über die Art und Weiſe an, wie ich mich 
wohl zu verhalten hätte, wenn Abraham mit dem Fährboot 
bereits vom Echofluß, ehe ich dieſen erreichen könnte, fort 
ſei, — als ich zu meiner Beruhigung die Reiſegeſellſchaft 
dort wieder einholte. Als wir am hohen Nachmittage, 
nach einem Marſche von mehr als achtzehn engliſche 
Meilen unter der Erde, aus der kühlen Höhle wieder in's 
Freie traten, machte der plötzliche Temperaturwechſel von 
etwa dreißig Grad Fahrenheit einen Eindruck auf das 
Nervenſyſtem, als wehe uns eine wahre Backofenhitze ent— 
gegen. Der kurze Gang nach dem Gaſthauſe badete uns 
förmlich in Schweiß. | 

Mit einem Ausfluge nach dem berühmten Mammuth- 
dome, wohin ich mich am nächſten Morgen in Be— 


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gleitung des amerikaniſchen Profeſſors aus Louisville be- 
gab, fanden meine Streifzüge in der Mammuthhöhle ihren 
Abſchluß. Nachdem uns Abraham zuerſt durch die eine 
Meile lange, direct unter den „gothiſchen Arcaden“ liegende 
prächtige „Penſacola Avenue“, in welcher die Felswände 
ſtellenweiſe ſechzig Fuß hoch ſind und dann wieder die 
Decke auf langen Strecken in einer Breite von hundert 
Fuß wagerecht nur acht Fuß über dem Boden liegt, ge— 
führt hatte, wanderten wir über den „bodenloſen Abgrund“ 
und durch den „Jammer des fetten Mannes“ nach der 
„Schinkenkammer“, deren Tropfſteingebilde genau ſo aus— 
ſahen, als ob etliche tauſend weſtphäliſche Schinken dort 
hingen. Dann gelangten wir in den „Banditenſaal“, eine 
urwilde Felſenhalle, gewiß ein idylliſches Plätzchen für 
Straßenräuber, die ſich's dort auf den Felsblöcken bequem 
machen, und vor der Polizei ſicher, in der Tiefe der Erde 
Trinkgelage abhalten könnten. Durch einen mit wüſten 
Steintrümmern überſäeten und unangenehm niedrigen 
Felſengang, in welchem wir uns eine volle Meile weit 
tief gebückt fortbewegen mußten erreichten wir endlich den 
Abhang vor dem Mammuthdom. 

Vorſichtig ſtiegen wir auf einer vierzig Fuß langen 
ſchlüpfrigen Leiter hinab in die gewaltige Höhle, welche 
Abraham mit einem Aufwande von brennenden Eiſenbahn— 
annoncen vergeblich ganz zu erleuchten ſich bemühte. Man 
denke ſich ein Gewölbe tief unter der Erde, worin der 
Mittelbau des Capitols zu Waſhington bequem ſtehen 
könnte, und man wird einen Begriff von der Rieſenhöhle, 
deren Höhe über 250 Fuß beträgt, erhalten. Das 
Geſtein hatte ein röthliches Ausſehen, und Waſſer tropfte 
und rieſelte unaufhörlich an den Felswänden herunter. 
Noch betrachteten der Profeſſor und ich mit Staunen 
die koloſſalen Raumverhältniſſe jenes größten natürlichen 


439 


Gewölbes in der Welt, als Abraham uns zum Weiter— 
gehen ermahnte. Er ſchien wenig Luſt zu haben, hier 
länger als nöthig war zu verweilen, weil nach dem Ur— 
theil von Sachverſtändigen, wie er uns anvertraute, der 
Einſturz der ſich beſtändig vergrößernden Felskuppel nächſtens 
ſtattfinden könne; eine recht pikante Bemerkung, die, ich 
geſtehe es, meine Bewunderung über den romantiſchen 
Dom ſehr verringerte. 

Am Fuße eines von herabrieſelndem Waſſer ſchlüpfrigen 
und wie ein Kirchendach ſteilen Abhanges im Dome machten 
wir Halt. Dieſen ſollten wir hinaufſteigen, was ſich leichter 
ſagen, als thun ließ; denn von einem Pfade war keine 
Spur zu ſehen. Im Halbdunkel folgten wir dem Führer, 
indem wir uns an Felsſplittern, die oft unter unſern 
Händen losbröckelten, anklammerten, bis wir die fatale 
Höhe glücklich erklommen hatten. Hier ſtanden wir vor 
den ſogenannten „Korinthiſchen Säulen“, welche fünf an 
der Zahl aus einer röthlichen Felswand in plaſtiſchen Um— 
riſſen hervortraten, ihre an achtzig Fuß hohen Schäfte ſo— 
wie Kapitäler ſo natürlich, als wären ſie von Menſchen— 
händen geformt. Eine halbrunde, über hundert Fuß hohe 
Niſche befand ſich nicht weit von den Säulen. Alles dieſes 
war zweifelsohne ſehenswerth, als wir aber den Abhang 
hinunter klettern ſollten, verwünſchte ich dennoch die Ko— 
rinthiſchen Säulen und den ganzen Mammuthdom. Abra— 
ham eruuthigte uns, ich befahl dem Herrgott meine Knochen 
und abwärts ging's in die finſtere Tiefe. Nur mit größter 
Mühe vermochten wir beim Hinunterſteigen das Ausglitſchen 
zu vermeiden, und konnten oft minutenlang nirgends einen 
Anhalt finden. Langſam hinabrutſchend, erfaßten wir mit 
der einen Hand die feuchten Felsſplitter und mußten dabei 
in der andern Lampe und Spazierſtock halten, — eine ge— 
fährliche Turnübung! Endlich langten wir glücklich wieder 


440 


unten an und beeilten uns, aus dem romantiſchen Dom 
herauszukommen. Als wir auf dem Rückmarſche aus der 
Höhle durch die gewaltigen Räume der „großen Avenue“ 
ſchritten, erſcholl das Lachen von Kinderſtimmen und Knaben— 
geſang aus weiter Ferne uns entgegen, und bald darauf 
blitzte eine lange Reihe von Lichtern durch das Dunkel. 
Es machte dies einen ganz eigenthümlichen Eindruck, wie 
wenn eine Schaar luſtiger Gnomen uns in dieſen rieſigen 
unterirdiſchen Hallen begrüßen wollte. Die Geſellſchaft 
beſtand aus Knaben und Mädchen mit ihrem Lehrer aus 
Louisville, welche die Mammuthhöhle in Augenſchein nahmen. 

Am Nachmittage des dritten Tages meines Beſuches 
nahm ich Abſchied von der gewaltigen Höhle, in welcher 
ich im Ganzen gegen funfzig engliſche Meilen umhergeſtreift 
war. Bald hatte ich die Eiſenbahn wieder erreicht und 
ſpannte den eiſernen Rappen, der mich meiner fernen Hei- 
math im Goldlande zuführen ſollte, in's Geſchirr. Den 
grünen Wäldern von Kentucky Lebewohl ſagend und den 
Geiſt voll von den märchenhaften Naturwundern der 
Rieſenhöhle nahm ich meine unterbrochene 4000 Meilen— 
Reiſe wieder auf und raſtete nicht eher, bis die weiten 
Fluthen der Bai von San Franzisco mich auf's Neue 
begrüßten. 


Druck von Guſtav Eſch in Altona. 


Alelpha, Gedichte der Brüder Chriſtian und Theodor 
Kirchhoff. Altona. San Francisco. Erſter Band: Die Bofe 
vom Rhein. Magnolien vom Miſſiſſippi. Zweiter Band: Eider 
und Rhein. Bilder aus beiden Hemiſphären. — Neue unver— 
änderte Ausgabe. Altona 1872. Carl Theod. Schlüter. In 
New-⸗York bei E. Steiger, in San Francisco bei J. B. Golly zu 
haben. Preis A Band: gebunden 4 M., brochirt 3 N. 


Blätter für literariſche Unterhaltung 1874, Nr. 6. 


Mit dem Dichten iſt es doch eine eigene Sache. Die Muſe verleiht nun eben 
nicht jedem den bewußten Schleier, der aus „Morgenduft und Sonnenklarheit“ 
gewebt iſt. Und mancher, der dieſes köſtliche Geſchenk empfangen hat, weiß es nicht 
zu gebrauchen: anſtatt den Schleier über die Wirklichkeit auszubreiten, hält er ihn 
dicht vor ſeine Augen und ſieht in Folge deſſen alles in einen poetiſchen Nebel ge— 
hüllt. Es iſt deshalb nicht zu verwundern, daß man ſich wie in eine andere Welt 
verſetzt fühlt, wenn man einem echten Sänger begegnet, oder gar einem Sängerpaar, 
wie es die Gebrüder Kirchhoff ſind. Da lauſcht man jeder Strophe und möchte 
kein Wort verlieren: 

Wir ſpannten den eiſernen Rappen vor, 

Auf Flügeln des Dampfes zu jagen, 
Zweitauſend Meilen, vom Goldenen Thor 
Zum Miſſouri, im glänzenden Wagen; 

Hoch unter den Wolken, im donnernden Zug, 
Durch endloſe Wüſten, im ſauſenden Flug — 
In vier gemeſſenen Tagen. 

Wir ſehen den Hotelzug auf der Pacifiebahn an uns vorüberrollen. Jede Zeile 

athmet Friſche und echte Poeſie: 
Ade, du herrliche grünende Flur, 
Ade, ihr Frühlingsgefilde! 
Dich, Goldland, ſchmückte Mutter Natur 
Zu paradieſiſchem Bilde! 
Der Himmel, ſo tief, mit klarſtem Blau, 
Die Lüfte im Winter ſommerlau, 
Wie im Tropenlande ſo milde! 

Es iſt bekannt, daß die Gedichte der beiden Brüder Chriſtian und Shehbor 
Kirchhoff unter dem Titel „Adelpha“ erſchienen find. Der erſte Band erregte 
bei ſeinem Erſcheinen ſofort Aufſehen. Jetzt liegt auch der zweite vor uns und 
bietet eine noch größere Auswahl vortrefflicher Gedichte als der erſte. Diesmal 
erhalten wir auch eine reiche Ausleſe von Vaterlandsliedern, die ſich durch kernige 
Sprache und tiefgefühlten Patriotismus auszeichnen. Sie ſind größtentheils von 
Chriſtian Kirchhoff gedichtet. Sie behandeln Schleswig-Holſteins Erhebung und 
Befreiung. Als ein den beiden Brüdern gemeinſames Theilſtück der Sammlung 


— — 


„ — . . — Be en ME. ee ME. 


müſſen die Soldatenlieder gelten, die unter dem Titel: „Der Krieger und ſein 
Mädchen“, die Freuden und Leiden des Soldatenlebens ſchildern. Wie ſchön klagt 
das Mädchen um ihren Geliebten, der in den Krieg gezogen iſt: 


Und die Welt ſo köſtlich, Wenn die bleir'ne Kugel 
Und die Welt ſo ſchön! i Ihm die Bruſt durchſchlägt, 
Und mein Herz ſo traurig! Sind es zwei, die einſam 
Muß alleine gehn. Man zu Grabe trägt. 
Auf die ſtillen Berge Wahrlich, zu beneiden 
Treibt mich's, durch die Flur, Iſt der Männer Loos: 
Auf die alten Burgen, Siegend heimzukehren 
Durch die Waldnatur. | In der Liebe Schoos; 
Ob er froh und wohl iſt? Oder leicht zu ſterben 
Ob verwundet, krank! Schnellen Schlachtentod. 
Nicht den Hügel wüßt' ich, Unſer ſind die Thränen 
Wenn ins Grab er ſank! Und die lange Noth. 


Und die Welt ſo köſtlich! 
Und die Welt ſo ſchön! 
Und mein Herz ſo traurig! 
Muß alleine ſtehn. 

Die Abtheilung enthält 24 ſchöne Lieder. 

Die ganze Gedichtſammlung muß überhaupt für eine poetiſche Gabe von ſeltener 
Reichhaltigkeit angeſehen werden. Sämmtliche Poeſien des Brüderpaars empfangen 
ihre Anmuth und ihren Schwung aus dem lebenskräftigen Boden der Wirklichkeit. 
Das macht ſie ſo anziehend, wie alles, was den Stempel der Naturwahrheit trägt. 
Ein aufmerkſamer Leſer kann in den Gedichten den individuellen Lebenslauf jedes 
der beiden Brüder wiedererkennen. 

Die landſchaftlichen Schilderungen aus der Neuen Welt von Theodor Kirchhoff 
ſind mit wahrhaft hinreißendem Schwung der Sprache geſchrieben. Es ſind Ge— 
mälde, die mit wenigen Strichen das Weſentliche ſkizziren und das übrige der 
Phantaſie zum Hinzudenken überlaſſen. Der Dichter weiß uns die Schönheiten 
des Yankeelandes zu erſchließen und einen eigenthümlich romantiſchen Farbenton 
über ſeine Schilderungen zu verbreiten. Man höre die Beſchreibung eines Urwaldes: 

Von den düſteren Moräſten 

Längs dem tückiſchen Yazoo, 

Wo ſich an Cypreſſenäſten 

Wiegt das Cherokee-Cande — 

Bis zum Miſſiſſippiſtrande, 

Wo ſich waldbedeckte Lande 

Wie ein endlos hoher Wall 
Spiegeln ſchwarz im Fluthenſchwall: 


Dort erſtreckt ſich hundert Meilen 
Modervoll ein Rieſenſumpf. 


Mammuthbäume, noch von Beilen 

Nie entweiht, ſtehn dicht und dumpf. 
Träge Schlammgewäſſer fließen 

Durch das Sumpfland; breit aufſprießen 
Gelbe Blumen. Weit herum, 

Liegt der Urwald, kühl und ſtumm. 


Durch der Waldeyklopen Gipfel 
Dringt der Mittagsſonne Gluth; 
Schweigſam ſtehn die hohen Wipfel 
Und die Thierwelt ſchläft und ruht. 
An den knorr'gen Aeſten ſchwanken 
Dichtverſchlung'ne Epheuranken, 
Ungeheuern Schlangen gleich 

Aus der Vorwelt Fabelreich. 


Von den Zweigen hängt herunter 
Langes Moos, wie zott'ges Haar, 
Und auf grünem Raſen drunter 
Spielt die muntre Eichhornſchaar. 
Plötzlich jagen all' im Sprunge 
Hoch hinan mit leichtem Schwunge, 
Von entferntem Knall erſchreckt, 
Der des Waldes Echo weckt. 

Nun folgt in den weitern Strophen eine Beſchreibung der Thierwelt des Urwaldes 
in größter Ausführlichkeit. Schlangen, Spinnen, Skorpione, Eidechſen, Mosquitos, 
Kolibris, Eichhörnchen und Waſchbäre — jedes bekommt den ihm gemäßen Platz 
im Naturhaushalte des ungeheuren Waldes angewieſen. Dann folgt die Schilderung 
eines Orkans: 

Plötzlich regen ſich die Gipfel 
Rieſ'ger Bäume wie zum Tanz, 
Und die dichtbelaubten Wipfel 
Drehen ſich im Wirbelkranz. 
Wie ein Donnerkeil von oben 
Stürzt ſich des Orkanes Toben, 
Jäh, mit ſchmetternder Gewalt 
Nieder auf den weiten Wald. 


Hundert rothe Blitze ſprühen 
Durch die Lüfte auf einmal — 
Leuchten, ziſchen, zucken, glühen, 
Wie durchwühlt von Höllenqual 
Scheint die Erde ſelbſt zu wanken. 


Hundertjähr'ge Bäume ſchwanken 
Zittern leicht wie Espenlaub, 
Dicht umhüllt von ſchwarzem Staub. 

Wir ſehen das Schauſpiel greifbar vor unſern Augen. In derartigen Beſchreibungen 
iſt Theodor Kirchhoff ein ebenbürtiger Rivale Freiligrath's. Ein wahrhaft groß 
artiges Gemälde entrollt uns der Dichter in ſeiner Schilderung des ſchrecklichen 
Brandunglücks, welches den Dampfer Golden-Gate auf offener See betraf und den 
Untergang deſſelben zur Folge hatte. 

Die „Adelpha“ beweiſen, daß es immer noch Poeſie gibt, und daß Eiſenbahnen 
und Telegraphen, Walzwerke und Spinnereien, Aetiengeſellſchaften und Verſicherungs— 
bureaur nicht im Stande ſind, die ganze Welt in proſaiſche Nüchternheit zu verſenken. 

O. Zachariä. 


r ca * * * * 1 
Die Blätter für literariſche Unterhaltung 1870, Nr. 44 
ſagen über die Gedichte Theodor Kirchhoff's: 

Dieſelben bekunden ſogar mitunter, namentlich da, wo ſie die Schranken eines 
ſubjectiven Gefühlslebens durchbrechen und Welt und Zeit in ihren Kreis ziehen, 
einen gewiſſen großen Zug, etwas Fernblickendes, etwas Culturhiſtoriſch-Grandioſes, 
wie die ſehr klangvollen und inhaltſchweren „Terzinen“ aus Italien und das 
„Miſſiſſippiꝙ-Panorama“ beweiſen. Der Verfaſſer iſt ein vielgereiſ'ter Mann, der es 
verſteht, die Völker mit ihren Sitten und die weite Welt mit ihren wechſelnden 
Naturſcenerien in ſeinen Poeſien wiederzuſpiegeln. Dem „Stillen Meere“ widmet 
der Dichter die folgenden anapäſtiſchen Strophen: 

Willkommen! du herrliches Stilles Meer 
von tropiſcher Fülle umgeben, 

Wo die ſchwellenden Waſſer im Sonnenglanz 
wie Wonne athmend ſich heben, 

Wo klar ſich ſpiegelt der Berge Kranz, 
im Schooße der Azurwogen, 

Und dunkelblau darüber ſich wölbt 
des ſüdlichen Himmels Bogen. 


Willkommen, du Golf von Panama, 
mit den Inſeln voll duftender Wälder, 
Wo am Fuße der grünenden Hügel ſtehn 
die rauſchenden Zuckerrohrfelder; 
Mit den alten Gemäuern ſo traulich dort 
im Schatten der Cocosbäume, 
Wo die ſäuſelnden Winde melodiſch wehn 
wie im Zauberlande der Träume. 


Einſt ſah dich ſtaunend, ein neues Meer, 
der tropiſchen Urwelt Spiegel, 

Der Spanier, blinkend im Panzerkleid, 
von des Iſthmus ſchwellendem Hügel. 


Nach Golde ſuchend irrte er weit, 

gen Weſten, gen Weſten immer; 
Auch mich verlockte vom Vaterland 

des Weſtlands goldener Schimmer. 


Ihr blanken Gewäſſer, tragt mich ſacht 
vom palmenumgürteten Strande, 

Von Neu-Granada's bläulichem Golf 
zum californiſchen Lande; 

Wo der Waldſtrom rauſcht auf goldenem Sand 
über funkelnde Felſenquadern, 

Und die Felswand blitzt, wie edles Geſtein, 
durchflochten von leuchtenden Adern. - 


Aber die Sehnſucht nach der Heimath iſt mächtiger als der Reiz der Tropen, und 
das Gedicht klingt mit folgenden elegiſchen Verſen ſchön aus: 


Hinüber, hinüber zieht es mich 
zur Heimath aus ferneſten Weiten! 
Nicht feſſeln der Südſee Zauber mich 
und die Himmel tropiſcher Breiten. 
Ihr duftenden Wälder lauſchtet nie 
der Nachtigall Trilleraccorden, 
Und grüner, als Palmen von Panama, 
ſind die Buchenhaine im Norden. 


Neben dieſen im Freskenſtil gehaltenen Gedichten finden ſich bei Theodor Kirchhoff 
einfache Lieder voll Gemüth und Innigkeit, wie z. B. „Der lieben Mutter ſtilles 
Grab“, welches unwiderſtehlich das Herz gewinnt, weil es aus dem Herzen ſtammt. 
Wir begrüßen den Verfaſſer als ein reſpectables Talent. 


Magazin für die Literatur des Auslandes, 
Ar a1: 18,1: 


Man kann ſich, in einem Bande vereint, kaum etwas Verſchiedenartigeres denken, 
als dieſe Gedichte zweier Brüder. Beide ſind bis zu einem gewiſſen Grade Meiſter 
der Form und gehen in räealiſtiſcher Richtung. Aber ſchon in der Bezeichnung, die 
ſie den Hauptabtheilungen ihrer Gedichte gegeben haben, iſt der Unterſchied angezeigt. 
Hier der Rhein, dort der Miſſiſſippi. Daher bei Chriſtian Kirchhoff, welchen die 
Roſe am Rhein begeiſterte, eine tief innere Bewegung, welche durch eine glückliche 
normal deutſch ſich darſtellende Liebe hervorgerufen wurde, und ſelbſt in der Ab— 
theilung „Leben“ eine reflectirende Beſchaulichkeit, die auch da, wo ſie eine epi— 
grammatiſche Schärfe annimmt, ihren tiefgemüthlichen Charakter nicht verläugnet 
— bei Theodor Kirchhoff dagegen, den Amerika anzog, in jedem Verſe ein Wellen— 
ſchlag, der ungeſtüm hinaus in das wildbewegte Leben treibt, nach Befriedigung 
der Wanderluſt aber ſanft in das trauliche deutſche Bruderhaus zurückführt. 
Chriſtian K. liebt es, in der Stille der Nacht die Fülle ſeiner Gedanken auszu— 
ſtrömen — Theodor K. aber gewinnt der in vollem Sonnenlichte ſtrahlenden Natur 


6 


dem Weltverfehre ſeine großgezeichneten Bilder ab, und er beweiſt, daß ſich die 
Poeſie recht gut mit den rußigen Schornſteinen der Dampfſchiffe, mit dem gellenden 
Pfiff der Locomotive und ſonſtigen anſcheinend poeſiewidrigen Erſcheinungen der 
Neuzeit zu befreunden vermag. Chriſtian K. preiſ't die Harmonie, Theodor K. er— 
faßt die Gegenſätze in der Natur. Und ſo ergänzen ſich Beide gegenſeitig, indem 
ſie vereint uns die Mannichfaltigkeit im deutſchen Dichterwalde vor die Augen und 
zu Herzen führen. G. H. 


Magazin für die Literatur des Auslandes 
Nr. 5. 1872. 


Ueber die Dichtungsweiſe dieſer beiden begabten Brüder haben wir uns bei 
Gelegenheit des erſten Bändchens ihrer Gedichte ausgeſprochen. Wir freuen uns 
das günftige Urtheil von damals auch über den reichen Inhalt des zweiten Bandes 
fällen zu können. Natürlich hat der Sturm der großen Zeit, die wir durchleben, 
auch die Saiten in der beiden Brüder Leyer berührt, und mit kräftigem lange 
hallt in ihnen die begeiſterte Vaterlandsliebe wieder. Es iſt ganz dankenswerth, 
jetzt, wo alle Welt die Erfüllung der Kyffhäuſerſage beſingt, in Liedern auf den 
Anfang des gewaltigen Ringens um die deutſche Einheit zurückzuweiſen: die Kämpfe 
in Schleswig-Holſtein, ſie verdienen die poetiſchen Blätter, welche Chriſtian K. als 
ahnender Zuſchauer, Theodor als Mitkämpfer ihnen geweiht hat. Mit dieſen Poeſien 
bilden die aus der Fülle des Herzens gedrungenen Verſe aus den Jahren 187071 
einen prächtigen Kranz von Zeitgedichten. Zum Theil haben ſie in San Francisco 
das Licht der Welt erblickt, wo Theodor dem Enthuſiasmus der Deutſch-Amerikaner 
über Deutſchlands Erhebung zündende Worte verlieh. — Wenn ſodann Theodor in 
ſeinen Gedichten „Bilder aus beiden Hemiſphären“ getreu dem Motto: „Kreuz und 
quer — Ueber Land und Meer“ Amerika und Europa al fresco malt, ſo kann 
er doch in Amerika den Europäer und dann in Europa den Amerikaner nicht ver— 
läugnen. Wir geſtehen, ſeine glänzenden, farbenreichen Bilder aus Amerika bei 
weitem vorzuziehen; ſein Pinſel iſt da von kräftiger, oft ergreifender Wirkung. 
Aber wir warnen ihn freundſchaftlichſt, den Heine'ſchen Ton anzuſchlagen; den 
originellen Inhalt mag auch die originelle Form umſchließen. G. H. 


Europa, 1872, Nr. 52. 


In dieſen Gedichten vereinigen zwei Brüder ihre poetiſchen Gaben, Brüder von 
ganz verſchiedener Geiſtesart und Gemüthsſtimmung; der eine, Chriſtian, iſt eine 
mehr innerliche, tief bewegte und feinfühlende Natur, der andere, Theodor, ein ſich 
mit Wohlbehagen in den Wogen des Lebens badender, thatenluſtiger und jugend— 
friſcher Geſelle. Dieſem Unterſchiede Beider gemäß und auf Grund ihrer verſchie— 
denen Lebensſtellung — Chriſtian lebt in Altona, Theodor in San Francisco — tragen 
die Poeſien des Einen einen mehr contemplativen, reflectirenden Charakter, während 
die des Andern eine glückliche Naturanſchauung und große Plaſtik der Darſtellung 
documentiren. Deutſches und Amerikaniſches Leben reicht ſich in dieſen Gedichten 
der beiden Brüder die Hand, — und da iſt es denn wieder für Chriſtian, den Res 
präſentanten Deutſcher Gemüthsinnigkeit, bezeichnend, daß wir in ſeinen Gedichten 
mehr den weichen Ton der Beſchaulichkeit angeſchlagen finden, für Theodor, den 
Amerikaniſchen Bürger mit Deutſchem Herzen, aber charakteriſtiſch, daß er uns weite 
Perſpectiven eröffnet in das farbenreiche Leben der transatlantiſchen Welt. Dieſe 
Tropen- und Oceangemälde Theodor's halten wir für die bedeutendſten Piecen des 
Buches. Die öden Einſamkeiten der Prairie, die üppige Vegetation des Urwaldes, 


— — — 


die Schrecken des fürchterlichen Hurrikan, jenes Alles vernichtenden Sturmes, die 
Sommernächte im wildromantiſchen Plutonthale, — das Alles lebt und athmet in 
den Liedern Theodor Kirchhoff's. Daneben iſt das geſellſchaftliche Leben Amerikas 
durch mehrere Gedichte glücklich zur Erſcheinung gebracht, und neben den im Fresco— 
ſtil breit und impoſant ausgeführten transatlantiſchen Landſchaftsgemälden finden 
ſich Gedichte, welche intereſſante Erlebniſſe und Ereigniſſe anſchaulich ſchildern. 
Weniger Farbe, als die Amerikaniſchen Poeſien, haben die Europa repräſentirenden 
Gedichte, die Schweizerbilder, das Gondellied und das Edinburgh gewidmete Gedicht, 
obwohl das letztgenannte einen faſt Platen'ſchen Schwung hat. Der Liedercyklus: 
„Der Krieger und ſein Mädchen,“ welcher beide Brüder zu Verfaſſern hat, ſpricht 
durch Wärme der Empfindung und lebhaften Fortgang der anmuthigen Handlung 
an. Aecht dichteriſches Feuer haben die von einer edlen Geſinnung getragenen pa— 
triotiſchen Gedichte, welche ebenfalls von beiden Brüdern ſtammen und namentlich 
Schleswig-Holſteins Erhebung und Befreiung in oft monumentalen Verſen feiern. 
Dieſer zweite Band der „Adelpha“ ſchließt ſich ſomit dem erſten würdig an und 
legt aufs Neue Zeugniß ab für die hübſche poetiſche Begabung der Brüder Chriſtian 
und Theodor Kirchhoff. 


Im neuen Reich, 1873, Nr. 14. 


Es iſt bekannt, daß unſere Landsleute in der Fremde, beſonders in Amerika 
die Bedeutung der letzten politiſchen Umwälzung früher erkannt und die erſten 
Erfolge Preußens freudiger begrüßt haben, als Viele in Deutſchland, und der 
Grund davon liegt auf der Hand: in der Entfernung verſchwinden die Grenzen 
der Territorien und der Parteien und man ſieht allein auf's große Ganze, dazu 
waren Jene ſozuſagen in freier Luft, nicht umnebelt durch die Wolken von Miß— 
verſtändniß, Aerger und Verbitterung, welche bei uns auch das Gewitter von 
Königgrätz noch nicht zerſtreuen konnte. Einen Beleg dafür bieten die Gedichte des 
Californiers Theodor Kirchhoff. In treuer Liebe gedenkt er des ſchwarz-roth-goldnen 
Banners, unter dem er einſt gegen Dänemark gekämpft hat, aber rückhaltslos jubelt 
er dem neuen Tage entgegen, welcher über den Schlachtfeldern Böhmens auf— 
gegangen iſt: 

„Die alten Farben fielen — 
Wohlan, ſo hängt ſie auf 

In des Kyffhäuſer's Grabe! 
Doch von dem höchſten Knauf 
Der deutſchen Dome alle 

Laßt weh'n im Morgenroth, 
Germanias neue Farben, 

Die Banner ſchwarz-weiß-roth!“ 


So ſpricht er 1867 und im folgenden Jahre: 


„Ich glaube, lebt' der alte Fritz * 
Und hielt das Scepter feſt, — Bot Blitz! 
Ich glaub', er ſetzt' die Kaiſerkron', 

Die deutſche, auf und rief' vom Thron: 
Ich Fritz bin deutſcher Kaiſer! 


Und all' die Kleinen rings im Land 
Vom Niemen her bis nach Brabant, 
Von Schleswig-Holſtein bis Tyrol, 
Die würden rufen jubelvoll: 

Es lebe Fritz der Kaiſer!“ 


Daß er den Krieg gegen Frankreich und ſeine Folgen mit überſchwänglicher 
Freude feiert, verſteht ſich von ſelbſt, und es iſt eine Luſt zu ſehen, wie dieſer 
wackere Patriot unter den ſpeculirenden Yankee's die Geſchicke ſeines Vaterlandes 
ſorgend und jubelnd miterlebt. Echt deutſch iſt auch der offene Dichterſinn, mit 
welchem er die Erinnerungen an die alte Heimath bewahrt, während er zugleich 
ſich in die wunderbaren Landſchaften des fremden Erdtheils liebevoll verſenkt und 
die Prairie wie den Urwald, Californiens Berge und die Südſee in glänzenden 
Bildern zu ſchildern weiß. Die Verſe ſind klangvoll und fließend; zuweilen iſt wohl 
etwas zu breit gemalt, wie z. B. die Gedichte „die Prairie“ und „der Urwald“ 
durch Kürzung gewinnen würden. Manches iſt auch ganz unbedeutend und im 
Einzelnen vermißt man, namentlich im Ausdruck die feinere künſtleriſche Aus— 
arbeitung. Von größter Krafi und Wirkung iſt die Darſtellung in dem Gedichte 
„der Brand des Golddampfers Golden-Gate“, die Schilderung des brennenden 
Schiffes, welches mit vollſter Dampfkraft dem Strande zujagt. C. A. 


Itzehoer Nachrichten Ar. 147, 19. Debr. 1871. 


Auf den erſten Band der „Adelpha“ iſt ſchon früher auch in dieſem Blatte auf— 
merkſam gemacht; inzwiſchen iſt ein zweiter gefolgt, der daſſelbe Lob verdient, das 
den Verfaſſern vielfältig diesſeit und jenſeit des Oceans geſpendet iſt. Dazu iſt 
der Inhalt dieſes Bandes noch reichhaltiger. 

Die erſte Abtheilung enthält „Vaterlandslieder“, und zwar: „Erinnerungen an 
Schleswig-Holſteins Erhebung“, mit einem Widmungsliede an die Schleswig-Hol— 
ſteiniſchen Kampfgenoſſen, das mit der ſchönen Strophe ſchließt: 

„Dein Lied, o Schleswig⸗Holſtein, es war ein Weiheſang, 
Der wie ein Zauber glühend in alle Herzen drang! 

An Deinem Strande ward ſie geſä't die heil'ge Saat, 
Die jetzt in Deutſchland herrlich die Frucht getragen hat.“ 

Ich führe aus dieſem Abſchnitt nur an: „Eckernförde“ in 7 Liedern, „Kolding 
und Vandrup“, „Friedericia“ in 5 Liedern (IV. „Delius“, V. „Chriſtianſen“), 
„Miſſunde“. Sie ſind meiſtens von Theodor Kirchhoff. Die zweite, haupt— 
ſächlich Chriſtian angehörende Unterabtheilung: „Schleswig-Holſteins Befreiung“, 
enthält unter andern die vortrefflichen Lieder: „Der Eid“, „Der Einzug der Bundes— 
truppen in Altona“, das ausgezeichnete „Intermezzo im Hauſe“, „An Schles— 
wig“, „Ober-Selk“, „Oeverſee“, Schleswig-Holſteiniſches Fahnenlied“, „Unſere Todten“, 
„Alſen“. Die dritte Unterabtheilung: „Das Deutſche Reich“, iſt beſonders durch die 
Mittheilung derjenigen Lieder anziehend, die, von Theodor gedichtet, in öffent— 
licher Feier zu San Francisco während des großen Krieges und nach dem Friedens— 
ſchluß vorgetragen wurden. 

Auf dieſe erſte Abtheilung folgt eine zweite unter dem Titel: „Der Krieger und 
ſein Mädchen“, von beiden Brüdern in 24 zuſammenhangenden lebensvollen 
Bildern. 

Die dritte Abtheilung, ausſchließlich von Theodor, giebt außer 7 „Schweizer— 
bildern“ eine Reihe meiſt großartiger Gemälde aus Amerika, wie: „Die Prairie“, 
„Der Urwald“, „Im Hotelzug der Pacifiebahn“, „Die Mammuthhöhle in Kentucky“, 


„Der Brand des Golddampfers Golden-Gate“ u. j. w.; von andern Gedichten dieſer 
Abtheilung ſei endlich nur noch das eine „Las in einem Deutſchen Buche“, erwähnt, 
das ein liebliches Bild des elterlichen Hauſes darſtellt. 

In den angeſührten Gedichten ſoll ſich eben nur die Reichhaltigkeit und Mannich— 
faltigkeit des Inhalts der „Adelpha“ erweiſen; noch manches Lied, wie z. B. die 
Hymne am Schluſſe der erſten Abtheilung, könnte mit Lob genannt werden. Es 
ſcheint gerade in dieſem Zweige der höheren Lyrik, wie andererſeits in dem 
eigentlichen Liede, Chriſtian's Mufe noch einen hervorragenden Platz ein— 
nehmen zu können. r. 


Die Jahreszeiten, 1874, Seite 764. 


(H. Z.) Der erſte Band der Gedichte des reichbegabten Brüderpaares wurde von 
der Preſſe mit lebhaftem Beifall begrüßt, und wieſen mehrere Kritiken darauf hin, 
daß, wie verſchieden auch die Saiten der Leier geſtimmt, indem der eine der Sänger 
mehr aus dem tiefen, unerſchöpflichen Bronnen des Gemüths ſchöpfte, der andere 
dagegen in der lebhaften, farbenprächtigen Schilderung ferner Tropengegenden einen 
genialen Schwung offenbare, ſie ſich doch gegenſeitig ergänzten. Das deutſche Ge— 
müthsleben, das in der Heimath wurzelt und in unbegrenzte Fernen ſchweift, kehrt 
doch ſchließlich mit neuen Eindrücken und Bildern bereichert, zum Urquell zurück. — 

Der vor uns liegende ſtattliche Band zerfällt in die Hauptabtheilungen „Vater— 
landslieder“, „das deutſche Reich“, „der Krieger und ſein Mädchen“ und „Bilder 
aus beiden Hemiſphären“. Die Vaterlandslieder verſetzen uns in die ſturmbewegte 
Zeit der ſchleswig-holſteiniſchen Erhebung und Befreiung, und unter dieſen Gedichten 
befinden ſich viele von ſchneidigem Klang. Der Kampf bei Eckernförde, Kolding, 
Friedericia, Idſtedt u. ſ. w., wird ſchwungvoll geſchildert; ſind doch dieſe Kämpfe 
der deutſchen Nordmark als die Keime anzuſehen, welche den Baum der deutſchen 
Einheit der neueſten Zeit zu üppigſter Entfaltung brachten, und aus blutgedüngten 
Saaten das deutſche Reich erſtehen ließen. 

Zu den Gedichten dieſer Abtheilung trugen beide Brüder gemeinſchaftlich bei, 
und mag nachſtehend das Gedicht „Friedrichſtadt“ von Th. Kirchhoff, ſowie „die 
Befreiung der frieſiſchen Inſeln“ von Chriſtian K. hier mitgetheilt werden. 


Friedrichſtadt, 
Nacht 4. — 5. October 1850. 

Nach ſchweren Jahren, Schlacht auf Schlacht, 

bald Sieg, bald bangem Leid, 
Verlaſſen von dem Vaterland 

in thränenſchwang'rer Zeit, 
Zurückgedrängt, doch nicht beſiegt, 

zur Eider, Schritt um Schritt — 
Das war der deutſchen Nordmark Heer, 

das für die Freiheit ſtritt. 6 


Zum letzten Male zogen wir 
zum Sturm auf Friedrichsſtadt. 
Die Nacht war ſchwarz und ſternenleer, 
die Heimath thränenſatt. 


PP 


10 


— — 


Noch einmal Schleswig-Holſteins Heer, 
noch einmal hoch das Schwert! 
Des freien Mannes freies Wort 
iſt Ströme Blutes werth! 


Der Bataillone Ehrenſchaar, 
zum Sturme auserwählt, 

Zog lautlos, in gedrängten Reih'n, 
durch's off'ne Wieſenfeld. 

Am Eiderdeiche wälzte ſich 
entlang die Heeresmacht. 

Wie rieſ'ge Anaconden, ſtumm 
durch die Octobernacht. 


Da plötzlich flammt es, donnert, kracht, 
als berſtet' ein Vulkan, — 
Musketenknattern, Hurrahruf 
ſteigt jauchzend himmelan; 
Granaten heulen, Kugeln ſchrein, 
Kartätſchen praſſeln wild, 
Und wie ein breiter Feuergurt 
ſprüht's rings am Schlachtgeſild. 


Hin auf die ſtarken Schanzen ſtürzt 
das Heer ſich, todtgeweiht; 

Umſonſt! — ob's raſch auf blut'gem Grund, 
auch Sturm auf Sturm erneut 

Auf ſchmalem Damme ohne Schutz, 
verzweifelt raſ't der Kampf; 

Umſonſt! — des Vaterlandes Stern 
erbleicht im Pulverdampf. 


Die Bomben ſchlagen in die Stadt. 
Der Lohe düſt'res Roth 
Malt rings die Himmel, überall 
entfeſſelt raſ't der Tod. 
Der Freiheit Scheiterhaufen flammt 
n blut'gen Sternendom, 
Und röthet — Deutſchland, wache auf! — 
den deutſchen Eiderſtrom. 


Da plötzlich ſchweigt der wilde Kampf, 
der Sturm und grauſ'ge Mord, 


71 


— — 


Und Todesſtille lagert nun 
am blut'gen Deiche dort. 

Das war von Schleswig-Holſteins Heer 
die letzte Freiheitsſchlacht: 

Des Sieges Hoffnung ſank dahin 
in jener Schreckensnacht. 


Die Befreiung der frieſiſchen Inſeln. 
12. — 19. Juli 1864. 


Wo giebt's wohl Reiter und Jäger noch mehr, 
Wie Oeſterreichs Jäger und Reiter? 

Sie ſtürmen ſogar die Inſeln im Meer; 

Das nenn' ich ſeltene Streiter. 

Wo die deutſchen Wogen vor Schleswig gehen, 
Ihr Frieſen des Meer's, ihr habt es geſehen, 
Wie kühn euch die Söhne der Berge befreit. 


Ganz Schleswig-Holſtein, weit und breit 

War voll von Jubel und Ehre. 

Wo den Gruß ein Meer dem anderen beut, 
Sich begränzen das Land und die Meere, 

In Jütlands Höh', auf dem ſandigen Skagen, 
Triumphirend dort hatten die Flügel geſchlagen 
Die Adler von Preußen und Oeſterreich. 


Die ihr ſchluget den erſten Schwertesſtreich, 

Jetzt ſchlagt auch den letzten des Krieges; 

Und ſchmückt euer Haupt mit dem Loorbeer zugleich 
Des erſten und letzten Sieges. 

An der Schlei, da jagtet ihr Dänemarks Löwen; 
Nun jagt von der See ſeine kreiſchenden Möven, 
Die geſchwinde, die beutegierige Schaar. 


Wie ſie kreiſchen und zittern vor'm deutſchen Aar! 
Da ſchreiten zu Fuß in die Wogen 

Vier kühne Boten; die Augen klar, 

Ob's ſtürmt an des Himmels Bogen. 

Den Schiffen wollen ſie Botſchaft bringen; 

Ob die Fluthen ſteigen, ſie nieder zu zwingen, 
Sie dringen hindurch mit feſtem Schritt. 


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Da ſpringt durch's Meer im ſchäumenden Ritt 
Der „Baſilisk“ mit dem „Blitze“, 

Und der „Seehund“ tummelt ſich luſtig mit, 
Und der „Wall“, der aus mächt'gem Geſchütze 
Im nordiſchen Meer ſprüht heiße Flammen, 
Daß ſcheu das Geflügel allzuſammen 

Zum Ufer ſich drängt vom feuchten Revier. 


Ihr Jäger, mit wehender Federn Zier, 

Wie jagt ihr auf wogenden Böten! 

Jäh ſtürzen die Vögel, bald dort, bald hier, 

Und flattern in Todesnöthen. 

Doch drüben am Strand ſchau'n hoffend und warten 
Die Töchter der Inſeln, ein Blumengarten, 

Für euch mit friſcher Liebe geſchmückt. 


Wie haben ſie euch an's Herz gedrückt! 

Das war der Frieſinnen Ehre. 

Wie ſprangt ihr Steiermärker entzückt 

Auf die ſandigen Dünen am Meere! 

Da habt ihr getanzt den Siegesreigen. 
Nicht Schleswig-Holſtein ſoll es verſchweigen, 
Wie Ihr ſeine letzte Scholle befreit. 


„O, freie Frieſen, der Knechtſchaft Leid 
Iſt vorüber und all ihr Jammer. 
Schlug euren eiſernen Haß ſtahlhart 
Der Tyrann mit geſchwungenem Hammer, 
Wir packten ihn feſt den „Hammer“ des Meeres. 
Ihr Männer der See, nun preiſet des Heeres 
Von Oeſterreichs Bergen ſtählerne Art.“ 
Aus der Abtheilung „Das deutſche Reich“ heben wir beſonders hervor die Ge— 
dichte: „Gruß an Deutſchland: 
„Wie iſt von hohem Siegesmuth 
Das deutſche Herz ſo voll“, 
ferner: „Germanias Gruß“, geſprochen von Ottilie Genée in Coſtüm, zur Eröffnung 
der von dem deutſch-patriotiſchen Frauenverein in San Francisco veranſtalteten 
Feier, 8.— 12. Septbr. 1870, zum Beſten der Verwundeten, Wittwen und Waiſen 
der im Kriege gefallenen Dentſchen, ſowie die Hymne von Chriſtian Kirchhoff: 
Ewig thront 
Das göttliche Weſen 
Das furchtbar heilige, 
Das lieblich ernſte. 


13 
Die Abtheilung „Der Krieger und ſein Mädchen“, iſt ein Cyclus von Gedichten, 
welche bald humoriſtiſch, bald ergreifend die Schickſale des Soldaten im Frieden 
und Felde, ſo wie Momente aus dem Soldatenleben in anziehender, wechſelnder 
Form ſchildern. 

Die letzte Abtheilung; „Bilder aus beiden Hemiſphären“, von Th. Kirchhoff, 
enthält manche werthvolle Perle, und ſind es beſonders die Schilderungen aus 
Amerika, die ſich unbedingten Beiſalls erfreuen werden, wie u. A. „Die Prairie“, 
„Der Urwald“, „Im Hotelzug auf der Pacifiebahn“, ferner die Terzinen „Die 
Mammuthhöhle in Kentucky“, Der Brand des Golddampfers „Golden-Gate“ u. A. 

Wir bedauern, das Gedicht „Die Prairie“ nicht vollſtändig mittheilen zu können, 
da es einen zu großen Raum in Anſpruch nehmen würde, doch mögen einige Verſe 
von der Meiſterſchaft des Verfaſſers iu ergreifender und zündender Schilderung 
Zeugniß ablegen. Die Prairie ſteht in Feuer; die Jäger werfen ſich auf ihre 
Pferde, und: 

Fort galopiren die Roſſe; 

es fliegen die Meilen zurück! 
Doch die ſengende Woge kommt näher 
und feſſelt mit Graun den Blick. 
Sie dehnt ſich zum fernſten Horizont, 
in unabſehbarer Länge, 
Und röthliche Wolken thronen darauf; 
hoch wälzt ſich heran das ſchauervolle Gepränge. 
3 { 


Unzählige Thiere, in Todesangſt, 
fliehn tobend im Sturmeslauf. 
Es ſtörte das feurige Element 
vom Fraß den Coyote auf; 
Raſch ſprengen die wilden Muſtangs vorbei, 
mit flatternden Mähnen und Schweifen; 
Wie die fleckigen Präriehühner 
mit lautem Geſchrei durch die Lüfte ſchwirren und pfeifen! 


Jetzt Füchſe und Antilopen, 
und Wölfe, mit ſträubendem Haar, 
Gefolgt mit donnerndem Toſen 
von zottiger Büffelſchaar. 
Von tauſend ſpitzigen Hörnern ſtarrt 
die drohende, brüllende Menge; 
Und die Erde bebt und zittert 
von tauſend ſtampfenden Hufen im dichten Gedränge. 


Die Roſſe jagen ſchaumbedeckt; 
und rings im bunten Gemiſch 
Der entſetzten Thiere toll Gewirr, 
und hinten der Flammen Geziſch. 


So ſtürzt durch die Nacht die wilde Jagd, 
beſchaut von den ſtillen Sternen: 
Bis im Oſten der Sonne Aug' erwacht, 
und ihr roſiger Finger malt die dämmernden Fernen, u. ſ. w. 


Sonntagsblatt des „Cincinnati Bolksfreund“, 
4. Februar 1872. 


Die beiden genialen Brüder haben die deutſche Literatur durch die Herausgabe 
des 2. Bandes der „Adelpha“, der wir ſchon lange mit Spannung entgegenſahen, 
um einen neuen Schatz bereichert. Während Chriſtian die innere Natur mit ihren 
feineren pſychologiſchen Zügen und ihrem tiefen Gemüthsleben malt, ſchildert 
Theodor die äußere in ihren lieblichen, wie wilden Scenerien mit unerreichbarer 
Treue. Wollte er ſich bemühen, die lebendige Schilderung mit dem epiſchen Ge— 
wande zu bekleiden, wie ihm dies ſo wundervoll in dem Gedichte: „Der Gold— 
mantel des Mount Davidſon“ gelungen, wo er ſie mit dem Schmuck der Sage 
umhüllt, ſo müßten wir ihm unſtreitig die Palme unter den deutſch-amerikani— 
ſchen Dichtern zuerkennen. Seine neue Heimath, das Land des Goldes und der 
Naturwunder, ſo groß und reich an erhabenen Scenerien, der Tummelplatz eines 
rieſenkräftigen, unternehmenden Volkes, bietet zahlreiche, gewaltige Stoffe dar, 
die unter ſeiner Bearbeitung eine neue Bahn in der Dichtkunſt brechen würden. 

Die Sammlung zerfällt in die Rubriken: Vaterlandslieder, Schleswig-Hol— 
ſtein, Das deutſche Reich, Der Krieger und ſein Mädchen, und Bilder aus beiden 
Hemiſphären. 

„Die Berechtigung,“ ſagt Chriſtian, „die Menge vaterländiſcher Gedichte, welche 
in dieſem Jahre erſchienen ſind, mit dieſer neuen Sammlung zu vermehren, ſuchen 
die Verfaſſer derſelben in dem Umſtande, daß dieſe Vaterlandslieder die Geſchichte 
der deutſchen Einheitsbewegung dem Auslande gegenüber von der Zeit der erſten 
ſchleswig-holſteiniſchen Erhebung an begleiten.“ 

In der That ſind die Lieder, nach dem Wunſche der Verfaſſer ein Sinnbild davon 
wie ſich die Stimmen aus zwei Welttheilen von diesſeits und jenſeits des Oceans 
in dem allgemeinen Chor vereinigen, der jetzt des neuen deutſchen Reiches Triumph 
ſingt. Zugleich beweiſen ſie, wie die beiden Brüder Meiſter der Form und einer 
edlen Sprache ſind. Laſſen wir hier ein paar Proben folgen. 


Der Goldmantel des Mount Davidſon. 
Von Theodor Kirchhoff. 

Und wieder trägt ſein Goldgewand 
Der König der Berge im Silherland! 
Sechs Jahre ſteht er im grauen Kleid, 
Sein ſtaubiges Haupt wie mit Aſche beſtreut; 
Dann liegen im feſten Schlafe die Zwerg' 
Auf ſilbernem Lager im tiefen Berg. 
Doch wenn der Lenz zum ſiebenten Mal 
Mit Blumen wandert durch Feld und Thal, 
Geht leiſes Geflüſter durch Bergesgrund, 
Und es ruft durch die Felſen mit Geiſtermund: 


Wacht auf, ihr Schläfer, der Lenz hat gebracht 
Dem König Nevada's die goldene Pracht! 


Da wird's lebendig tief unten dort; 
Die Zwerge erwachen und eilen fort, 


Hinauf durch die Hallen, die Gänge ſchnell — 
Wo die Felswand glimmert, von Silber hell, 


Und in Maſſen liegt das edle Geſtein 
Und blinkt bei der Ampeln zitterndem Schein. 


Sie ſteigen aus kalter Erde Schacht 
Hinauf, wo die warme Sonne lacht, 


Und begrüßen den Lenz, der in Jugendglanz 
Geſchmückt iſt mit leuchtendem Blumenkranz. 


Wie ein ſtrahlender Regen fallen licht 
Aus dem Kranze ihm goldige Blumen dicht; 


Die haſchen die Zwerge, geſchwind, geſchwind, 
Wie ſie glitzernd und prangend flattern im Wind, 
Und ſchmücken damit des Berges Höh'n, 

Wie mit goldenem Mantel, zaubriſch ſchön; — 


Und königlich trägt er ſein Goldgewand, 
Der reichſte der Berge im Silberland! 

Der 8500 Fuß hohe Mount Davidſon im Staate Nevada, in dem die reichſten 
Silberminen der Welt, die der Comſtock-Erzader, liegen, zeigt, wie alle Berge in 
jener Gegend, an ſeinen Abhängen nur eine äußerſt kümmerliche und halb ver— 
dorrte Vegetation, und gewährt einen traurigen Anblick. In jedem ſiebenten 
Frühling dagegen erblühen glänzende goldgelbe Blumen auf ihm in ſeltener 
Fülle, bedecken den ganzen Berg und geben ihm unter den umliegenden öden 
Hügeln und Gebirgskuppen alsdann ein gar prächtiges Ausſehen. Im Jahre 1871 
trug Mount Davidſon wieder ſeinen Goldmantel. 


SUUM CUIQUE. 


Von Chriſtian Kirchhoff. 
20. Februar 1864. 


* 
Wie heißt das Schwert, das nimmer zerbricht, 
Das ſtärker, als Stahl iſt und Eiſen? 


— 2 


Das Schwert, das heller ſtrahlt als das Licht, 


= 


16 


— — 


Und ſiegend ſich ſtets muß erweiſen; 
Das nicht ſchartig wird vom gewaltigſten Schlag, 
Und nicht roſtet, wie lang man's tragen mag. 


Das herrlichſte Schwert, es heißt das Recht, 

Das gottgebor'ne, das reine. 

Vor ihm muß ſich beugen der Fürſt und der un 
Der Brave, jo wie der Gemeine. 

Und wer ſich empört und trotzt auf die Macht, 

Den ſchlägt es zu Boden in all' ſeiner Pracht. 


Und wär's der König, und handelt' er ſchlecht, 
So beſchimpft' er die herrlichſten Ehren. 

Ja, ehrlos ſei, wer da weicht vom Recht; 
Laßt den heiligen Fahnen uns ſchwören. 


Auf der Feigheit Schild ſei das Wappen die Schand', 


Und das Schwert des Rechts zier' unſere Hand. 


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Wenn die Macht liegt mit der Macht im Streite 
Und hüben und drüben wirbt um's Recht, 
Wo erfahr' ich dann, auf welcher Seite 
Seine Liebe iſt? Ihr Götter, ſprecht! 
„Es richten des Rechtes ernſte Muſen 
Mit höchſter Hoheit in deinem Buſen.“ 
Wer aber wird denn, was in der Welt 
Geſchehn und beſtehn ſoll, richtend entſcheiden? 
Denn man kann nicht ewig beweiſen und ſchelten, 
Und Etwas muß am Ende gelten. 
Die Macht ſpricht Recht da für Einen von Beiden, 
Wie der eherne Würfel des Krieges fällt.“ 


— Inn 


„Das Recht iſt beſſer als die Macht., 
Verſtehſt du denn auch, was da ſagſt, 
Wenn du jo nutzlos klagſt und klagſt? 
Verliehn wird Recht auch von der Macht; 
Und wer's nicht ſelber ſich ſchaffen kann, 
Der zahlt für Hülfe dem ſtärkern Mann. 


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